Arbeitsrecht

Kampfrisiko – Streikfolge – Kampfmaßnahme – arbeitskampfbedingte Personalentscheidung – unbezahlte Arbeitspause – Gewerkschaftsmitglied

Aktenzeichen  1 Sa 127/20

Datum:
14.12.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Thüringer Landesarbeitsgericht 1. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:LAGTH:2021:1214.1SA127.20.00
Normen:
Art 9 Abs 3 GG
§ 106 GewO
Spruchkörper:
undefined

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Nordhausen, 9. Oktober 2019, 2 Ca 644/18, Urteil

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen vom 09.10.2019 -2 Ca 644/18 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Vergütungsansprüche der Klägerin für Mai und Juni 2018.
Die Klägerin ist bei der Beklagten als Physiotherapeutin beschäftigt, zuletzt mit einem monatlichen Bruttoentgelt von 2.100,00 €. Die Beklagte betreibt eine Rehabilitationsklinik mit Spezialisierung in den Bereichen der Psychosomatik und Orthopädie.
Seit 2017 wird bei der Beklagten ein Arbeitskampf geführt. Auch in 2018 fanden im Zeitraum März bis Juni 2018 mehrere Kurz- und Wellenstreiks statt. An diesen Streiks beteiligte sich jeweils eine unterschiedliche Anzahl von Mitarbeitern aus unterschiedlichen Abteilungen. Die einzelnen Streiktage und den jeweiligen Teilnehmerkreis listet die Beklagte auf den Seiten 3 bis 7 ihres erstinstanzlichen Schriftsatzes vom 20.11.2018 auf (Bl. 33 ff. d. A.). Im Zusammenhang mit dem andauernden Arbeitskampf erwirkte die Beklagte vor dem Thüringer Landesarbeitsgericht gegen die streikführende Gewerkschaft eine einstweilige Verfügung, wonach bis 20.04.2018 Ankündigungsfristen und Mindestnotbesetzungen vorgeschrieben waren. Wegen der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll vom 05.04.2018 in Sachen 1 SaGa 1/18 verwiesen (Bl. 148 d. A.). Nach den unbestritten gebliebenen Angaben der Klägerin wurden diese Vorgaben auch über April 2018 hinaus von der Beklagten eingehalten.
Mit Schreiben vom 07.05.2018 (Bl. 8 d. A.) ordnete die Beklagte der Klägerin gegenüber ab dem 08.05.2018 „eine jederzeit widerrufliche unbezahlte Arbeitspause an“. Vier weitere Mitarbeiter erhielten Schreiben gleichen Inhalts. Mit Schreiben vom 08.05.2018 bot die Klägerin erfolglos ihre Arbeitsleistung an. Die Beklagte zahlte für den Zeitraum ab 08.05.2018 keine Arbeitsvergütung mehr. Mit gewerkschaftlichem Schreiben vom 01.06.2018 machte die Klägerin ausstehenden Lohn für Mai 2018 geltend.
Mit ihrer am 26. Juli 2018 beim Arbeitsgericht Nordhausen (2 Ca 644/18) eingegangenen Klage hat die Klägerin Zahlung der Gehälter für die Monate Mai und Juni 2018 in rechnerisch unbestrittener Höhe von 1.321,88 € brutto (Mai) sowie 1.615,60 € brutto (Juni) begehrt. Wegen der Berechnung wird auf den erstinstanzlichen Schriftsatz der Klägerin vom 25.02.2019 (Bl. 53/54 d. A.) verwiesen.
