Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, Maßnahmen außerhalb des Fahreignungs-Bewertungssystems, wiederholte Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften, Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, Mitteilung der Polizei an die Fahrerlaubnisbehörde, Einholung einer Auskunft aus dem Fahreignungsregister

Aktenzeichen  11 CS 21.1504

Datum:
29.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26091
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2 Abs. 12
§ 4 Abs. 1 Satz 3
§ 30 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 6 Satz 1, Absatz 9 Satz 1 und 3
FeV § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 2, Abs. 6, Abs. 8,
§ 60 Abs. 2 Satz 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

W 6 S 21.531 2021-05-12 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Entziehung seiner Fahrerlaubnis (Klassen AM, A1 und A [jeweils mit den Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04], B und L).
Dem am … … 1992 geborenen Antragsteller wurde die Fahrerlaubnis am 8. März 2019 nach Vorlage eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens wieder erteilt. Vorangegangen waren eine Entziehung der Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 9. Februar 2015 wegen Nichtbeibringung eines Nachweises über die Teilnahme an einem Aufbauseminar als Fahranfänger auf Probe sowie nach der Neuerteilung am 5. August 2015 eine weitere Entziehung der Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 13. Februar 2017 wegen Erreichens von acht oder mehr Punkten im Fahreignungs-Bewertungssystem.
Aufgrund einer polizeilichen Mitteilung über die Beobachtung eines Zeugen, wonach der Antragsteller am 22. August 2020 mit seinem Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit eine Straße in der W… er Innenstadt befahren haben soll, holte das Landratsamt W… (im Folgenden: Landratsamt) am 8. Oktober 2020 eine Behördenauskunft aus dem Fahreignungsregister ein. Hierdurch erhielt das Landratsamt Kenntnis von einer rechtskräftig geahndeten, mit einem Punkt bewerteten Ordnungswidrigkeit des Antragstellers am 26. August 2019 (Benutzen eines elektronischen Geräts als Führer eines Kraftfahrzeugs in vorschriftswidriger Weise) und einer weiteren, ebenfalls rechtskräftig geahndeten und mit einem Punkt bewerteten Ordnungswidrigkeit am 12. September 2019 (Missachtung des Rotlichts).
Mit Schreiben vom 8. Oktober 2020 forderte das Landratsamt den Antragsteller zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 2 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) wegen wiederholter Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften auf. Es lägen Besonderheiten vor, die die Anordnung außerhalb des Punktesystems rechtfertigten. Bereits die erstmalige Entziehung der Fahrerlaubnis 2015 aufgrund der Nichtteilnahme an einem Aufbauseminar, das wegen mehrerer Verkehrsverstöße angeordnet worden sei, falle aus dem Rahmen. Nur ca. ein Jahr und sechs Monate nach der Neuerteilung habe dem Antragsteller die Fahrerlaubnis nach Durchlaufen des Punktesystems erneut entzogen werden müssen. Die erneuten Verstöße innerhalb eines halben Jahres nach der zweiten Wiedererteilung würden zeigen, dass die günstige Prognose des zuvor vorgelegten Gutachtens unzutreffend gewesen sei. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die neuen Verstöße nur einmalige, versehentliche Ausrutscher gewesen seien. Die Gutachtensanordnung sei auch verhältnismäßig. Die damit für den Antragsteller verbundenen finanziellen und zeitlichen Aufwendungen stünden in angemessenem Verhältnis zur abschließenden Klärung der Eignungsfrage.
Am 30. November 2020 erklärte sich der Antragsteller mit der Beibringung des Gutachtens einverstanden, legte dieses aber innerhalb der vom Landratsamt antragsgemäß bis 5. März 2021 verlängerten Frist nicht vor. Daraufhin entzog das Landratsamt dem Antragsteller mit Bescheid vom 30. März 2021 wegen Nichtbeibringung des Gutachtens die Fahrerlaubnis, verpflichtete ihn unter Androhung eines Zwangsgelds zur Abgabe des Führerscheins und ordnete die sofortige Vollziehbarkeit an.
