Arbeitsrecht

Konkurrentenklage im öffentlichen Dienst – Auswahlverfahren – konstitutives Merkmal – Anforderungen an Dokumentation

Aktenzeichen  3 Ca 15/21

Datum:
11.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
ArbG Erfurt 3. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:ARBGERF:2022:0311.3CA15.21.00
Normen:
Art 33 Abs 2 GG
Art 19 Abs 4 GG
Spruchkörper:
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Tenor

1. Der Beklagte wird verpflichtet, ein erneutes Auswahlverfahren über die Stelle zum Fachkoordinator (m/w/d) “Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen” im Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr, Referat 43, “Region Nord” im Sachbereich 43.2 “Straßen- und Ingenieurbau” unter Beachtung der Rechtsaufassung des Gerichts durchzuführen.
2. Die darüber hinausgehende Klage wird abgewiesen.
3. Die Kosten des Rechtsstreites werden dem Kläger zu 3/5 und dem Beklagten zu 2/5 auferlegt.
4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 27.907,95 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Übertragung einer vom beklagten F. ausgeschriebene Stelle als Fachkoordinator “Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen” im Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr, hilfsweise darüber, die Auswahlentscheidung für die Stelle zu wiederholen.
Unter dem 14.12.2019 schrieb der Beklagte die Stelle des Fachkoordinators “Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen” aus. Darin wurde als Einstellungsvoraussetzung mindestens ein abgeschlossenes Hochschulstudium als Dipl.-Ing. oder ein entsprechender Bachelor-Abschluss in der Fachrichtung Straßenbau, Bauingenieurwesen, Verkehrswesen, (Kommunaler) Tiefbau, Brückenbau, Verkehrsbau oder artverwandte Fachrichtungen oder mindestens ein abgeschlossenes Hochschulstudium (Diplom (FH)/Bachelor) in einer anderen als der oben genannten Fachrichtung und nachgewiesene langjährige praktische Erfahrungen im oben genannten Aufgabenbereich. Außerdem wurde eine langjährige praktische Erfahrung auf dem Gebiet der Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen oder in der Planung und/oder Baudurchführung von Straßen und Radwegen verlangt. Zu den weiteren konstitutiven und fakultativen Anforderungsprofilen wird auf die Anlage K1 (Bl. 17 ff. d.A.) verwiesen.
Der am 0.0.1967 geborene Kläger verfügt über den Abschluss eines Diplom-Ingenieurs (FH) für Tiefbau und ist seit 1994 als Projektingenieur in demselben Fachbereich, für welchen die Stelle ausgeschrieben ist, tätig. Er hat bereits ca. 180 Baustellen und Projekte im Rahmen der Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen sowohl in der Planung als auch in der Baudurchführung erfolgreich betreut. Auf die ausgeschriebene Stelle bewarben sich neben dem Kläger Herr T., Herr M. und Herr H.
H. verfügt über einen Bachelor of Engineering (DH) im Bauwesen, Studienrichtung Projektmanagement und einen Master of Engineering (FH) im Bauingenieurwesen, Studienrichtung Bauwirtschaft. Nach dem Masterabschluss im Jahr 2014 war er zunächst drei Jahre als Bauüberwacher und Projektleiter bei der D. tätig. Er war verantwortlich für die Planung von Maßnahmen im konstruktiven Ingenieursbau, der Überwachung und Steuerung von Projekten in verschiedenen Leistungsphasen im konstruktiven Ingenieursbau und der Erstellung von Machbarkeitsuntersuchungen, Kostenschätzungen und Leistungsverzeichnissen sowie für die Sicherstellung der wirtschaftlichen und korrekten Mittelverwendung gemäß den Finanzierungsbestimmungen. Seit 01.11.2017 ist er als Sachbearbeiter im Referat 43 des Thüringer Landesamtes für Bau und Verkehr “Planung und Bau von Straßen und Radwegen” tätig. Ihm obliegt hier die Realisierung von Straßenbauprojekten.