Die Klägerin hat ihren Anspruch auf § 615 Satz 1 BGB gestützt. Die Beklagte habe sich in Annahmeverzug gefunden. Die Anordnung einer unbezahlten Arbeitspause sei rechtswidrig. Die Maßnahme sei nichts anderes als eine Aussperrung, die sich ausschließlich gegen fünf Mitarbeiter der Physiotherapie gewandt habe. Alle fünf betroffenen Physiotherapeuten seien – insoweit unbestritten – Gewerkschaftsmitglieder. Eine Arbeitskampfmaßnahme, die sich ausschließlich gegen Gewerkschaftsmitglieder richte, sei rechtswidrig.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie für den Monat Mai 2018 1.321,88 € brutto zuzüglich 13,00 € netto vermögenswirksame Leistungen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 09.06.2018 zu zahlen;
2. die Beklagte zu verurteilen, an sie für den Monat Juni 2018 1.615,60 € brutto zuzüglich 13,00 € netto vermögenswirksame Leistungen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.07.2018 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat erstinstanzlich behauptet, sie sei wegen der Streiktaktik der Gewerkschaft gezwungen gewesen, ihre Kapazitäten anzupassen und weniger Patienten aufzunehmen. Seit Mai 2018 seien bestimmte Patientengruppen überhaupt nicht mehr aufgenommen, bestimmte Leistungen nicht mehr angeboten und dadurch die Belegung reduziert worden. Ausschließlich wegen dieser arbeitskampfbedingten Überkapazitäten und nicht etwa wegen der Gewerkschaftszugehörigkeit habe sich die Beklagte dazu entschlossen, fünf Mitarbeiter in eine unbezahlte Arbeitspause zu schicken, um Streikschäden zu minimieren.
Die Beklagte habe sich zu Recht der unbezahlten Arbeitspause als Arbeitskampfabwehrmittel bedient, um den streikbedingten Störungen zu begegnen. Nur so sei angesichts der Streiktaktik der Gewerkschaft die Herstellung der Waffengleichheit unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Klinikbetriebs möglich gewesen. Der Grundsatz der freien Kampfmittelwahl erlaube auch die Bildung neuer Arbeitskampfformen.
Mit Urteil vom 7. November 2019 (Az. 2 Ca 644/28, Bl. 79 ff. d. A.) hat das Arbeitsgericht Nordhausen der Klage vollumfänglich stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die unbezahlte Arbeitspause als Arbeitskampfabwehrmittel gerechtfertigt gewesen sei. Zu den angeblichen Überkapazitäten, die infolge der Streiktaktik der Gewerkschaft eingetreten seien, habe die Beklagte keine näheren Angaben gemacht. Auch die Frage, warum gerade und nur gegenüber den fünf gewerkschaftlich organisierten Physiotherapeuten unter Einschluss der Klägerin eine unbezahlte Arbeitspause angeordnet wurde, sei nicht beantwortet worden. Den Verdacht, dass sich die Maßnahme zielgerichtet gegen Gewerkschaftsmitglieder richtete, habe die Beklagte daher nicht ausräumen können.
Gegen das ihr am 16.03.2020 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen hat die Beklagte mit beim Landesarbeitsgericht am 15.04.2020 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und nach Fristverlängerung bis zum 15.06.2020 mit am 15.06.2020 eingegangenem Schriftsatz begründet.
