Europarecht

Verjährung der Ansprüche des geschädigten Fahrzeugerwerbers im Zusammenhang mit dem sogenannten Dieselskandal: Verjährungshemmung bei Erhebung einer Musterfeststellungsklage; Berufung auf die Verjährungshemmung bei Rücknahme der Anmeldung zum Klageregister und Erhebung einer Individualklage

Aktenzeichen  VII ZR 303/20

Datum:
27.1.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2022:270122UVIIZR303.20.0
Normen:
§ 31 BGB
§ 199 Abs 1 Nr 2 BGB
§ 204 Abs 1 Nr 1a BGB
§ 242 BGB
§ 249 BGB
§§ 249ff BGB
§ 826 BGB
Art 3 Nr 10 EGV 715/2007
Art 5 Abs 2 EGV 715/2007
§ 6 EG-FGV
§ 27 EG-FGV
Spruchkörper:
7. Zivilsenat

Leitsatz

1. Die Hemmungswirkung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB tritt im Falle eines wirksam angemeldeten Anspruchs grundsätzlich bereits mit Erhebung der Musterfeststellungsklage und nicht erst mit wirksamer Anmeldung des Anspruchs zur Eintragung in deren Register ein, auch wenn die Anspruchsanmeldung selbst erst nach Ablauf der ursprünglichen Verjährungsfrist erfolgt (Anschluss an BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20, Rn. 21, WM 2021, 1665).
2. Dem Gläubiger ist es nicht nach § 242 BGB verwehrt, sich auf die Hemmung der Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB zu berufen, wenn er seine Anmeldung zum Klageregister im weiteren Verlauf des Musterfeststellungsverfahrens wieder zurücknimmt, um im Anschluss Individualklage zu erheben (Anschluss an BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20, Rn. 39, WM 2021, 1665).

Verfahrensgang

vorgehend OLG Stuttgart, 17. November 2020, Az: 10 U 86/20vorgehend LG Ellwangen, 11. Februar 2020, Az: 5 O 363/19

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 17. November 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand

1
Der Kläger nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch.
2
Der Kläger erwarb im Februar 2011 bei einer Kfz-Händlerin ein von der Beklagten hergestelltes Neufahrzeug VW Golf VI 2.0 TDI zu einem Preis von 22.607 €. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs EA 189 (EU 5) ausgestattet. In dem Motor war eine Steuergerätesoftware verbaut, durch welche auf dem Prüfstand beim Durchfahren des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) geringere Stickoxidwerte erzielt wurden als im realen Fahrbetrieb.
3
Der Kläger behauptet, er habe die hier streitgegenständlichen Ansprüche im Dezember 2018 zu dem zu der gegen die Beklagte gerichteten Musterfeststellungsklage (4 MK 1/18 OLG Braunschweig) geführten Klageregister angemeldet und die Anmeldung im September 2019 wieder zurückgenommen.
4
Mit seiner im Oktober 2019 eingereichten Klage hat der Kläger im Wesentlichen die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung nebst Zahlung von Delikts- und Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie den Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangt. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und unter anderem die Einrede der Verjährung erhoben.
5
Das Landgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Schlussanträge aus der Berufungsinstanz weiter.

