Arbeitsrecht

Stattgebender Kammerbeschluss: Keine Erhebung von Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung auf Kapitalleistungen aus einer Lebensversicherung, bei welcher der Versicherte nach Beendigung seiner Erwerbstätigkeit in die Stellung als Versicherungsnehmer einrückte – hier: Verletzung von Art 3 Abs 1 GG durch Beitragserhebung auch auf jenen Teil der Versicherungsleistung, der auf Beiträgen des Betroffenen als Versicherungsnehmer beruhte

Aktenzeichen  1 BvR 2123/08

Datum:
14.4.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2011:rk20110414.1bvr212308
Normen:
Art 3 Abs 1 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 229 Abs 1 S 1 Nr 5 SGB 5
Spruchkörper:
1. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend BSG, 1. Juli 2008, Az: B 12 KR 4/08 B, Beschluss

Tenor

1. Der Beschluss des Bundessozialgerichts vom 1. Juli 2008 – B 12 KR 4/08 B – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz. Der Beschluss wird aufgehoben. Das Verfahren wird an das Bundessozialgericht zurückverwiesen.
2. …

Gründe

I.
1
Der gesetzlich krankenversicherte Beschwerdeführer wird nach § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V zu Beiträgen auf eine zum 1.
Mai 2006 fällige Kapitalleistung aus einer Lebensversicherung in Höhe von 72.774,40 € herangezogen.

2
Ein früherer Arbeitgeber hatte zu Gunsten des Beschwerdeführers als Versicherten eine Kapitallebensversicherung abgeschlossen
und diese in den Jahren 1984 bis 1989 finanziert. Nach einem Arbeitgeberwechsel übernahm der neue Arbeitgeber die Versicherungsnehmerstellung
und die Zahlungen für ein weiteres Jahr bis Ende 1990. Schon Ende Juni 1990 schied der Beschwerdeführer allerdings bei diesem
Arbeitgeber wieder aus. Zum 1. Juli 1990 trat der Beschwerdeführer in die Versicherungsnehmerstellung des Lebensversicherungsvertrages
ein und finanzierte den nunmehr auf ihn laufenden Vertrag ab 1. Januar 1991 selbst.

3
Von der Kapitalleistung in Höhe von 72.774,40 € wurde ein Betrag von 24.262,78 € aus Zahlungen der Arbeitgeber (Beiträge plus
anteilige Überschussbeteiligung) erwirtschaftet, der Rest, also 48.511,62 €, aus Einzahlungen des Beschwerdeführers als Versicherungsnehmer
ab 1. Januar 1991 selbst (Beiträge plus anteilige Überschussbeteiligung). Widerspruch und Klageverfahren des Beschwerdeführers
gegen die Beitragserhebung der Krankenkasse auf die volle Auszahlungssumme blieben erfolglos. Zuletzt verwarf das Bundessozialgericht
die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 1. Juli 2008 als unzulässig.

II.
4
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a
Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.

5
1. Die vom Bundessozialgericht bei der Auslegung von § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V vorgenommene Typisierung ist mit Art.
3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit sie dazu führt, dass Zahlungen aus Beiträgen, die der Versicherte nach Ende seines Arbeitsverhältnisses
auf einen auf ihn als Versicherungsnehmer laufenden Kapitallebensversicherungsvertrag eingezahlt hat, als betriebliche Altersversorgung
zu Beiträgen zur Krankenversicherung der Rentner herangezogen werden, obwohl der Gesetzgeber Erträge aus privaten Lebensversicherungen
pflichtversicherter Rentner keiner Beitragspflicht unterwirft.

6
Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 28. September 2010 – 1 BvR 1660/08 -, juris festgestellt hat, überschreitet
das Bundessozialgericht, soweit es auch Kapitalleistungen, die auf Beiträgen beruhen, die ein Arbeitnehmer nach Beendigung
seiner Erwerbstätigkeit auf den Lebensversicherungsvertrag unter Einrücken in die Stellung des Versicherungsnehmers eingezahlt
hat, der Beitragspflicht nach § 229 SGB V unterwirft, die Grenzen zulässiger Typisierung, weil sie sich dann nicht mehr von
Leistungen aus privaten Lebensversicherungen von Arbeitnehmern unterscheiden, welche nicht der Beitragspflicht unterliegen.
Der Gesetzgeber unterwirft Erträge aus privaten Lebensversicherungen bei pflichtversicherten Rentnern keiner Beitragspflicht.
Zu dieser gesetzgeberischen Grundsatzentscheidung setzt sich eine Rechtsprechung in Widerspruch, die Einzahlungen auf private
Lebensversicherungsverträge allein deshalb der Beitragspflicht Pflichtversicherter unterwirft, weil die Verträge ursprünglich
vom Arbeitgeber des Bezugsberechtigten abgeschlossen wurden und damit dem Regelwerk des Betriebsrentenrechts unterlagen, obwohl
sie danach vollständig aus dem betrieblichen Bezug gelöst worden und ohne Probleme in einen betrieblichen und einen privaten
Teil bei der Auszahlung zu trennen sind. Auf die Einzahlungen des Bezugsberechtigten auf einen von ihm als Versicherungsnehmer
fortgeführten Kapitallebensversicherungsvertrag finden hinsichtlich der von ihm nach Vertragsübernahme eingezahlten Beiträge
keine Bestimmungen des Betriebsrentenrechts mehr Anwendung.

7
Vorliegend beruht nur ein Teil der als Kapitalbetrag ausgezahlten Versicherungsleistung in Höhe von 72.774,40 € auf Einzahlungen
der Arbeitgeber. 48.511,62 € sind dagegen aus Einzahlungen des Beschwerdeführers als Versicherungsnehmer ab 1. Januar 1991
plus der anteiligen Überschussbeteiligung erwirtschaftet. Insoweit auch dieser vom Beschwerdeführer als Versicherungsnehmer
finanzierte Anteil der Kapitalleistung der Beitragspflicht nach § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V unterworfen wird, liegt ein
Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Im Übrigen wird auf die Gründe des Beschlusses vom 28. September 2010 – 1 BvR 1660/08
-, juris verwiesen.

8
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

9
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

10
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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