Mit ihrer Berufung wiederholt die Beklagte ihre erstinstanzlich vorgebrachten Argumente und führt zudem an, das Erstgericht habe sich nicht ausreichend mit den Besonderheiten des Klinikbetriebs auseinandergesetzt. Wegen dieser Besonderheiten seien die herkömmlichen Arbeitskampfmittel nicht ausreichend gewesen, um die Waffengleichheit wiederherzustellen. Eine suspendierende Stilllegung – beschränkt auf Dauer und Umfang des jeweiligen Streiks – sei aufgrund der wiederholten Kurzstreiks und der längerfristigen Aufnahme von Patienten sowie der Notwendigkeit einer lückenlosen Betreuung nicht ausreichend gewesen. Die erfolgten Anpassungen der Klinikkapazität und die sich daraus ergebende Reduzierung des Personaleinsatzes seien letztlich fortwirkende Streikschäden gewesen. Zudem habe die Beklagte keineswegs gezielt Gewerkschaftsmitglieder ausgesucht. Anknüpfungspunkt für die Maßnahme seien allein die streikbedingten Überkapazitäten gewesen. Auf die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf den Umfang der Überkapazitäten hätte das Arbeitsgericht Nordhausen nach § 139 Abs. 2 ZPO konkret hinweisen müssen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen vom 07.11.2018 (Az.: 2 Ca 644/18) abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Sie stellt in Abrede, dass es streikbedingt zu Überkapazitäten in der Klinik gekommen sei. Da die Beklagte mit dem Urteil des LAG Thüringen vom 05.04.2018 (Az. 1 SaGa 1/18, Bl. 148 ff. d. A.) eine Mindestnotbesetzung auch während der Streiks erreicht hatte, sei eine Reduzierung der Leistungen und der aufgenommenen Patienten nicht notwendig gewesen. Abgesehen davon hätten Behandlungen, die während der Streiks nicht hätten erledigt werden können, ohne medizinische Nachteile für die Patienten im Anschluss an die Streiktage nachgeholt werden können. Mit ihrer Rüge einer Verletzung der Hinweispflicht durch das Erstgericht könne die Beklagte bereits deshalb nicht gehört werden, da die Beklagte ihre Behauptungen zum Umfang der Überkapazitäten in der Berufungsbegründung hätte konkretisieren können.
Gezielt seien von der Beklagten Gewerkschaftsmitglieder ausgesucht worden. Wäre der Vortrag der Beklagten zur streikbedingt eingeschränkten Leistungserbringung zutreffend, hätten entsprechend der gerichtlich angeordneten Mindestnotbesetzung nicht nur die fünf Physiotherapeuten, sondern auch Arbeitnehmer aus anderen Bereichen in eine unbezahlte Arbeitspause geschickt werden müssen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 14.12.2021 (Bl. 159 d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden, § 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG, § 64 Abs. 6 ArbGG iVm § 520 Abs. 3 ZPO.
II. Die Berufung der Beklagten ist jedoch unbegründet.
Zu Recht hat das Arbeitsgericht der Klägerin die ausgeurteilten Vergütungsansprüche für Mai und Juni 2018 zugesprochen. Die der Höhe nach unbestrittenen Ansprüche ergeben sich aus § 615 Satz 1 BGB. Denn die Beklagte befand sich im streitgegenständlichen Zeitraum im Annahmeverzug.
1. Nach § 615 Satz 1 BGB behält der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf die vereinbarte Vergütung, wenn der Arbeitgeber die angebotene Arbeitsleistung nicht annimmt. Da die Beklagte mit der Anordnung der unbezahlten Arbeitspause im Schreiben vom 07.05.2018 die Arbeitsleistung der Klägerin abgelehnt hatte, reichte nach § 295 BGB das schriftliche Angebot der Klägerin vom 08.05.2018 aus, um den Annahmeverzug der Beklagten auszulösen.
2. Der Annahmeverzugsanspruch der Klägerin entfällt auch nicht etwa deshalb, weil die Beklagte zu Recht die Arbeitsleistung der Klägerin abgelehnt hätte. Weder ist erkennbar, dass es der Beklagten streikbedingt unzumutbar gewesen wäre, die Arbeitsleistung der Klägerin anzunehmen, noch stellt sich die Anordnung der unbezahlten Pause als rechtmäßige Arbeitskampfmaßnahme dar. Nach Auffassung der Kammer kann daher dahinstehen, ob die ergriffene Maßnahme als eigene Arbeitskampfmaßnahme der Beklagten anzusehen ist oder ob wegen der von der Beklagten behaupteten Streikbedingtheit der Maßnahmen die Grundsätze der Arbeitskampfrisikolehre greifen. In beiden Fällen hätte die Beklagte die Voraussetzungen für einen Entfall der klägerischen Vergütungsansprüche nicht dargetan.