Am 16. April 2021 gab der Antragsteller beim Landratsamt eine Versicherung an Eides statt ab, wonach er seinen Führerschein aufgrund eines Diebstahls am 8. April 2021 während eines Urlaubs in Spanien nicht abgeben könne.
Mit Schreiben vom 16. April 2021 ließ der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. März 2021 einlegen, über den die Widerspruchsbehörde, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden hat.
Den mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 19. April 2021 beim Verwaltungsgericht Würzburg eingereichten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins sowie auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Zwangsgeldandrohung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 12. Mai 2021 abgelehnt. Der Widerspruch und eine eventuell nachfolgende Klage würden voraussichtlich keinen Erfolg haben. Die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens sei rechtmäßig. Es lägen zwei bestandskräftig geahndete Ordnungswidrigkeiten und damit wiederholte Verstöße gegen Verkehrsvorschriften vor. Das Landratsamt habe in der Beibringungsanordnung zur Begründung seiner Ermessensausübung ausführlich dargelegt, weshalb ein besonderer Ausnahmefall vorliege, der die Überprüfung der Fahreignung außerhalb des Punktesystems begründe. Ein Hang des Antragstellers zur Missachtung verkehrsrechtlicher Vorschriften sei offenkundig. Die Einholung einer Auskunft aus dem Fahreignungsregister durch das Landratsamt sei nicht zu beanstanden. Beide Verstöße im Jahr 2019 habe der Antragsteller nur fünf bzw. sechs Monate nach der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis begangen. Die Annahme der Überwindung seiner alten Verhaltensweise bzw. Einstellungen im Gutachten vor dieser Wiedererteilung habe sich als unzutreffend erwiesen. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der von der Polizei mitgeteilte Vorfall vom 22. August 2020, den ein Zeuge beobachtet habe, der aber nicht nachprüfbar sei, in der Gutachtensanordnung erwähnt worden sei.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, mit der der Antragsteller nur noch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt, lässt der Antragsteller ausführen, die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens sei formell und materiell rechtswidrig. Es sei nicht erkennbar, aus welchem Grund der Sachverhalt vom 22. August 2020 in der Anordnung erwähnt worden sei. Dies habe erheblichen Einfluss auf das Gespräch im Rahmen des Gutachtens. Hinweise, die Intentionen bei einem Gutachtenersteller hervorriefen, hätten zu unterbleiben. Am Aufbauseminar, das vor der ersten Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet worden sei, habe der Antragsteller wegen fehlender finanzieller Mittel nicht teilnehmen können. Dies könne ihm nicht vorgeworfen werden. Es sei auch nicht richtig, dass er vor der zweiten Entziehung der Fahrerlaubnis das Punktesystem durchlaufen habe und dass Ordnungswidrigkeiten vorgelegen hätten, die acht Punkte rechtfertigen würden. Jedenfalls sei dies in der Akte, aus der sich lediglich ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot am 2. Februar 2015 sowie zwei Geschwindigkeitsüberschreitungen am 13. Mai 2016 und am 3. September 2016 ergäben, nicht dokumentiert. Dass der damalige Entziehungsbescheid vom 13. Februar 2017 fehlerhaft ergangen sei, werde nicht in Betracht gezogen. Nach den beiden Ordnungswidrigkeiten vom 26. August 2019 und vom 12. September 2019 habe der Antragsteller ein Jahr lang keine Verkehrsverstöße mehr begangen, obwohl er auch beruflich mehrere Tausend Kilometer im Jahr zurücklege. Die Anordnung vom 8. Oktober 2020 diene nicht der Prävention, sondern habe Sanktionscharakter wegen des behaupteten, aber nicht bewiesenen Vorfalls vom 22. August 2020. Ein Bußgeldbescheid sei insoweit nicht ergangen. Das Landratsamt hätte die polizeiliche Mitteilung, die der Regelung in der Anordnung über die Mitteilungen in Strafsachen widerspreche, nicht zum Anlass für die Einholung einer Auskunft aus dem Fahreignungsregister nehmen dürfen. Eine sehr unwahrscheinliche Behauptung einer Ordnungswidrigkeit dürfe nicht an die Fahrerlaubnisbehörde weitergegeben werden. Die Unterlagen müssten auch unverzüglich vernichtet werden, soweit die Informationen für die Beurteilung der Eignung oder Befähigung nicht erforderlich seien. Das Landratsamt habe sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Die beiden Ordnungswidrigkeiten würden nicht genügen, um einen Ausnahmefall zu rechtfertigen. Außerdem bestehe ein strukturelles Vollzugsdefizit, wenn man annehme, dass bereits zwei mit jeweils einem Punkt bewertete Ordnungswidrigkeiten für die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ausreichen würden. Da derartige Verstöße der Fahrerlaubnisbehörde nicht regelmäßig mitgeteilt würden, sei es möglich, dass bei vielen Fahrerlaubnisinhabern, die das Punktesystem ebenfalls durchlaufen hätten, nach zwei Eintragungen mit einem Punkt kein medizinisch-psychologisches Gutachten angeordnet werde. Es verstoße daher gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn hier nur aufgrund der polizeilichen Mitteilung gehandelt werde.
Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2021 (BGBl I S. 3108), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2021 (BGBl I S. 3091), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder wenn der Fahrerlaubnisinhaber erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen hat. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Zum Schutz vor Gefahren, die von Inhabern einer Fahrerlaubnis ausgehen, die wiederholt gegen die die Sicherheit des Straßenverkehrs betreffenden straßenverkehrsrechtlichen oder gefahrgutbeförderungsrechtlichen Vorschriften verstoßen, hat die zuständige Behörde stufenweise Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 4 StVG, § 40 FeV i.V.m. Anlage 13) zu ergreifen. Ergeben sich durch die Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit vier oder fünf Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis schriftlich zu ermahnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG), ergeben sich sechs oder sieben Punkte, ist er schriftlich zu verwarnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG), ergeben sich acht oder mehr Punkte, gilt er als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG).
Das Fahreignungs-Bewertungssystem ist allerdings nicht anzuwenden, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer die Fahreignung betreffender Maßnahmen nach den Vorschriften über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG oder einer auf Grund § 6 Abs. 1 Nr. 1 StVG erlassenen Rechtsverordnung ergibt (§ 4 Abs. 1 Satz 3 StVG). So kann unter anderem die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) zur Klärung von Eignungszweifeln außerhalb des Fahreignungs-Bewertungssystems angeordnet werden bei einem erheblichen Verstoß oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV). Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn sie ihn in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens darauf hingewiesen hat (§ 11 Abs. 8 FeV).
2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 2 FeV sind vorliegend erfüllt. Durch die jeweils mit einem Punkt bewerteten und mit rechtskräftigen Bußgeldbescheiden geahndeten Ordnungswidrigkeiten vom 26. August 2019 (Benutzen eines elektronischen Geräts als Führer eines Kraftfahrzeugs in vorschriftswidriger Weise) und vom 12. September 2019 (Missachtung des Rotlichts) hat der Antragsteller nach der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis wiederholt Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften begangen.
Allerdings kommt – wovon auch das Landratsamt und das Verwaltungsgericht ausgegangen sind – ein Vorgehen außerhalb des Fahreignungs-Bewertungssystems nur in besonders gelagerten Fällen in Betracht. Aus dem Punktsystem ergibt sich, dass der Gesetzgeber die weitere Straßenverkehrsteilnahme von Kraftfahrern mit einem nicht unerheblichen “Sündenregister” bis zum Erreichen der in § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG vorgesehenen Stufen bewusst in Kauf genommen hat. Hiervon darf die Fahrerlaubnisbehörde deshalb nur abweichen, wenn die Verkehrssicherheit und damit die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer dies gebieten. Die Gutachtensanordnung wegen eines einmaligen erheblichen oder wegen wiederholter nichterheblicher Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften setzt daher voraus, dass die Fahrerlaubnisbehörde in ihrer Ermessensbetätigung über eine schematische Bezugnahme auf die Verkehrsverstöße hinaus zum Ausdruck bringt, dass und weshalb sich aus dem Verhalten des Fahrerlaubnisinhabers Eignungsmängel oder -bedenken in charakterlicher Hinsicht ableiten lassen. Sie muss dabei im Einzelnen unter Auswertung aller konkreten Umstände näher begründen, warum sie aus besonderen Gründen im Einzelfall, der sich erheblich vom Normalfall sonstiger Verkehrsteilnehmer mit einem vergleichbaren Punktestand abheben muss, aufgrund einer Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers oder wegen der Art, der Häufigkeit oder des konkreten Hergangs der Verkehrsverstöße Eignungsbedenken hegt, die sofortige weitergehende Aufklärungsmaßnahmen etwa durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung gebieten. Andererseits sind die Anforderungen an die Umstände, die ausnahmsweise ein Abrücken vom Punktsystem ermöglichen, nicht zu überspannen, da die von der Fahrerlaubnisbehörde ergriffene Maßnahme der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Aufklärung der Eignungszweifel in ihrer Eingriffsintensität deutlich hinter der unmittelbaren Entziehung der Fahrerlaubnis zurückbleibt. Wann ein Ausnahmefall gegeben ist, der ein solches Vorgehen rechtfertigt, lässt sich nicht verallgemeinernd und fallübergreifend beantworten, sondern bedarf einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls (BayVGH, B.v. 7.8.2014 – 11 CS 14.352 – NJW 2014, 3802 Rn. 26 ff.; vgl. auch Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Auflage 2021, § 4 StVG Rn. 33 ff. und § 11 FeV Rn. 34 ff.). Dass von der Ermächtigungsgrundlage des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 2 FeV nur zurückhaltend Gebrauch gemacht wird, dürfte weniger auf ein strukturelles Vollzugsdefizit, sondern auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift zurückzuführen sein.
Gemessen daran ist die Anordnung des Landratsamts vom 8. Oktober 2020 zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht zu beanstanden. Das Landratsamt hat erkannt, dass es sich bei der Beibringungsanordnung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 2 FeV um eine Ermessensentscheidung und um eine Ausnahme handelt, und ausführlich dargelegt, aus welchen Gründen es hier ein Vorgehen außerhalb des Fahreignungs-Bewertungssystems zur Klärung der charakterlichen Fahreignung des Antragstellers für geboten erachtet. Dass es dabei beide vorangegangenen Entziehungen der Fahrerlaubnis anführt, begegnet keinen Bedenken, da insoweit die zehnjährige Tilgungsfrist des Fahreignungsregisters (§ 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Buchst. b i.V.m. § 28 Abs. 3 Nr. 6 Buchst. a StVG) noch nicht abgelaufen ist. Im Unterschied dazu dürften einige der Eintragungen, die der auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens von acht oder mehr Punkten mit Bescheid vom 13. Februar 2017 zugrunde lagen, wegen der kürzeren Tilgungsfrist von zwei Jahren und sechs Monaten gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG bereits getilgt und gelöscht sein, weshalb die Einzelheiten anhand der Akten insoweit auch nicht mehr nachvollzogen werden können. Dies ist aber auch nicht erforderlich, da der ergangene Bescheid bestandskräftig und dessen Eintragung bis zum Ablauf der zehnjährigen Tilgungsfrist und der daran anknüpfenden Löschung nach Maßgabe von § 29 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 7 StVG noch verwertbar ist. Gleiches gilt für die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtteilnahme an einem Aufbauseminar mit Bescheid vom 9. Februar 2015, unabhängig davon, aus welchen Gründen der Antragsteller an dem Aufbauseminar nicht teilgenommen hat.
Dass das Landratsamt aufgrund einer Gesamtbetrachtung der fahrerlaubnisrechtlichen Vorgeschichte des Antragstellers und der beiden erneuten Ordnungswidrigkeiten vom 26. August 2019 und vom 12. September 2019 nur wenige Monate nach der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis Anlass für die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 Alt. 2 FeV gesehen hat, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Es mag zwar sein, dass sich ein Vorgehen außerhalb des Fahreignungs-Bewertungssystems hier an der Untergrenze des rechtlich Zulässigen bewegt. Allerdings ist das Gefahrenpotential des Benutzens eines elektronischen Geräts als Führer eines Kraftfahrzeugs in vorschriftswidriger Weise und einer Missachtung des Rotlichts nicht zu unterschätzen. Insgesamt deuten Art und zeitliche Abfolge der erneuten Verstöße des Antragstellers auf charakterliche Eignungsmängel hin, die eine (nochmalige) Abklärung durch medizinisch-psychologische Untersuchung vor einem zweiten Durchlauf des Punktesystems rechtfertigen. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht daraus, dass nach diesen Verstößen (noch) keine weiteren rechtskräftig geahndeten Zuwiderhandlungen des Antragstellers bekannt geworden sind.
