Aktenzeichen 5 K 1130/17
Leitsatz
Tenor
1. Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 22.05.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2017 wird dahingehend abgeändert, dass die Einkommensteuer 2015 auf 1.353 € herabgesetzt wird.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Klage ist begründet.
1. Die Inanspruchnahme der steuerlichen Förderung führt dazu, dass die späteren Rentenleistungen aus dem Altersvorsorgevertrag gem. § 22 Nr. 5 EStG in voller Höhe – also nicht nur mit dem Ertragsanteil – zu versteuern sind (Wacker in Schmidt, EStG, 37. Aufl., § 79 Rn. 1). Eine Steuerbefreiung ist gesetzlich nicht vorgesehen;
2. Die Kapitalabfindung ist als Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten gemäß § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 EStG ermäßigt zu besteuern.
a) § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG ist grundsätzlich auf alle Einkunftsarten anwendbar, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind und im Einzelfall keine Gründe für eine einschränkende Auslegung gegeben sind. Weder dem Wortlaut noch der Systematik noch dem Zweck der Norm lässt sich eine Beschränkung ihres Anwendungsbereichs auf bestimmte Einkunftsarten entnehmen (BFH-Urteile vom 25.02.2014 X R 10/12, BFHE 245, 1, BStBl II 2014, 668; und vom 23.10.2013 X R 3/12, BFHE 243, 287, BStBl II 2014, 58).
Die Kapitalabfindung stellt eine „Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten“ dar. Als „Vergütung“ in diesem Sinne kommen alle Vorteile von wirtschaftlichem Wert in Betracht, die der Steuerpflichtige im Rahmen der jeweiligen Einkunftsart erzielt. Die „Tätigkeit“ besteht bei Alterseinkünften in der früheren Leistung von Beiträgen (BFH-Urteil vom 23.10.2013 X R 3/12, BFHE 243, 287, BStBl II 2014, 58). Die Voraussetzung der Mehrjährigkeit (vgl. die Legaldefinition in § 34 Abs. 2 Nr. 4 Halbsatz 2 EStG) ist ebenfalls erfüllt, da die früheren Beitragszahlungen des Klägers sich über mindestens zwei Veranlagungszeiträume erstreckten und einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten umfassten.
b) Die Einkünfte sind auch außerordentlich.
aa) Dieses Erfordernis wird sowohl vom Wortlaut des § 34 Abs. 1 EStG als auch von dem des Einleitungssatzes des § 34 Abs. 2 EStG vorausgesetzt. Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten sind nur dann außerordentlich, wenn die Zusammenballung der Einkünfte nicht dem vertragsgemäßen oder typischen Ablauf der jeweiligen Einkünfteerzielung entspricht (BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 23/15, BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347). Bei der nicht vertragsgemäßen oder atypischen Kapitalabfindung handelt es sich nach dieser Entscheidung des Bundesfinanzhofs um zwei verschiedene Tatbestände, die dieser unabhängig voneinander geprüft hat. Es liegen also bereits dann außerordentliche Einkünfte vor, wenn eine der beiden Alternativen erfüllt ist.
bb) Vorliegend war die Geltendmachung der Kapitalabfindung nicht vertragsgemäß, weil sie in dem im Jahr 2003 abgeschlossenen Vertrag keine Rechtsgrundlage gehabt hat. Die dem Senat vorliegenden Vertragsbedingungen sind insoweit eindeutig und entsprechen der Rechtslage des Jahres 2003, nach der eine Kapitalabfindung zuwendungsschädlich gewesen wäre. Hierüber sind sich auch die Beteiligten einig.
Die von der Bank 1 mit Schreiben vom 03.03.2015 angebotene Kapitalabfindung hat zwar bürgerlich-rechtlich zu einer Vertragsänderung geführt. Für die steuerliche Beurteilung, wie sie auch vom Bundesfinanzhof vorgenommen worden ist (BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 23/15, BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347), ändert sich dadurch aber nichts, weil die nachträglich vereinbarte Kapitalabfindung nicht dem ursprünglichen Riestervertrag entspricht.
Bereits aus diesem Grund liegt eine nicht vertragsgemäße Durchführung vor, so dass die Einkünfte als außerordentlich anzusehen sind.
cc) Die Kapitalabfindung stellt vorliegend auch einen atypischen Ablauf in Bezug auf die Einkünfteerzielung dar.
Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs sind für den Bereich der Basisversorgung ausschließlich Rentenzahlungen typisch. Vor diesem Hintergrund hat der BFH die von einzelnen Versorgungswerken vorgesehene Möglichkeit, Beiträge, die vor 2005 geleistet worden sind, durch eine einmalige Kapitalzahlung abzufinden, als „eng begrenzte und auslaufende Ausnahmeregelung“ angesehen (BFH-Urteil vom 23.10.2013 X R 3/12, BFHE 243, 287, BStBl II 2014, 58). Auch in der Literatur wird die Ablösung wiederkehrender Bezüge durch eine Kapitalabfindung grundsätzlich als atypisch angesehen (Gänger in Bordewin/Brandt, EStG § 34 Rn. 36; Horn in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 34 EStG, Rn. 67).
Für Riester-Renten wäre eine Kapitalabfindung bis zur Änderung des § 93 Abs. 3 EStG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a des Gesetzes über die Zertifizierung von Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen (Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz – AltZertG) mit Wirkung zum 01.01.2005 zulagenschädlich gewesen. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des vorliegenden Riestervertrags war eine solche Abfindungsmöglichkeit auch für Kleinbetragsrenten untypisch. Allein der Umstand, dass Versicherer im Hinblick auf die später geschaffene Möglichkeit einer zulagenunschädlichen Kapitalabfindung versucht haben dürften, die Versicherten in möglichst großer Zahl zur Annahme dieser Abfindung zu bewegen, macht einen solchen Ablauf keineswegs typisch. Die Abfindung stand nicht im Belieben der Versicherer, sondern hat in jedem Einzelfall einen Entschluss des Versicherten zur Annahme dieser Abfindung vorausgesetzt. Dieses dem im bis zum 31.12.2004 geltenden Recht verankerten Leitbild einer lebenslangen Ergänzung zur Basisversorgung widersprechende Verhalten ist nicht typisch.
Die Kapitalabfindung war daher weder vertraglich vereinbart noch typisch.
dd) Die Änderung des § 22 Nr. 1 Satz 13 EStG ab dem 01.01.2018 betrifft neuere Fälle, in denen sich die Versicherer die Kapitalabfindung für Kleinbetragsrenten vorbehalten haben (BT-Drucksache 18/11286). Dies bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass Fälle vor dem 01.01.2018, in denen keine Abfindung vorgesehen war, nach der bisherigen Rechtslage von der Vergünstigung des § 34 EStG ausgeschlossen gewesen wären. Die Rechtsänderung betrifft Vertragsabschlüsse aus den Jahren 2005 – 2017, in denen die Möglichkeit zur Kapitalabfindung von vornherein vertraglich vereinbart worden ist; selbst wenn man sie auf Fälle ohne eine solche Vereinbarung aus dem Zeitraum bis zum 31.12.2004 ausdehnen wollte, wäre sie insoweit rein deklaratorisch.
Die Einkünfte aus der Riesterversicherung sind daher begünstigt gem. § 34 Abs. 1 EStG zu besteuern.
3. Daraus ergibt sich folgende Berechnung der Einkommensteuer 2015:
Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 22.05.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.08.2017 war daher dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer 2015 auf 1.353 € herabgesetzt wird.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
III.
Die Revision war zuzulassen. Die Revision ist gem. § 115 Abs. 2 FGO nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1) oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert (Nr. 2). Betrifft eine als klärungsbedürftig aufgeworfene Rechtsfrage ausgelaufenes oder auslaufendes Recht, hier die Tarifbegünstigung für Kapitalabfindungen gem. § 93 Abs. 3 EStG, die seit dem 01.01.2018 in § 22 Abs. 1 Nr. 5 Satz 13 EStG gesetzlich geregelt ist, muss erkennbar sein, dass die Rechtsfrage sich noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft weiterhin stellen könnte, wie dies bei Fragen aus fortgeltendem Recht regelmäßig der Fall ist (BFH-Beschluss vom 11.05.2017 VI B 105/16, BFH/NV 2017, 1172). Im vorliegenden Fall ist die Revision im Hinblick auf die große Zahl Betroffener und die beim Bundesfinanzhof anhängigen Revisionsverfahren X R 39/17 und X R 7/18 zuzulassen, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherzustellen.