Arbeitsrecht

Tarifliche Altersfreizeit – Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter

Aktenzeichen  9 AZR 71/19

Datum:
22.10.2019
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BAG:2019:221019.U.9AZR71.19.0
Normen:
Anh Rahmenvereinbarung § 4 Nr 2 EGRL 81/97
§ 4 Abs 1 S 2 TzBfG
Art 9 Abs 3 GG
Art 28 EUGrdRCh
§ 134 BGB
§ 4 Abs 1 S 1 TzBfG
Anh Rahmenvereinbarung § 4 Nr 1 EGRL 81/97
§ 1 TVG
Spruchkörper:
9. Senat

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Solingen, 1. Juni 2018, Az: 4 Ca 233/18 lev, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 23. Januar 2019, Az: 12 Sa 615/18, Urteil

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 23. Januar 2019 – 12 Sa 615/18 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wöchentlich eine bezahlte tarifliche Altersfreizeit von zwei Stunden zu gewähren.
2
Der am 19. Dezember 1960 geborene Kläger ist bei der Beklagten mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie e.V. und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie geschlossene Manteltarifvertrag vom 24. Juni 1992 in der Fassung vom 17. Mai 2017, seit 1. Oktober 2018 in der Fassung vom 20. September 2018 (im Folgenden MTV) Anwendung.
3
Der MTV regelt ua.:
        
„§ 2   
        
Regelmäßige Arbeitszeit
        
I.    
        
Dauer und Verteilung der Arbeitszeit
        
1.    
Die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit an Werktagen beträgt ausschließlich der Pausen 37,5 Stunden. …
        
3.    
Für einzelne Arbeitnehmergruppen oder mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien für größere Betriebsteile oder ganze Betriebe kann im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat abweichend von der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit eine bis zu zweieinhalb Stunden längere oder kürzere regelmäßige Arbeitszeit festgelegt werden. Die Arbeitnehmer haben Anspruch auf eine der vereinbarten Arbeitszeit entsprechende Bezahlung.
        
…       
        
        
§ 2a   
        
Altersfreizeiten
        
1.    
Arbeitnehmer, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, erhalten eine zweieinhalbstündige Altersfreizeit je Woche.
        
        
Soweit für Arbeitnehmer aufgrund einer Regelung nach § 2 I Ziffer 3 oder einer Einzelvereinbarung oder aufgrund von Kurzarbeit eine um bis zu zweieinhalb Stunden kürzere wöchentliche Arbeitszeit als die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gilt, vermindert sich die Altersfreizeit entsprechend. Liegt die Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der tariflichen Arbeitszeit, entfällt die Altersfreizeit.
        
2.    
Die Lage der Altersfreizeiten kann zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat unter Beachtung des § 76 Absatz 6 BetrVG vereinbart werden. Vorrangig sollen Altersfreizeiten am Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag gewährt werden.
        
        
Ist aus Gründen des Arbeitsablaufs eine Zusammenfassung der Altersfreizeiten zu freien Tagen erforderlich, können sich die Betriebsparteien hierauf einigen.
        
        
Einigen sich Arbeitgeber und Betriebsrat nicht, so fallen die Altersfreizeiten auf den Mittwochnachmittag.
        
…       
        
        
5.    
Für die Arbeitszeit, die infolge einer Altersfreizeit ausfällt, wird das Entgelt fortgezahlt, das der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn er gearbeitet hätte, einschließlich der Schichtzulagen, jedoch ohne Erschwerniszulagen und ohne die Zuschläge nach § 4 I.
        
6.    
Die Altersfreizeit entfällt, wenn der Arbeitnehmer am gleichen Tag aus einem anderen Grund, insbesondere wegen Urlaub, Krankheit, Feiertag oder Freistellung von der Arbeit nicht arbeitet. Macht der Arbeitnehmer von einer Altersfreizeit keinen Gebrauch, so ist eine Nachgewährung ausgeschlossen.
        
        
Wird auf Verlangen des Arbeitgebers eine Altersfreizeit aus dringenden betrieblichen Gründen nicht am vorgesehenen Tag gegeben, so ist sie innerhalb von drei Monaten nachzugewähren.“
4
Mit seiner der Beklagten am Freitag, dem 2. März 2018, zugestellten Klage hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von zwei Stunden Altersfreizeit je Woche ab Rechtshängigkeit der Klage begehrt. In der Berufungsinstanz hat er diesen Antrag nur noch als Hilfsantrag weiterverfolgt und als Hauptantrag einen Feststellungsantrag gestellt.
5
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe trotz seiner Teilzeittätigkeit ein Anspruch auf Altersfreizeit zu. § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV verletze das Benachteiligungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG und sei deshalb unwirksam. Die Tarifvertragsparteien hätten ihre Einschätzungsprärogative überschritten, weil die Differenzierung zwischen Voll- und Teilzeitkräften in § 2a Ziffer 1 MTV nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt sei. Er könne im Wege einer „Anpassung nach oben“ die Gewährung von Altersfreizeit in einem seiner regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit entsprechenden Umfang verlangen.
6
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
        
1.    
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm ab Montag, dem 5. März 2018 zwei Stunden Altersfreizeit je Woche gemäß § 2a Ziffer 1 des Manteltarifvertrags des Bundesarbeitgeberverbands Chemie e.V. und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie vom 24. Juni 1992 zu gewähren und zwar unter Berücksichtigung von Urlaub, Krankheit, Feiertag oder Freistellung gemäß § 2a Ziffer 6,
        
2.    
hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, ihm zwei Stunden Altersfreizeit je Woche ab Rechtshängigkeit zu gewähren.
7
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte würden nach § 2a Ziffer 1 MTV nicht ungleich behandelt, weil auch Teilzeitbeschäftigte mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mehr als 35 Stunden Altersfreizeit zustehe und Vollzeitbeschäftigte von der Altersfreizeit ausgeschlossen seien, wenn ihre Arbeitszeit nach § 2 I Ziffer 3 auf 35 Stunden oder weniger reduziert werde. Jedenfalls sei die Differenzierung zwischen Voll- und Teilzeitkräften sachlich gerechtfertigt. Art. 9 Abs. 3 GG räume den Tarifvertragsparteien ebenso wie Art. 28 GRC das Recht ein, den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen und im Rahmen dieser Zweckbestimmung die zu regelnden Sachverhalte umfassend selbst zu ermitteln und zu bewerten. Die Altersfreizeit trage dem erhöhten Erholungsbedürfnis älterer Arbeitnehmer Rechnung und diene deren Entlastung. Die Festlegung des Schwellenwerts von 35 Wochenarbeitsstunden in § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV sei von der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien umfasst. Sie beruhe auf der Annahme, dass die Belastung älterer Arbeitnehmer, deren regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit bereits auf 35 Stunden und weniger herabgesetzt sei, in einem Umfang reduziert sei, der den Ausschluss von der Gewährung der Altersfreizeit rechtfertige.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und dem Hauptantrag stattgegeben. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.


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