a) Dem Anspruch der Klägerin stehen die Grundsätze der Risikoverteilung bei arbeitskampfbedingten Betriebsstörungen nicht entgegen.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 15.12.1998 – 1 AZR 216/98, Rn. 36; BAG 12.11.1996 – 1 AZR 364/96, Rn. 28; BAG 22.12.1980 – 1 ABR 2/79) führen Störungen, die auf Streiks oder Aussperrungen in anderen Betrieben beruhen und die Fortsetzung des Betriebs ganz oder teilweise unmöglich oder für den Arbeitgeber wirtschaftlich unzumutbar machen, dazu, dass jede Seite das auf sie entfallende Kampfrisiko zu tragen hat, wenn diese Fernwirkungen des Arbeitskampfs das Kräfteverhältnis der kampfführenden Parteien beeinflussen können. Das bedeutet für die betroffenen Arbeitnehmer, dass sie unter diesen Voraussetzungen für die Dauer der Betriebsstörungen ihre Beschäftigungs- und Vergütungsansprüche verlieren.
Entsprechendes gilt, wenn in einem Betriebsteil die Arbeit unmöglich oder dem Arbeitgeber unzumutbar wird, weil in einem anderen Betriebsteil gestreikt wird oder weil eine Kampfmaßnahme Störungen verursacht, welche die sofortige Wiederaufnahme der Arbeit nach Abschluss der Arbeitskampfhandlung unmöglich oder unzumutbar machen. Unerheblich ist dabei, ob hiervon die an der Kampfmaßnahme beteiligten oder andere Arbeitnehmer des Betriebs betroffen sind. In allen diesen Fällen tragen die Arbeitnehmer, deren Arbeit ausfällt, das Entgeltrisiko (BAG 15.12.1998 – 1 AZR 216/98, Rn. 37; BAG 12.11.1996 – 1 AZR 364/96, Rn. 30).
Zu den Streikfolgen, die den Arbeitnehmern zuzurechnen sind, gehören auch solche Arbeitsausfälle, die durch Gegenmaßnahmen verursacht werden, mit denen der Arbeitgeber die streikbedingten Betriebsstörungen möglichst gering halten will. Allerdings sind die Arbeitnehmer mit den Folgen eines solchen Streikgegenprogramms nur dann zu belasten, wenn es sich nicht um vorbeugende Maßnahmen des Arbeitgebers handelt, die über die reine Gegenwehr hinausgehen, die also den Rahmen des Arbeitskampfs erweitern (BAG 15.12.1998 – 1 AZR 216/98, Rn. 38; BAG 12.11.1996 – 1 AZR 364/96, Rn. 38/39).
Bei Teil- und Wellenstreiks kann die Unterscheidung von bloßer Abwehr einer Betriebsstörung und eigener Kampfmaßnahme schwierig sein. Die unmittelbare Reaktion auf eine punktuelle und überraschende Aktion lässt sich nämlich nicht ohne weiteres so begrenzen, dass sie sich sowohl räumlich als auch zeitlich mit der einzelnen Streikmaßnahme deckt. Organisatorische Erfordernisse können es dem Arbeitgeber unmöglich oder unzumutbar machen, sich eng an schnell wechselnde Rahmen des Streikgeschehens zu halten und auf vorausschauende Planung zu verzichten. Ob die Reduzierung des Arbeitsprogramms oder die Weiterbeschäftigung von Ersatzkräften nach Beendigung eines Kurzstreiks noch als Abwehr einer Betriebsstörung oder schon als eigene Kampfmaßnahme zu werten ist, hängt von den Umständen des Falles ab, insbesondere von der Art des Streiks und der betrieblichen Tätigkeit (BAG 17.02.1998 – 1 AZR 386/97, Rn. 28; BAG 12.11.1996 – 1 AZR 364/96, Rn. 40).
bb) Es kann unterstellt werden, dass die Reduzierung der Belegung in der Klinik eine streikbedingte Abwehrmaßnahme der Beklagten darstellte und daher dem Arbeitskampfrisiko der Arbeitnehmer zuzurechnen ist. Denn die Beklagte hat den streikbedingten Wegfall des Beschäftigungsbedarfs für die Klägerin nicht dargetan.
