Handels- und Gesellschaftsrecht

5 HK O 15710/20

Aktenzeichen  5 HK O 15710/20

Datum:
5.5.2022
Fundstelle:
ZIP – 2022, 1052
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Soweit die Fehlerhaftigkeit eines Jahresabschlusses die Insolvenzmasse betrifft, hat der Insolvenzverwalter die Interessen der insolventen Gesellschaft gegenüber den Insolvenzgläubigern zu wahren. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass der Jahresabschluss der Beklagten zum 31.12.2017 nichtig ist.
II. Es wird festgestellt, dass der Jahresabschluss der Beklagten zum 31.12.2018 nichtig ist.
III. Es wird festgestellt, dass der in der ordentlichen Hauptversammlung der Beklagten vom 21.6.2018 unter Punkt 2 der Tagesordnung gefasste Gewinnverwendungsbeschluss nichtig ist.
IV. Es wird festgestellt, dass der in der ordentlichen Hauptversammlung der Beklagten vom 18.6.2019 unter Punkt 2 der Tagesordnung gefasste Gewinnverwendungsbeschluss nichtig ist.
V. Die Beklagte sowie der dem Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten beigetretene Streithelfer tragen die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der dem Rechtsstreit auf Seiten des Klägers beigetretenen Nebenintervenienten zu 1) bis 3) zu gleichen Teilen.
VI. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 105% des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
VII. Der Streitwert wird im Verhältnis des Nebenintervenienten zu 1) zur Beklagten und dem den Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten beigetretenen Streithelfers auf € 1.000.000,–, im Übrigen auf € 1.500.000,– festgesetzt.