Der Beklagte erstellte eine Bewerberübersicht. Unter der Rubrik “langjährige praktische Erfahrung” enthielt die Bewerberübersicht zu Herrn H. folgenden Vermerk:
“vorhanden aufgrund der aktuellen Tätigkeit im Aufgabengebiet 43.2.10 (Planung & Bau von Straßen und Radwegen) i.V.m. der Tätigkeit bei der D., einschlägig, da Tiefbau – entsprechend soll die Einladung erfolgen”.
Am 01.04.2020 monierte der Personalratsvorsitzende, Herr R., gegenüber der Personalsachbearbeiterin, Frau V., dass Herr H. nicht über langjährige praktische Erfahrungen von mindestens drei Jahren verfüge. Diese Erwartung würde Herr H. erst mit Ablauf des Oktober 2020 erfüllen, da man bezüglich der Vortätigkeit bei der D. nicht erwarten könne, dass es sich dabei um Erfahrungen im Straßen- und Radwegebau bzw. der Planung oder Baudurchführung von Straßen und Radwegen handele. Die Bewerberauswahl sei insofern nicht begründet bzw. nachvollziehbar. Die Personalsachbearbeiterin wies mit E-Mail vom 14.04.2020 darauf hin, dass eine Anerkennung der langjährigen praktischen Erfahrungen, insbesondere wegen der Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Tiefbau, welchen in beiden Bereichen (Bahn-Straße) eine grundlegende Bedeutung zukomme, erfolge. Der Bewerber solle daher zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden.
Sämtliche vier Bewerber wurden zu einem Vorstellungsgespräch am 09.06.2020 eingeladen. An diesen Gesprächen nahmen der zuständige Referatsleiter, Herr B, der Vorsitzende des Personalrates, Herr D., die Gleichstellungsbeauftragte, Frau H., sowie die zuständige Sachbearbeiterin des Personalreferates, Frau V., teil. Den Bewerbern wurde zunächst die Gelegenheit gegeben, ihre bisherigen beruflichen Erfahrungen sowie ihr derzeitiges Tätigkeitsprofil darzustellen. Anschließend wurden bei sämtlichen Bewerbern anhand eines identischen Fragenkatalogs fachliche Kenntnisse sowie Führungskompetenz abgefragt. Hierüber erfolgte eine Mitschrift durch die Personalsachbearbeiterin Frau V. (Anl. B5, Bl. 54 ff. d.A.) sowie des Referatsleiters Herr B. (Anl. B5, Bl. 60 ff. d.A.). Der von dem Beklagten vorgelegte Fragenkatalog (Anl. B3, Bl. 52 ff. d.A.) enthielt erwartete Antworten.
Im direkten Anschluss an die Vorstellungsgespräche wurde eine Einschätzung der Bewerber besprochen und eine Auswahlentscheidung getroffen. Unter der Mitschrift des Referatsleiters vermerkte dieser folgende Reihung:
”       
1.    
G.    
2.    
H.    
3.    
H.    
4.    
J. “. 

Mit Schreiben vom 29.06.2020 informierte der Beklagte den örtlichen Personalrat und die Gleichstellungsbeauftragte von der getroffenen Auswahl und bat um Zustimmung zur Einstellung der Erstplatzierten. In Bezug auf Herrn H. enthielt das Informationsschreiben folgender Begründung:
“Herr H. konnte die Fachfragen in guter Qualität beantworten und wirkte in persönlicher Hinsicht engagiert und motiviert. Eine Reihung erfolgte daher nur knapp auf Platz zwei, insbesondere im Hinblick auf die bisherigen beruflichen Erwartungen des vorgereihten Bewerbers.”
In Bezug auf den Kläger enthielt das Informationsschreiben folgende Begründung:
“Trotz seiner langjährigen praktischen Erfahrungen im Aufgabengebiet erfolgte die Beantwortung der Fachfragen sehr oberflächlich und auch in persönlicher Hinsicht wirkte er wortkarg und wenig engagiert. Bei den Fragestellungen fokussierte er sich vorrangig an seinen jetzigen Aufgaben und ließ somit den Weitblick der mit der Stelle verbundenen Aufgabenwahrnehmungen, insbesondere in Bezug auf die Aufgaben als Fachkoordinator, vermissen. Er scheint daher zwar geeignet, steht aber im unmittelbaren Vergleich zu den vorgereihten Bewerbern zurück.”