Die Beklagte weist selbst darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die arbeitskampfbedingte Risikoverteilung den unmittelbar kampfbetroffenen Arbeitgeber davor schützen soll, neben dem Risiko des Produktionsstillstandes durch den gegen ihn gerichteten Streik zusätzlich das Risiko der Fortzahlung des Lohnes an die nicht am Streik beteiligten Arbeitnehmer, die infolge der Streikauswirkungen nicht beschäftigt werden können, tragen zu müssen. Erste Voraussetzung für eine Verteilung des Risikos nach den Grundsätzen des Arbeitskampfrisikos ist daher in jedem Fall, dass überhaupt eine entsprechende Störung des Leistungsverhältnisses vorliegt, d. h., dass dem Arbeitgeber die Beschäftigung des Arbeitnehmers unmöglich oder unzumutbar geworden ist (BAG 14.12.1993 – 1 AZR 550/93, Rn. 24/25).
Die Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Beschäftigung der Klägerin infolge des Streiks bzw. infolge der Gegenmaßnahmen der Beklagten ist nicht erkennbar. Die Beklagte hat den erforderlichen Zusammenhang zwischen den von ihr vorgenommenen Maßnahmen (Reduzierung der Patientenbelegung, Reduzierung der angebotenen Leistungen) und der behaupteten Personalüberkapazität entgegen der sie treffenden Darlegungs- und Beweislast nicht konkret dargetan. Zu berücksichtigen ist, dass sie nicht etwa einen betrieblich abgrenzbaren Teilbereich geschlossen oder sämtliche Mitarbeiter einer bestimmten Schicht in die unbezahlte Arbeitspause geschickt hat. Die Beklagte hat vielmehr von den 14 bei ihr beschäftigten Physiotherapeuten fünf ausgewählt und für einen Zeitraum von nahezu zwei Monaten in eine unbezahlte Pause geschickt. Mangels entsprechenden Vortrags der Beklagten ist jedoch nicht erkennbar, wie sich die ergriffenen Maßnahmen konkret auf die Arbeitsmenge der in der Klinik beschäftigten Physiotherapeuten insgesamt ausgewirkt haben und warum eine Beschäftigung von genau fünf Mitarbeitern nicht mehr möglich bzw. zumutbar war. Dies hat die Beklagte dem Gericht weder erstinstanzlich noch zweitinstanzlich erklärt. Eine Überkapazität von fünf Beschäftigten hat die Beklagte stets nur pauschal behauptet, jedoch nicht konkret dargetan.
cc) Selbst wenn man zugunsten der Beklagten eine streikbedingte Überkapazität von fünf Beschäftigten annehmen wollte, wäre ein sachlicher Grund für die Auswahl gerade der Klägerin nicht feststellbar. Für die von der Beklagten ergriffene Abwehrmaßnahme wären statt der ausgewählten fünf Physiotherapeuten auch alle anderen der insgesamt 14 Physiotherapeuten in Betracht gekommen. Die Auswahl der Arbeitnehmer unterliegt auch bei arbeitskampfbedingten Personalentscheidungen dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Bindung an billiges Ermessen im Sinne des § 106 GewO. Die Auswahl der Arbeitnehmer – etwa für Erhaltungsarbeiten – ist daher nach sachlichen, arbeitsplatzbezogenen Gesichtspunkten vorzunehmen. Eine Auswahl anhand der Gewerkschaftszugehörigkeit ist nicht zulässig (vgl. ErfK-Linsenmaier, 22. Auflage 2022, Art. 9 GG Rn. 187, 188). Sachliche Gründe dafür, warum die Beklagte gerade die Klägerin und die vier weiteren Physiotherapeuten ausgewählt hat, sind nicht ersichtlich. Den von der Klägerin geäußerten Verdacht, sie sei ebenso wie ihre Kollegen wegen ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit ausgewählt worden, konnte die Beklagte daher nicht ausräumen.