Entscheidungsgründe

6
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
7
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – ausgeführt, einem Anspruch des Klägers auf Schadensersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung stehe die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen. Die von ihr erstinstanzlich erhobene Verjährungseinrede habe die Beklagte in der Berufungsinstanz nicht ausdrücklich wiederholen müssen. Die dreijährige Verjährungsfrist habe Ende 2015 zu laufen begonnen. Eine Hemmung der Verjährung vor Ablauf der Verjährungsfrist mit Schluss des Jahres 2018 sei nicht erfolgt. Die rechtzeitige Anmeldung zum Klageregister der Musterfeststellungsklage noch im Jahr 2018 habe der Kläger nicht bewiesen. Eine Anmeldung zum Klageregister erst nach Ablauf der Verjährungsfrist wirke nicht auf den Zeitpunkt der Erhebung der Musterfeststellungsklage zurück.
II.
8
Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht wegen Verjährung abgewiesen werden.
9
1. Im Ausgangspunkt rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass die Beklagte die von ihr erstinstanzlich erhobene Einrede der Verjährung in der Berufungsinstanz nicht wiederholen musste. Entgegen der Ansicht der Revision ist für die Annahme eines diesbezüglich unterlassenen Berufungsangriffs oder gar eines Verzichts der Beklagten auf diese Einrede im Streitfall kein Raum. Dem steht bereits die unangegriffene tatbestandliche Feststellung des Berufungsgerichts entgegen, die Beklagte habe zur Begründung ihrer Berufung auch die Verjährung eines etwa bestehenden Anspruchs vorgebracht. Davon abgesehen gelangt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Falle einer zulässigen Berufung grundsätzlich der gesamte aus den Akten ersichtliche Prozessstoff erster Instanz ohne Weiteres in die Berufungsinstanz. Im ersten Rechtszug nicht zurückgewiesenes Vorbringen muss deshalb in der zweiten Instanz grundsätzlich nicht erneut vorgebracht werden (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2021 – VI ZR 1206/20 Rn. 9, MDR 2021, 1213; Beschluss vom 19. Mai 2020 – VI ZR 171/19 Rn. 7, NJW-RR 2020, 1454; Beschluss vom 28. April 2020 – VI ZR 347/19 Rn. 8, NJW-RR 2020, 822; jeweils m.w.N.). Mit der zulässigen Berufung gelangt somit auch die erstinstanzlich erhobene Einrede der Verjährung ohne Wiederholung in der Berufungsbegründung in die Berufungsinstanz (vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 1988 – IX ZR 33/88, NJW 1990, 326, juris Rn. 10; Grüneberg/Ellenberger, BGB, 81. Aufl., § 214 Rn. 2; Staudinger/Peters/Jacoby, 2019, BGB, § 214 Rn. 11; Lakkis in jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 214 Rn. 9; BeckOK BGB/Henrich, Stand: 1. August 2021, § 214 Rn. 2; BeckOGK/Bach, BGB, Stand: 1. November 2021, § 214 Rn. 45; Schmidt-Räntsch in: Erman, BGB, 16. Aufl., § 214 Rn. 3).
10
2. Mit Erfolg wendet die Revision sich aber gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Verjährung der Klageforderung sei mit dem Schluss des Jahres 2018 – und daher vor der 2019 erfolgten Klageeinreichung – eingetreten. Auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen kann die Hemmung der Verjährung durch Anspruchsanmeldung zum Klageregister der gegen die Beklagten geführten Musterfeststellungsklage im Jahre 2018 nicht verneint werden. Es kann daher dahinstehen, ob die dreijährige Verjährungsfrist nach § 195 BGB – wovon das Berufungsgericht auf der Grundlage von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB ausgegangen ist – mit dem Schluss des Jahres 2015 zu laufen begonnen hat.
11
a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts tritt die Hemmungswirkung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB im Falle eines wirksam angemeldeten Anspruchs – wie der Bundesgerichtshof nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat – grundsätzlich bereits mit Erhebung der Musterfeststellungsklage und nicht erst mit wirksamer Anmeldung des Anspruchs zur Eintragung in deren Register ein, auch wenn die Anspruchsanmeldung selbst erst nach Ablauf der ursprünglichen Verjährungsfrist erfolgt (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20 Rn. 24 ff., WM 2021, 1665; Urteil vom 19. Oktober 2021 – VI ZR 189/20, juris Rn. 16).
12