Den unterlegenen Bewerbern wurde mit Schreiben vom 24.06.2020 mitgeteilt, dass ihrer Bewerbung nicht entsprochen werden konnte. Der erstgereihte Bewerber Herr H. erhielt mit Schreiben vom 25.06.2020 eine Einstellungszusage. Nachdem dieser am 05.07.2020 mitteilte, dass er das Stellenangebot nicht annehmen werde, wurde in der Folge Herrn H. als zweitgereihter Bewerber die Stelle mit Schreiben vom 16.07.2020 angeboten. Nachdem der Kläger davon erfuhr, wandte er sich mit Schreiben an den Beklagten und forderte ihn auf, die Stelle vorläufig nicht zu besetzen. Da der Beklagte am 13.08.2020 mitteilte, dass er das Stellenbesetzungsverfahren fortsetzen wolle, wandte sich der Kläger im einstweiligen Verfügungsverfahren am 27.08.2020 an das Arbeitsgericht Erfurt mit dem Antrag, dem Beklagten zu untersagen, die Stelle bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu besetzen. Das Arbeitsgericht Erfurt hat dem Antrag auf einstweilige Verfügung durch Urteil vom 07.12.2020 stattgegeben und im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen Zeitablaufs nicht verwirkt sei und der Kläger einen Anspruch auf vorläufige Untersagung der Stellenbesetzung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren habe, weil der Mitbewerber Herr H. möglicherweise über die in der Stellenausschreibung geforderten “langjährigen praktischen Erfahrungen” nicht verfüge. Aus dem Zeugnis des Mitbewerbers und dem Vortrag des Beklagten lasse sich nicht hinreichend substantiiert entnehmen, ob langjährige praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Erneuerung/ Instandsetzung von Straßen und Radwegen vorgelegen habe. Der Beklagte könne sich nicht auf die Vergleichbarkeit von bautechnischen Projekten im Bereich der Straßen und Radwege und Projekten der Schieneninfrastruktur berufen. Im Rahmen des § 16 TV-L bestünde zwar bei der Einstellung von Mitarbeitern eine Anerkennung vergleichbarer Berufserfahrungen. Jedoch habe die vorliegende Stellenausschreibung einen anderen Wortlaut.
Mit Schriftsatz vom 17.09.2020 hat der Kläger beim Arbeitsgericht Erfurt Klage mit dem Begehren erhoben, den Beklagten zu verpflichten, ihm die Stelle zum Fachkoordinator zu übertragen, hilfsweise die Auswahlentscheidung zu wiederholen. Dem Mitbewerber Herrn H. fehlten zum Zeitpunkt der Auswahlentscheidung am 09.06.2020 langjährige praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Neuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen oder in der Planung und/ oder Baudurchführung von Straßen und Radwegen. Er sei auf diesem Gebiet erst zwei Jahre tätig und könne allenfalls fünf bis sechs Baustellenprojekte vorweisen. Selbst wenn die Behauptung des Beklagten über die Tätigkeit bei der D. zuträfe, ergäben sich daraus keine Spezialkenntnisse hinsichtlich der Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen. Diese Spezialkenntnisse seien vom Beklagten letztlich auch nicht behauptet worden.