b) Entgegen der Auffassung der Beklagten erfüllt die angeordnete unbezahlte Arbeitspause auch nicht die Anforderungen an ein rechtmäßiges Arbeitskampfmittel. Zugunsten der Beklagten kann daher unterstellt werden, dass die von ihr zur Abwendung der Streikfolgen in ihrer Klinik ergriffenen Gegenmaßnahmen als eigenes Arbeitskampfmittel anzusehen sind.
aa) Offen bleiben kann, ob sich die angeordnete unbezahlte Pause gegenüber einem Teil der Belegschaft als klassische Aussperrung begreifen lässt. Denn zu Recht verweist die Beklagte auf den Grundsatz der freien Kampfmittelwahl. Dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG unterfällt nicht nur ein historisch gewachsener, abschließender numerus clausus von Arbeitskampfmitteln. Vielmehr gehört es zur verfassungsrechtlich geschützten Freiheit der Koalitionen, ihre Kampfmittel an die sich wandelnden Umstände anzupassen, um dem Gegner gewachsen zu bleiben und ausgewogene Tarifabschlüsse zu erzielen (BAG 22.09.2009 – 1 AZR 972/08, Rn. 34; vgl. auch BVerfG 26.03.2014 – 1 BvR 3185/09, Rn. 23; ErfK-Linsenmaier, 22. Auflage 2022, Art. 9 GG Rn. 271). Der Beklagten als Adressat der kurzfristigen Streiks war es daher dem Grunde nach unbenommen, mit einem aus ihrer Sicht passenden Arbeitskampfmittel auf die jeweils nur wenige Tage andauernden, sich wiederholenden Kurzstreiks der Gewerkschaft zu reagieren.
bb) Die Arbeitskampfmaßnahme der Beklagten – ihre Einordnung als solche unterstellt – erfüllt jedoch nicht die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen.
Zentraler Maßstab für die Beurteilung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Arbeitskampfes ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser erfordert stets eine Würdigung, ob ein Kampfmittel zur Erreichung eines rechtmäßigen Kampfziels geeignet und erforderlich ist und bezogen auf das Kampfziel angemessen (proportional) eingesetzt wird (BAG 22.09.2009 – 1 AZR 972/08, Rn. 39, 41).
cc) Zwar spricht einiges dafür, dass die Anordnung unbezahlter Pausen gegenüber einem Teil der Belegschaft als Reaktion der Arbeitgeberseite auf Kurzstreiks nicht per se unverhältnismäßig ist. Denn auch gegen Kurzstreiks sind Kampfmaßnahmen grundsätzlich zulässig (vgl. BAG 11.08.1992 – 1 AZR 103/92, Leitsatz). Ob die Kampfmaßnahme im konkreten Fall erforderlich und angemessen war, kann jedoch dahinstehen.
dd) Denn jedenfalls war die streitbefangene Anordnung der unbezahlten Arbeitspause ausschließlich gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern unzulässig.
Der Arbeitgeber darf eine Abwehraussperrung nicht auf Mitglieder der kämpfenden Gewerkschaft beschränken. Hierin liegt sonst ein Verstoß gegen die in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG geschützte positive Koalitionsfreiheit (BAG 18.11.2014 – 1 AZR 257/13, Rn. 34; BAG 10.06.1980 – 1 AZR 331/79; Boecken/Düwell/Diller/Hanau-Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 9 GG Rn. 214; ErfK-Linsenmaier, 22. Auflage 2022, Art. 9 GG Rn. 254). Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es ihr auch nicht zugute, dass sie ihre Maßnahme von vornherein auf Gewerkschaftsmitglieder begrenzt hat. Sie meint, die der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 10.06.1980 (1 AZR 331/79) zugrundeliegende Fallgestaltung sei mit der vorliegenden nicht vergleichbar, da der Arbeitgeber in dem dort entschiedenen Fall einen allgemein gefassten Aussperrungsbeschluss zum Anlass nahm, zwischen gewerkschaftlich organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern zu differenzieren. Mit dieser Argumentation übersieht die Beklagte jedoch, dass die selektive Aussperrung, also eine solche, die von vornherein ausschließlich gegen organisierte Arbeitnehmer gerichtet ist, per se unzulässig ist (BAG 18.11.2014 – 1 AZR 257/13, Rn. 34; Boecken/Düwell/Diller/Hanau-Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 9 GG Rn. 214). Nichts anderes gilt für ein atypisches Arbeitskampfmittel wie die streitbefangene, nur gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern angeordnete unbezahlte Arbeitspause.