Der Antragsteller kann auch nicht mit Erfolg geltend machen, dass die Polizei das Landratsamt nicht über den Vorfall am 22. August 2020 hätte unterrichten dürfen. Maßgeblich hierfür ist nicht die Anordnung über die Mitteilungen in Strafsachen (MiStra), die als Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und der Landesjustizverwaltungen die Mitteilung personenbezogener Daten in Strafsachen durch Gerichte und Staatsanwaltschaften an andere öffentliche Stellen nach §§ 12 ff. des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG) regelt, sondern § 2 Abs. 12 Satz 1 StVG. Danach hat die Polizei Informationen über Tatsachen, die auf nicht nur vorübergehende Mängel hinsichtlich der Eignung oder auf Mängel hinsichtlich der Befähigung einer Person zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen lassen, den Fahrerlaubnisbehörden zu übermitteln, soweit dies für die Überprüfung der Eignung oder Befähigung aus der Sicht der übermittelnden Stelle erforderlich ist. Hierzu gehört ohne Zweifel die Beobachtung eines Zeugen zum Fahrverhalten des Antragstellers in der W* …er Innenstadt am 22. August 2020, auch wenn die Polizeistreife dieses nicht selbst wahrgenommen hat. Letzteres geht aus deren Mitteilung vom 26. August 2020 deutlich hervor und ist damit auch für den Gutachter, dem die Unterlagen zur Erstellung des Gutachtens übermittelt werden (§ 11 Abs. 6 Satz 4 FeV), erkennbar. Daher ist die Erwähnung und die inhaltliche Wiedergabe der Mitteilung in der Aufforderung vom 8. Oktober 2020 zur Beibringung des Gutachtens nicht zu beanstanden. Die mitgeteilten Informationen sind für die Beurteilung der Eignung oder Befähigung nicht bedeutungslos und mussten deshalb nicht gemäß § 2 Abs. 12 Satz 2 StVG vernichtet werden.
Unbegründet ist schließlich auch der Einwand des Antragstellers, das Landratsamt hätte die polizeiliche Mitteilung nicht zum Anlass für die Einholung einer Auskunft aus dem Fahreignungsregister nehmen dürfen. Die Eintragungen im Fahreignungsregister dürfen an die Stellen, die für Verwaltungsmaßnahmen auf Grund des Straßenverkehrsgesetzes oder der auf ihm beruhenden Rechtsvorschriften zuständig sind, übermittelt werden, soweit dies für die Erfüllung der diesen Stellen obliegenden Aufgaben zu den in § 28 Abs. 2 StVG genannten Zwecken, also auch für die Beurteilung der Eignung und der Befähigung von Personen zum Führen von Kraftfahrzeugen (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 StVG), jeweils erforderlich ist (§ 30 Abs. 1 Nr. 3 StVG, § 60 Abs. 2 Satz 1 FeV). Übermittlungen von Daten aus dem Fahreignungsregister sind nur auf Ersuchen zulässig, es sei denn, auf Grund besonderer Rechtsvorschrift wird bestimmt, dass die Registerbehörde bestimmte Daten von Amts wegen zu übermitteln hat (§ 30 Abs. 9 Satz 1 StVG). Zur Prüfung der Frage, ob nach der polizeilichen Mitteilung fahrerlaubnisrechtliche Maßnahmen gegen den Antragsteller erforderlich sind, durfte das Landratsamt daher eine Auskunft aus dem Fahreignungsregister anfordern und die übermittelten Daten als hierfür verantwortliche Stelle (§ 30 Abs. 9 Satz 3 StVG) zu dem Zweck verarbeiten, zu dessen Erfüllung sie ihm übermittelt worden sind (§ 30 Abs. 6 Satz 1 StVG).
3. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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