Die Voraussetzung der langjährigen praktischen Berufserfahrungen im Anforderungsprofil sei konstitutiv. Auf das Maß der Erfüllung der “weichen Kriterien”, etwa den Eindruck innerhalb des Bewerbungsgespräches, auf welche der Beklagte seine Auswahlentscheidung stütze, könne es nicht mehr ankommen. Es werde bestritten, dass der Kläger im direkten Vergleich mit den übrigen Bewerbern die an ihn gestellten Fachfragen nur sehr oberflächlich beantworten konnte und in persönlicher Hinsicht eher wortkarg und wenig engagiert gewirkt habe. Ebenso werde bestritten, dass seine Antworten den Weitblick für die mit der Stelle verbundenen Aufgaben vermissen ließen. Es werde auch in Abrede gestellt, dass der Kläger sich mit dem Aufgabenprofil eines Fachkoordinators nicht ausreichend auseinandergesetzt habe und im Vergleich zu den übrigen Bewerbern eine weniger tiefgreifende Beantwortung und Auseinandersetzung mit den an ihn gestellten Fachfragen festzustellen gewesen sei. Zudem sei keiner der übrigen Mitbewerber, außer des Herrn H., an der Vergabe der Stelle interessiert, sodass tatsächlich neben Herrn H. nur noch der Kläger in Frage komme.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, die Stelle zum Fachkoordinator (m/w/d) “Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen” im Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr, Referat 43, “Region Nord” im Sachbereich 43.2 “Straßen- und Ingenieurbau” dem Kläger zu übertragen und dazu das darauf gerichtete Angebot des Klägers zur Abänderung des bestehenden Arbeitsvertrages anzunehmen;
hilfsweise,
den Beklagten zu verpflichten, ein erneutes Auswahlverfahren über die Stelle zum Fachkoordinator (m/w/d) “Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen” im Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr, Referat 43, “Region Nord” im Sachbereich 43.2 “Straßen- und Ingenieurbau” unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts durchzuführen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Klageerhebung acht Wochen nach Erhalt des Absageschreibens sei verwirkt. Für die Klageerhebung seien nicht die Mitteilung der maßgeblichen Gründe der Auswahlentscheidung und die Benennung des konkreten Bewerbers und auch die Mitteilung der Absage an den erstgereihten Kandidaten erforderlich gewesen. Der Mitbewerber Herr H. habe über langjährige Berufserfahrungen auf dem betreffenden Gebiet verfügt. Es sei auch kein eindeutiger Mindestzeitraum im Anforderungsprofil genannt worden. Zudem handele es sich bei den langjährigen Berufserfahrungen um kein konstitutives Merkmal, sondern um ein allgemeines Profilmerkmal und eröffne einen Wertungsspielraum. Die Frage der Berufserfahrung sei daher nicht im Rahmen der engeren Bewerberauswahl (1. Stufe), sondern im Rahmen des Leistungsvergleiches zu gewichten. Daher sei kein Ausschluss im Rahmen der Bewerberauswahl möglich gewesen. Auch wenn nach ständiger Rechtsprechung des BAG unter langjähriger Berufserfahrung eine mindestens dreijährige Berufserfahrung zu verstehen sei, so könne dies nicht als allgemeingültige und verbindliche Norm betrachtet werden, da die Feststellung von Berufserfahrungen nicht allein von dem Ablauf einer bestimmten Zeit abhängig sei und der Begriff langjährig auch je nach dem Wissensgebiet einer verschiedenen Bemessung zugänglich sei. Hilfsweise werde vorgetragen, dass die Erfahrungen des Herrn H. aus der Tätigkeit bei der D. aufgrund des gleich gelagerten Tätigkeitsfeldes den Erfahrungen auf dem Gebiet der Planung und Baudurchführung von Straßenverkehrsanlagen gleichzustellen sei. Herr H. hätte während der Tätigkeit bei der D.jederzeit anwendungsbreites Fachwissen im Bereich des Straßen- und Wegebaus vorhalten müssen. Um Streckennetze zur Verfügung stellen zu können, spiele der Straßen- und Wegebau im Bereich der Zufahrts- und Wartungsstraßen zu Bauanlagen, Gleisen, Weichen, Kreuzungen mit anderen Wegen und Brückenbauten eine wesentliche Rolle. Viele grundlegende Tätigkeiten im Tiefbau für die Schieneninfrastruktur seien deckungsgleich mit Tiefbauarbeiten im Straßenbau.
Unter Verweis auf die Mitschriften der Personalsachbearbeiterin und des Referatsleiters habe der Kläger im Vergleich regelmäßig kürzer und weniger tiefgreifend geantwortet und den erforderlichen Weitblick für die mit der Stelle verbunden Aufgabenwahrnehmung vermissen lassen.
