Familienrecht

(Sozialgerichtliches Verfahren – Nichtzulassungsbeschwerde – Verfahrensfehler – Gehörsverletzung – erneute Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG)

Aktenzeichen  B 5 R 62/21 B

Datum:
21.10.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2021:211021BB5R6221B0
Normen:
§ 62 SGG
§ 153 Abs 4 S 1 SGG
§ 153 Abs 4 S 2 SGG
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG
§ 160a Abs 2 S 3 SGG
§ 160a Abs 5 SGG
§ 202 S 1 SGG
§ 547 Nr 1 ZPO
Art 101 Abs 1 S 2 GG
Art 103 Abs 1 GG
Spruchkörper:
5. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Düsseldorf, 10. Mai 2019, Az: S 44 R 842/17, Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 24. Februar 2021, Az: L 14 R 540/19, Beschluss

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1
I. Die 1959 geborene Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Von 2005 bis 2015 war sie für verschiedene Arbeitgeber als Haushälterin tätig. Ihren Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6.1.2017 und Widerspruchsbescheid vom 21.4.2017 ab. Das SG hat nach Einholung von Arbeitgeberauskünften und eines medizinischen Gutachtens mit Urteil vom 10.5.2019 die Klage abgewiesen. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 24.2.2021 hat das LSG nach Einholung weiterer Auskünfte von den früheren Arbeitgebern und einer berufskundlichen Stellungnahme die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
2
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt.
3
II. Die Beschwerde der Klägerin ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 160a Abs 5 SGG).
4
Die Klägerin hat den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) formgerecht bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Der Verfahrensmangel in Form einer Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG liegt auch vor.
5
Das LSG kann gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG), das bei der Wahl des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (vgl BSG Beschlüsse vom 25.5.2011 – B 12 KR 81/10 B – juris RdNr 8, vom 29.8.2006 – B 13 R 37/06 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 5 und vom 17.9.1997 – 6 RKa 97/96 – SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN). Das LSG hat zwar die Beteiligten mit Schreiben vom 20.8.2019 ordnungsgemäß zum beabsichtigten Vorgehen im vereinfachten Beschlussverfahren angehört. Gleichwohl hat es die Berufung mit dem Beschluss vom 24.2.2021 verfahrensfehlerhaft zurückgewiesen, weil es einer erneuten Anhörung bedurft hätte, die aber unterblieben ist.
6
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl nur BSG Beschlüsse vom 30.10.2019 – B 14 AS 330/18 B – juris RdNr 2; vom 20.10.2010 – B 13 R 63/10 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13 sowie vom 17.9.1997 – 6 RKa 97/96 – SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 20, 20a mwN) und das LSG gleichwohl daran festhalten möchte, die Berufung im Beschlusswege zurückzuweisen. Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG) ist § 153 Abs 4 Satz 2 SGG zugunsten der Beteiligten verfassungskonform weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten adäquat kompensieren soll (BSG Beschluss vom 30.10.2019 – B 14 AS 330/18 B – juris RdNr 2). Eine erneute Anhörung ist daher schon dann notwendig, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substantiiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, oder wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind (BSG Beschlüsse vom 10.10.2017 – B 12 KR 37/17 B – juris RdNr 9; vom 12.12.2011 – B 7 AL 29/11 BH – juris RdNr 7; vom 25.5.2011 – B 12 KR 81/10 B – juris RdNr 8 und vom 20.11.2003 – B 13 RJ 38/03 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 1 RdNr 6 f; Bienert, NZS 2012, 885, 890; Keller, aaO, § 153 RdNr 20a). In diesen Fällen muss das LSG den Beteiligten vor der Beschlussfassung erneut Gelegenheit zur Stellungnahme geben und sie darauf hinweisen, dass es an dem Verfahren nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG festhält. Hieran fehlt es.
7
Die Klägerin hat auf die Anhörungsmitteilung vom 20.8.2019 mit der Anregung reagiert, ausführliche Auskünfte der früheren Arbeitgeber einzuholen. Dieser Anregung ist das LSG gefolgt und hat detaillierte Fragebogen verschickt. Nach Vorlage der Auskünfte hat das LSG im März 2020 zwar angefragt, ob die Berufung zurückgenommen werde und mitgeteilt, dass weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt seien. Zu einer Entscheidung durch Beschluss hat der Senat indes nicht mehr angehört. Erwähnung hat ein solches Vorgehen auch nicht im Schreiben vom 10.6.2020 gefunden, mit dem auf die Rücknahmefiktion des § 156 Abs 2 SGG hingewiesen worden ist. Nachdem in der Folgezeit auf Betreiben der Klägerin eine berufskundliche Stellungnahme der Beklagten vorgelegt worden ist, hat das LSG zwar durch die Frage an den Bevollmächtigten, ob das Verfahren erledigt werden könne, erneut zu erkennen gegeben, dass es an seiner Rechtsauffassung festhalte. Nicht erkennbar ist für die Klägerin nach diesem Verfahrensgang jedoch gewesen, dass der Senat weiterhin beabsichtigte, durch Beschluss zu entscheiden.
8
Die Bitte der Klägerin um eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im Schriftsatz vom 8.12.2020 hat eine erneute Anhörung nicht entbehrlich gemacht. Nicht zuletzt die mit dieser Bitte verbundene Anregung, die Revision zuzulassen, verdeutlicht, dass die Klägerin nicht von einem weiteren Vorgehen im vereinfachten Verfahren ausgegangen ist. Zwar hatte das LSG mitgeteilt, dass es das Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme als eindeutig negativ für die Klägerin ansehe. In einer solchen Situation kann ausnahmsweise eine erneute Anhörung entbehrlich sein, wenn die Beteiligten weiterhin damit rechnen mussten, dass nach § 153 Abs 4 SGG entschieden werde (vgl BSG Beschluss vom 10.8.2005 – B 9a V 21/05 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 2 RdNr 6). Dies war hier jedoch nicht der Fall. Die Klägerin konnte vielmehr angesichts der Gesamtumstände, insbesondere des Zeitablaufs in Verbindung mit dem nicht unerheblichen Umfang der Ermittlungen und der zahlreichen Schreiben des Senats ohne einen Bezug auf § 153 Abs 4 SGG, damit rechnen, dass der Weg des vereinfachten Verfahrens nicht mehr beschritten würde.
9
Der Anhörungsmangel ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO), bei dem das Beruhen der Entscheidung auf dem Verfahrensfehler vermutet wird. Der in einer unterbliebenen Anhörung liegende Verfahrensfehler führt nicht nur zu einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG), sondern auch zu einer unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (nur mit Berufsrichtern) und damit zu einer Verletzung des Rechts der Klägerin auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG; vgl BSG Beschluss vom 27.1.2021 – B 14 AS 346/19 B – juris RdNr 6 mwN).
10
Da die Sache schon allein aus diesem Grund zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 160a Abs 5 SGG), kann dahinstehen, ob eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache anzunehmen ist (vgl BSG Beschluss vom 17.6.2020 – B 5 R 1/20 B – juris RdNr 8).
11
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.


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