Gründe

I. Die auf Feststellung der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse der Beklagten zum 31.12.2017 und zum 31.12.2018 gerichteten Klagen sind zulässig und begründet.
1. Die Klage ist als Nichtigkeitsfeststellungsklage jeweils nach §§ 256 Abs. 7 Satz 1, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG zulässig, wobei insbesondere die Klagebefugnis des Klägers als Insolvenzverwalter bejaht werden muss. Dies erfolgt aus der Rechtstellung des Insolvenzverwalters, der für die Rechtmäßigkeit des Korporationshandelns zu sorgen hat. Die Nichtigkeitsklage des § 256 Abs. 7 AktG dient zunächst der Rechtskontrolle an einem zutreffenden Jahresabschluss, nicht der Durchsetzung persönlicher Vorteile. Im Rahmen seines Aufgabenbereichs übernimmt der Insolvenzverwalter auch die grundsätzlich dem Vorstand obliegende Rechtskontrolle. Zu den Pflichten des Insolvenzverwalters gehört es, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu bewahren und ordnungsgemäß zu verwalten. Daher hat sich diese Pflicht am Leitbild des ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters auszurichten, das an die handels- und gesellschaftsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen angelehnt ist, wie sie sich vor allem aus §§ 347 Abs. 1 HGB, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, 43 Abs. 1 GmbHG und 34 Abs. 1 Satz 1 GenG ergeben. Folglich ist der Insolvenzverwalter auch verpflichtet, die rechtlichen Pflichten und Vorgaben der Rechtsordnung wie ein Gesellschaftsorgan einzuhalten, soweit ein Bezug zur Insolvenzmasse besteht. Da die Rechtstellung des Insolvenzverwalters die Aufgabe beinhaltet, die Interessen der insolventen Gesellschaft gegenüber sämtlichen Gläubigern und Schuldnern zu vertreten, muss er zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage befugt sein, soweit die Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses die Insolvenzmasse betrifft. Vorliegend haben die beanstandeten Mängel des Jahresabschlusses nachteilige Auswirkungen auf die Insolvenzmasse; der Wegfall des Jahresabschluss infolge der Nichtigkeit muss vorliegend als für die Masse günstig bezeichnet werden (vgl. BGHZ 225, 198, 204 ff. = ZIP 2020, 1064, 1065 = WM 2020, 1256, 1257 f.; AG 2020, 540 f. = ZIP 2020, 1118 f. = WM 2020, 1263, 1264 f. = NZI 2020, 739, 740 f.; Vatter in: BeckOGK AktG, Stand: 1.2.2022, § 245 Rdn. 53; …sen in: BeckOGK AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 83; Koch, AktG., 16. Aufl., § 256 Rdn. 31; Schulz in: Bürgers/Körber/Lieder AktG, 5. Aufl., § 256 Rdn. 20; Bezzenberger in: Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 256, Rdn. 227 a; Waclawik in: Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 256 Rdn. 38). Aufgrund einer Überbewertung wäre es nicht ausgeschlossen, dass für die Beklagte für die Geschäftsjahre 2017 und 2018 überhöhte steuerrechtliche Verbindlichkeiten ausgewiesen wurden, was im Falle der Nichtigkeit unter Beachtung der Vorgaben aus der Abgabenordnung zu Rückforderungsansprüchen in Zusammenhang mit überzahlten Gewerbe- und Körperschaftsteuerforderungen oder zum Wegfall direkter Steuerschulden führen könnte. Ebenso ist nicht auszuschließen, dass dem Kläger Rückforderungsansprüche hinsichtlich der gezahlten Dividenden aus § 62 Abs. 1 AktG zustehen könnte. Angesichts dessen muss die Kammer nicht entscheiden, ob der weitergehenden Ansicht von Teilen der Literatur (vgl. Heidel in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl., § 256 Rdn. 41; Schwab in: Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl., § 256 Rdn. 40), die eine generelle Klagebefugnis des Insolvenzverwalters für die auf § 256 Abs. 7 AktG gestützte Nichtigkeitsfeststellungsklage bejahen wollen, zu folgen wäre.
2. Die Klage ist begründet, weil die Jahresabschlüsse der Beklagten aufgrund von § 256 AktG nichtig sind, ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommen kann, ob die Treuhandkonten, auf denen Zahlungen aus den TPA-Geschäften eingingen, tatsächlich nicht existierten oder ob die entsprechenden Gelder veruntreut oder auf anderen Konten der Beklagten vorhanden waren. Eine Beweisaufnahme ist daher nicht erforderlich.