Es werde bestritten, dass Herr H. für die Stelle nicht mehr zur Verfügung stehe, auch wenn er wegen der Umsetzung nicht mehr bei der Beklagten beschäftigt sei. Eine offizielle Mitteilung liege nicht vor.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere nicht durch das Verstreichenlassen der 14-Tages-Frist verwirkt. Die von der Rechtsprechung entwickelte Frist ist keine materiell-rechtliche Ausschlussfrist für die Geltendmachung des Bewerbungsverfahrensanspruchs. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der Klagefrist. Auch nach Ablauf der so genannten Wartefrist von 14 Tagen, nach deren ungenutzten Ablauf dem Besetzungs-/Beförderungsverfahren Fortgang gegeben werden kann, kann im vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht werden. Die Wartefrist hat vielmehr den Sinn, die unterlegenen Bewerber von der Ernennungsabsicht des Dienstherren in Kenntnis zu setzen und ihnen auf diese Weise die Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes überhaupt zu ermöglichen. Der Beklagte hätte somit vorliegend nach Ablauf der Wartefrist die Stelle besetzen können. Dies hat er jedoch nicht getan.
Eine Verwirkung wäre nur anzunehmen, wenn besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen ließen. Der jeweilige Gegner muss in rechtlich schützenswerter Weise darauf vertraut und sich darauf eingestellt haben, dass ein bestimmtes Recht nicht mehr geltend gemacht wird (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.11.2015, Az. 1 B 884/15). Der Verwirkzeitraum hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird der Verwirkzeitraum in Anlehnung an die gesetzliche Wertung in § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO erst bei Zuwarten des Bewerbers von über 4 Monaten, zum Teil sogar von einem Jahr angenommen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.01.2020, Az.: 1 B 112/19).
Vorliegend hat der Kläger ca. zwei Monaten nach der Absage vom 24.06.2020 um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Zuvor hatte er gegenüber dem Beklagten nicht geäußert, gegen die Auswahlentscheidung nicht vorgehen zu wollen. Es sind insoweit keinerlei Anhaltspunkte und Umstände erkennbar, dass der Beklagte darauf vertrauen durfte, dass der der Kläger nicht mehr seinen Bewerbungsverfahrensanspruch geltend machen wird.
Die Klage ist im tenorierten Umfang begründet. Der Kläger unterliegt mit dem Hauptantrag, da ihm nicht der Nachweis gelungen ist, dass er der am besten geeignete Bewerber ist. Neben dem Mitkonkurrenten Herrn H. war auch noch Herr H. vor dem Kläger gereiht. Der Kläger hat nicht beweisen können, dass dieser sich nicht mehr für die Stelle interessiert. Er hat dies zwar behauptet. Eine offizielle Mitteilung des Herrn H., dass er nicht mehr an der Stelle interessiert ist, liegt unstreitig nicht vor. Die Versetzung des Mitbewerbers in eine andere Behörde schließt nicht aus, dass dieser vorgereihte Bewerber das Stellenangebot nicht annehmen würde. Es fehlt zudem auch an substantiiertem Vortrag, dass dieser Bewerber weniger geeignet ist als der Kläger.
Der Hilfsantrag des Klägers ist begründet, da das vom Beklagten durchgeführte Auswahlverfahren fehlerbehaftet ist und seine Auswahl in einer erneuten Entscheidung nicht ausgeschlossen werden kann.
Die streitbefangene Auswahlentscheidung des Beklagten zugunsten Herrn H. verletzt den Kläger in seinem Recht aus dem aus Art. 33 Abs. 2 GG folgenden Anspruch auf ermessensfehlerfreie und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung über seine Bewerbung.
Der Kläger kann somit vom Beklagten verlangen, dass die Besetzung der Stelle mit den konkurrierenden Bewerbern unterbleibt, bis in rechtlich fehlerfreier Weise über seine Stellenbewerbung entschieden worden ist.
Nach Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Jede Bewerbung muss nach diesen Kriterien beurteilt werden. Die Geltung des Grundsatzes der Bestenauslese wird durch Art. 33 Abs. 2 GG unbeschränkt und vorbehaltlos gewährleistet. Das dient dem öffentlichen Interesse an der bestmöglichen Besetzung der Stellen des öffentlichen Dienstes. Zudem trägt Art. 33 Abs. 2 GG dem berechtigten Interesse der Bediensteten an einem angemessenen beruflichen Fortkommen dadurch Rechnung, dass er grundrechtsgleiche Rechte auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl begründet.
Öffentliche Ämter i.S.v. Art. 33 Abs. 2 GG sind nicht nur Beamtenstellen, sondern – wie hier -auch solche Stellen, die von Arbeitnehmern besetzt werden können. Verfassungsrechtlich ist ebenso der Zugang zu Beförderungsämtern geschützt. Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst steht nach Art. 33 Abs. 2 GG bei der Besetzung von Ämtern des öffentlichen Dienstes ein Bewerbungsverfahrensanspruch zu. Daraus folgt angesichts der Kriterien Eignung, Befähigung und fachliche Leistung in Art. 33 Abs. 2 GG ein subjektives Recht jedes Bewerbers auf chancengleiche Teilnahme am Bewerbungsverfahren (BAG, Urteil vom 12.12.2017, Az.: 9 AZR 152/17).
Bei der rechtlichen Überprüfung eine Auswahlentscheidung nach den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG ist die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten. Für den unterlegenen Bewerber muss die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes vor den staatlichen Gerichten gesichert sein, was erfordert, dass der öffentliche Arbeitgeber das Auswahlverfahren in einer Weise dokumentiert, die eine anschließende gerichtliche Überprüfung möglich macht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.07.2007, Az.: 2 BvR 206/07).
Vorliegend erfüllt der Mitbewerber Herr H. nicht das konstitutive Merkmal des Anforderungsprofils an die streitbefangene Stelle “langjährige praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Erneuerung und Instandhaltung von Straßen und Radwegen oder in der Planung und/oder Baudurchführung von Straßen und Radwegen”.
Entgegen der Auffassung des Beklagten handelt es sich bei diesem Merkmal um ein konstitutives.
Konstitutive Merkmale sind solche, die zwingend zu erfüllen sind. Bei der Festlegung des Anforderungsprofils der Stelle steht es dem Dienstherrn offen, zwischen solchen Merkmalen zu unterscheiden, die von den Bewerbern zwingend zu erfüllen sind (konstitutive Merkmale) und solchen, die Optimierungskriterien im Rahmen der vom Dienstherrn vorzunehmenden Bewertung für den Fall darstellen, dass mehrere Bewerber die konstitutiven Merkmale erfüllen. In die nähere Auswahl dürfen nur diejenigen Bewerber einbezogen werden, die die konstitutiven Merkmale des Anforderungsprofils erfüllen. Ein konstitutives, spezielles Anforderungsmerkmal zeichnet sich dadurch aus, dass der Dienstherr es für unabdingbar für die Wahrnehmung der ausgeschriebenen Positionen hält und es sich nicht schon nach dem Auswahlmodell der Auswertung dienstlicher Beurteilungen hinreichend bewerten lässt, ob und in welchem Maße der Bewerber dieses Kriterium erfüllt. Ob ein Bewerber ein Anforderungsprofil erfüllt, ist vom Gericht in vollem Umfang überprüfbar (VG Bremen, Beschluss vom 22.10.2013, Az.: 6 V 853/13, Rn. 42).
Vorliegend ergibt sich schon aus der Formulierung im Anforderungsprofil “Was wir erwarten:”, dass es sich um ein zwingendes Merkmal handelt. Lediglich unter der anschließend aufgeführten Rubrik “Wünschenswert sind:” werden Optimierungskriterien bzw. allgemeine Profilmerkmale genannt.