Erfolglos führt die Beklagte an, nicht die Gewerkschaftsmitgliedschaft der fünf betroffenen Arbeitnehmer, sondern ausschließlich die entstandenen Überkapazitäten seien Grundlage für ihre Auswahl gewesen. Wie oben bereits ausgeführt, sind sachliche Gründe für die Auswahl gerade der fünf gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer nicht feststellbar. Es wäre an der Beklagten gewesen, den von der Klägerin angeführten, auf objektive Indizien gestützten Verdacht, organisierte Arbeitnehmer seien gezielt ausgewählt worden, mit Sachargumenten auszuräumen. Konkrete Sachgründe hat die Beklagte jedoch nicht vorgebracht. Insbesondere stellen die von der Beklagten pauschal angeführten Überkapazitäten keinen sachlichen Auswahlgrund dar. Denn die behaupteten Überkapazitäten hätte die Beklagte nach eigenem Vortrag allenfalls dazu berechtigt, einen Teil der Physiotherapeuten in die unbezahlte Arbeitspause zu schicken. Eine Begründung dafür, warum von den 14 Physiotherapeuten gerade die Klägerin und die weiteren vier gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ausgewählt wurden, liefern die behaupteten Überkapazitäten jedoch nicht.
3. Ohne Erfolg rügt die Beklagte eine Verletzung der aus § 139 Abs. 2 ZPO folgenden Hinweispflicht.
Dabei kann dahinstehen, ob das Erstgericht die Beklagte auf die sie treffende Darlegungspflicht in Hinblick auf die konkrete Darstellung der Überkapazitäten und der Auswahlgesichtspunkte hätte hinweisen müssen. Denn es ist davon auszugehen, dass die Beklagte auch auf entsprechenden Hinweis des Erstgerichts nicht weiter vorgetragen hätte. Schließlich hat die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung – in Kenntnis der vom Erstgericht im Urteil skizzierten Anforderungen – zu den genannten Punkten ausschließlich ihren pauschalen erstinstanzlichen Vortrag wiederholt und die Möglichkeit, ihren Vortrag in der Berufungsinstanz zu substantiieren, nicht genutzt.
4. Die Zinsansprüche der Klägerin ergeben sich aus dem Gesichtspunkt des Zahlungsverzugs, § 288 Abs. 1 BGB.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
IV. Anlass für die Zulassung der Revision bestand nicht.
Zwar ist die Unterscheidung zwischen bloßer Abwehr einer streikbedingten Betriebsstörung einerseits und eigenen Arbeitskampfmaßnahmen bei atypischen Gegenmaßnahmen des Arbeitgebers – soweit ersichtlich – bislang höchstrichterlich nicht geklärt. Im vorliegenden Fall kam es auf diese Unterscheidung jedoch nicht an. Denn – wie aufgezeigt – greifen die Einwände der Beklagten unabhängig davon, ob ihre Gegenmaßnahme an den Maßstäben der Arbeitskampfrisikolehre zu messen oder als eigenes Arbeitskampfmittel einzuordnen wäre, nicht durch. Insofern fehlt es an der für § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG erforderlichen Entscheidungserheblichkeit dieser Unterscheidung.


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