3. Nach dem mangels abweichender Feststellungen des Berufungsgerichts für das Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Vortrag des Klägers wurde vor Ablauf des Jahres 2018 eine Musterfeststellungsklage (4 MK 1/18 OLG Braunschweig) gegen die Beklagte erhoben, hat der Kläger die streitgegenständlichen Ansprüche jedenfalls ab Beginn des Jahres 2019 wirksam zur Eintragung im entsprechenden Klageregister angemeldet (vgl. § 608 Abs. 1, 2 und 4 ZPO) und liegt den Ansprüchen derselbe Lebenssachverhalt zugrunde wie den Feststellungszielen der Musterfeststellungsklage. Unter diesen Voraussetzungen war die Erhebung der Musterfeststellungsklage gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB grundsätzlich geeignet, die Verjährung der klägerischen Ansprüche zu hemmen, und zwar auch dann, wenn – wie vom Berufungsgericht angenommen – eine Anmeldung zum Klageregister noch im Jahr 2018 nicht bewiesen ist, was für die revisionsrechtliche Prüfung daher dahinstehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20 Rn. 23, WM 2021, 1665). Der Kläger hat nach Rücknahme der Anmeldung zudem auf der Grundlage der von ihm zweitinstanzlich vorgelegten Urkunde innerhalb der Sechs-Monats-Frist des § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB die vorliegende Individualklage erhoben.
13
4. Dem Kläger ist es auch nicht nach § 242 BGB verwehrt, sich auf die Hemmung der Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB zu berufen.
14
a) Der Hemmungstatbestand des § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB findet grundsätzlich auch dann Anwendung, wenn der Gläubiger seine Anmeldung zum Klageregister im weiteren Verlauf des Musterfeststellungsverfahrens wieder zurücknimmt, um im Anschluss Individualklage zu erheben. Der Gesetzgeber hat den Hemmungstatbestand des § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB nicht davon abhängig gemacht, dass der Gläubiger dauerhaft zum Klageregister angemeldet bleibt. Er hat dem Gläubiger vielmehr bewusst die Möglichkeit der Abmeldung vom Klageregister bis zu dem in § 608 Abs. 3 ZPO geregelten Zeitpunkt und der anschließenden Geltendmachung der Ansprüche im Wege der Individualklage eingeräumt und für diesen Fall eine spezifische Regelung über eine nachlaufende Verjährungshemmung von sechsmonatiger Dauer getroffen (§ 204 Abs. 2 Satz 2 BGB). Damit ist dem Gläubiger ausdrücklich die Option eröffnet worden, seine Entscheidung, in welcher Weise Rechtsschutz gesucht wird, zu ändern und gleichwohl noch für einen gewissen (weiteren) Zeitraum von der durch die Erhebung der Musterfeststellungsklage und die Anmeldung zu deren Register bewirkten Verjährungshemmung zu profitieren (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20 Rn. 39, WM 2021, 1665). Nutzt der Gläubiger diese ihm vom Gesetz ausdrücklich eingeräumte Möglichkeit der Anmeldungsrücknahme, handelt es sich daher grundsätzlich um einen einfachen Rechtsgebrauch und nicht um einen Rechtsmissbrauch (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20 Rn. 39 ff., WM 2021, 1665; Urteil vom 19. Oktober 2021 – VI ZR 189/20, juris Rn. 16).
15
b) Die Umstände des Streitfalles geben keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Anders als in dem der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. Juli 2021 (VI ZR 1118/20) zugrundeliegenden Verfahren hat vorliegend das Berufungsgericht – aus seiner Sicht folgerichtig – keine Feststellungen zu einer etwa von vorneherein bestehenden Absicht des Klägers, die Anmeldung zum Klageregister wieder zurückzunehmen, um noch im Jahr 2019 Individualklage erheben zu können, getroffen. Hierauf kommt es aber ohnehin nicht an. Denn eine solche innere Willensbildung ohne jeden äußeren Niederschlag wäre jederzeit von dem Kläger selbst revidierbar gewesen und damit im Rahmen des § 242 BGB unbeachtlich (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20 Rn. 42, WM 2021, 1665).
16
c) Auch im maßgeblichen Verhältnis zur Beklagten ist das Verhalten des Klägers nicht als treuwidrig zu beurteilen, da weder in der Anmeldung der klägerischen Ansprüche zum Klageregister des ohnedies bereits eingeleiteten Musterfeststellungsverfahrens noch in der Rücknahme dieser Anmeldung eine eigenständige Belastung der Beklagten liegt. Vielmehr ist die Option zum Umschwenken auf den Weg der Individualklage dadurch, dass die Rücknahme der Anmeldung bis zum Ablauf des Tages des Beginns der mündlichen Verhandlung in erster Instanz zu erfolgen hat (§ 608 Abs. 3 ZPO) und die Verjährungshemmung sechs Monate nach der Rücknahme der Anmeldung endet (§ 204 Abs. 2 Satz 2 BGB), in zweifacher Hinsicht zeitlich limitiert. Missbräuchlichem Verhalten ist aufgrund dieser Regelungen hinreichend Einhalt geboten, ohne dass es hierzu eines Rückgriffs auf § 242 BGB bedarf (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – VI ZR 1118/20 Rn. 43, WM 2021, 1665; Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, 2019, § 204 Rn. 48h.1; Rüsing, NJW 2020, 2588 Rn. 30 ff.).
III.
17
Das angefochtene Urteil war daher nach § 562 ZPO aufzuheben und die Sache gemäß § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Pamp     
      
Kartzke     
      
Jurgeleit
      
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C. Fischer     
      


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