Dass der Beklagte offenbar selbst davon ausgegangen ist, dass die langjährigen praktischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Erneuerung und Instandhaltung von Straßen und Radwegen ein konstitutives Merkmal darstellt, zeigt die vom Beklagten als Anlage B10 vorgelegte Bewerberübersicht (Bl. 71 d.A.). Darin wurden neben der Qualifikation auch die langjährige praktische Erfahrung auf dem Gebiet der Erneuerung und Instandsetzung von Straßen und Radwegen oder in der Planung und/oder Baudurchführung von Straßen und Radwegen aufgeführt. Diese Bewerberübersicht war Grundlage für die Entscheidung der Einladung der Bewerber. Auch im Schreiben der Personalabteilung gegenüber dem Personalratsvorsitzenden vom 14.04.2020 (Bl. 81 d.A.) wurde nicht in Frage gestellt, dass dieses Merkmal unabdingbar sei.
Der Mitbewerber Herr H. erfüllt dieses Merkmal nicht.
Eine praktische Erfahrung ist erst dann “langjährig”, wenn mindestens drei Jahre lang eine praktische Erfahrung gewonnen werden konnte (BAG, Urteil vom 25.05.1988, Az. 4 AZR 790/87; BAG, Urteil vom 22.04.2009, Az.: 4 AZR 163/08).
Sofern der Beklagte nunmehr meint, für eine langjährige Berufserfahrung seien nicht mindestens drei Jahre von Nöten, hätte er dies im Anforderungsprofil konkret in Jahren bezeichnen müssen. Dies ist nicht erfolgt.
Der Beklagte ging im Bewerbungsverfahren offensichtlich selbst davon aus, dass eine langjährige praktische Erfahrung des Mitbewerbers nur durch die Tätigkeit bei der D. erreicht ist. Dies ergibt sich zum einen aus der von ihm selbst erstellten Bewerberübersicht. Darin wurde das Merkmal nur durch die aktuelle Tätigkeit bei der Beklagten i.V.m. der Tätigkeit bei der D. als erfüllt angesehen. Auch aus der Mitteilung des Referatsleiters, Herrn J., an die Personalsachbearbeiterin, Frau V., ist zu entnehmen, dass die noch erforderlichen sieben Monate durch Anerkennung der Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Tiefbau bei der DB AG, welchem in beiden Bereichen (Bahn-Straße) eine grundlegende Bedeutung zukomme, erreicht werden.
Eine langjährige praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Erneuerung und Instandhaltung von Straßen und Radwegen oder in der Planung und/oder der Baudurchführung von Straßen und Radwegen hat der Mitbewerber Herr H. nicht. Davon geht der Beklagte selbst aus. Allerdings meint er zu Unrecht, dass die Tätigkeit bei der DB AG und des dort gleich gelagerten Tätigkeitsfeldes auf dem Gebiet der Planung und Baudurchführung gleichzustellen sei.
Das vom Beklagten klar formulierte Anforderungsprofil lässt eine Gleichstellung nicht zu. Eine Vergleichbarkeit der Tätigkeiten im Sinne einer “entsprechenden Tätigkeit” wie sie z. B. in § 16 TV-L formuliert ist, kommt daher nicht in Betracht.
Dem Beklagtenvortrag ist zudem nicht zu entnehmen, ob und inwieweit und in welchem Umfang der Mitbewerber im Rahmen seiner Tätigkeit für die D. mit der Planung und Baudurchführung von Straßen und Radwegen befasst war. Ausweislich der Mitschriften des Referatsleiters während der Bewerbungsgespräche (Anlage B5, Bl. 60 ff. d.A.) geht der Mitbewerber Herr H. offenbar selbst davon aus, dass ihm Erfahrungen im Straßenbau noch fehlen. So hat der Referatsleiter unter Punkt 6.3 “Wo sehen Sie ggf. noch Defizite und wie würden Sie diese beseitigen?” bei dem Mitbewerber Herrn H. notiert “Erfahrung im Straßenbau fehle hier. Kommt mit der Zeit.“
Der Beklagte hätte mangels Vorliegen des konstitutiven Merkmals bei Mitbewerber Herrn H. diesen nicht weiter in das Bewerbungsverfahren einbeziehen dürfen. Die Auswahlentscheidung erweist sich somit als rechtsfehlerhaft. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob auch im Übrigen eine fehlerhafte Beurteilung erfolgte. Allerdings weist die Kammer darauf hin, dass die Auswahlerwägungen nicht in der gebotenen Weise schriftlich dokumentiert worden sind.
Die Auswahlbehörde ist verpflichtet, die wesentlichen Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen. Erst eine derartige Dokumentation eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, die angegriffene Entscheidung eigenständig nachzuvollziehen. Soweit eine Auswahl-entscheidung maßgeblich auf Tests sowie Eindrücke einer Selbstpräsentation und eines Vorstellungsgespräches gestützt wird, muss sie daraufhin überprüft werden können, ob die Auswahlbehörde von zutreffenden Rechtsbegriffen ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe sowie Verwaltungsvorschriften beachtet und keine sachwidrigen Erwägungen angestellt hat. Dies erfordert kein detailliertes Protokoll, insbesondere kein Wortprotokoll der Gespräche. Vielmehr reicht es aus, wenn die Aufgaben sowie die an den Stellenbewerber gerichteten Fragen und die besprochenen Themen, die Antworten der Bewerber, die Bewertung dieser Antworten durch die Auswahlkommission sowie der persönliche Eindruck von den Bewerbern zumindest in Grundzügen festgehalten werden (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.04.2020, Az.: 4 S 63/19, Rn. 4 m.w.N.).
Die vorliegende handschriftliche Dokumentation genügt nicht diesem Dokumentationsgebot. Vor allem die Mitschriften des Referatsleiters sind teilweise nicht lesbar. Die Antworten der Bewerber auf die Fragen können damit bereits nicht nachvollzogen werden.
Auch ist nicht nachvollziehbar, in welchem Umfang die Bewerber geantwortet haben, da nur einzelne Worte oder Wortgruppen festgehalten wurden. Gerade der Umfang war allerdings für die Auswahlentscheidung des Beklagten maßgeblich. Andererseits erschließt sich der Kammer nicht, weshalb bei gerade bautechnischen Fachfragen, Definitionsabfragen und dergleichen kurze prägnante Antworten weniger wert sind, als möglicherweise wortreiche Erklärungen. Überdies ist nicht klar, welche Fachfragen als besonders wichtig und entscheidend gewertet wurden. So ist z. B. aufgefallen, dass der Mitbewerber Herr H. unter der Frage 1.3 offenbar keine Antwort wusste. Gleichwohl wurde in der Begründung der Auswahlentscheidung geurteilt, dass dieser die Fachfragen in guter Qualität beantworten konnte. Das Dokumentationsgebot verlangt hier eine entsprechende Wichtung der Fragen und eine nachvollziehbare Darlegung, in welchem Umfang welche Fragen beantwortet wurden. Eine entsprechende Matrix, die z. B. die maximal zu erreichende Punktzahl vorgibt, würde eine nachvollziehbare Bewertung ermöglichen. Insoweit ist auch wegen des Verstoßes gegen das Dokumentationsgebot von einer Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs des Klägers auszugehen.
Ein abgelehnter Bewerber kann eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung zumindest dann beanspruchen, wenn seine Erfolgsaussichten bei der erneuten Auswahl offen sind, seine Auswahl also als möglich erscheint (Thüringer LAG, Urteil vom 06.04.2021, Az.: 15 SAGa1/21 mit Verweis auf LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.03.2012, Az.: 15 SaGa 2383/11).
Vorliegend sind die Erfolgsaussichten des Klägers bezüglich seiner Bewerbung als offen zu bewerten. Der weitere vorgereihte Bewerber, Herr H., hat unter Umständen kein Interesse mehr an der ausgeschriebenen Stelle. Die ist jedoch zum Zeitpunkt der Entscheidung der erkennenden Kammer offen. Demnach war dem Hilfsantrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 ZPO. Der Kläger unterliegt hier mit dem Hauptantrag.
Für den Streitwert wurde das durchschnittliche Bruttomonatsgehalt des Klägers in Höhe von 5.581,59 EUR zugrunde gelegt. Der Hauptantrag wurde mit drei Bruttomonatsgehältern und der Hilfsantrag mit zwei Bruttomonatsgehältern berücksichtigt.


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