a. Unter Zugrundelegung des Vortrags des Klägers resultiert die Nichtigkeit aus einem Verstoß gegen § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AktG. Danach ist wegen Verstoßes gegen Bewertungsvorschriften ein Jahresabschluss nichtig, wenn Posten überbewertet sind. Dies ist dann der Fall, wenn Aktivposten mit einem höheren Wert angesetzt sind als nach §§ 253 bis 256 a HGB zulässig. Die vom Kläger reklamierte Nichtexistenz der TPA-Geschäfte wie auch der Treuhandguthaben hat auf der Ebene der Beklagten Auswirkungen auf die aktivierten liquiden Mittel, die Beteiligungsbuchwerte sowie die Forderungen gegen die betroffenen unmittelbaren und mittelbaren Tochtergesellschaften, nachdem die betroffenen Treuhandkonten und Forderungen bei der Beklagten sowie direkten Tochtergesellschaften W1. T. GmbH Deutschland und C… S… FZ-LLC sowie der mittelbaren Tochtergesellschaft W… U… I… Ltd. im Wesentlichen gebucht wurden.
(1) Sind die angesetzten Guthaben auf den Treuhandkonten zumindest weitgehend nicht existent, so führt dies zu einer deutlichen Überbewertung der Aktiva in den Jahresabschlüssen der Beklagten zum 31.12.2017 und 31.12.2018, nachdem in der Bilanz zum 31.12.2017 Treuhandkonten für die Beklagte von € 84,7 Mio., bei der W… S1. I. GmbH von € 20 Mio. bei der C… S…s von € 340,4 Mio, bei der W… U… I… Ltd. von € 327,5 Mio. sowie bei der W… E… P… von € 1,7 neben TPA-Forderungen der W1. T. GmbH von € 209,3 Mio., der C… S…s von € 39,5 Mio., der W… U… I… Ltd. von € 7,6 Mio. und der W… (G…) Ltd. von € 6,6 Mio. ausgewiesen waren. Zum 31.12.2018 beliefen sich die Treuhandkonten nach dem Ausweis in der Bilanz für die Beklagte auf € 84,7 Mio., für die W1. T. GmbH auf € 105 Mio., die W… S1. I. GmbH auf € 20 Mio., für die C… S…s auf € 570,8 Mio. und für die W… U… I… Ltd. auf € 305,5 Mio. Die TPA-Forderungen waren in den Abschlüssen mit € 265,6 Mio. gegen die W1. T. GmbH, mit € 208,3 Mio. gegen die C… S…s, mit € 2,8 Mio. gegen die W… U… I… Ltd., mit € 9,9 Mio. gegen die W… Si… Pte. Ltd., mit € 0,1 Mio. gegen die W1. Bank AG sowie mit € 6,6 Mio. gegen die W… (G…) Ltd. ausgewiesen.
(2) Ohne dass dies abschließend entschieden werden müsste, geht die Kammer davon aus, dass massive Gründe für die Richtigkeit des Vortrags des Klägers sprechen, diese Treuhandguthaben hätten nie oder zumindest in keinem nennenswerten Umfang existiert. Dies zeigen die vom Kläger vorgelegten Auszüge der O… Auf den Konten bei dieser Bank waren in der Summe umgerechnet etwa € 1,5 Mio. bzw. € 2,1 Mio. vorhanden. Die Konten … und …, auf denen sich ausweislich der Bestätigung von C… € 141,4 Mio. bzw. € 194 Mio. für C. S.s befinden sollten, existierten nach der Bescheinigung der O. zum 31.12.2017 ebenso wenig wie die Konten … und … für die Beklagte mit Salden von € 30 Mio. und € 20 Mio. Das Konto … für die W… U… I… Ltd. wies einen Bestand von SGD 2.956.932,49 auf, während es laut Saldenbestätigung € 305,5 Mio. – also mehr als das 100-Fache – hätte aufweisen sollen. Für die drei Konten …, …, … mit Beständen von € 2.799,07, € 2.679,56 und USD 30.125,39 gab es keine Saldenbestätigungen. Die beiden Konten für die C. S.s sowie … für die W. T., für die es Saldenbestätigungen über € 317,2 Mio., € 245,6 Mio. und € 105 Mio. gab, waren zum 31.12.2018 nach der Auskunft von O… nicht existent.
An der Richtigkeit der Feststellungen von O., die von deren Anwälten am 28.10.2021 dem Kläger übermittelt wurden, werden keine ernsthaften Zweifel bestehen. Der O. war vom High Court of the Republic of Singapore aufgegeben worden, Kontoauszüge der fraglichen Treuhandkonten seit 2015, Korrespondenz mit C. oder E., Dokumente zur Kontoeröffnung und Kontoauszüge der bekannten Konten seit 2015 sowie alle Unterlagen auch zu etwaigen unbekannten Konten des Treuhänders C. vorzulegen. Wenn ein international tätiges Kreditinstitut wie die O… von einem Gericht zu einer umfassenden Auskunft aufgefordert wird, wird ohne weitere konkrete Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden können, dass dieser Aufforderung nicht korrekt nachgekommen wird und unzutreffende Angaben gemacht werden könnten. Bei einem im internationalen Wettbewerb befindlichen Bankhaus könnte eine gegenteilige Vorgehensweise durchaus mit einem Reputationsverlust verbunden sein und gegebenenfalls auch zu Maßnahmen der Bankenaufsicht der Republik Singapur führen. Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Auskunft zu den einzelnen Konten konnte auch der Streithelfer nicht konkret geltend machen.
Für die Tatsache, dass die Treuhandkonten für das TPA-Geschäft tatsächlich bei der O… geführt wurden, spricht auch der Vortrag des Streithelfers wie auch weiterer ehemaliger Vorstandsmitglieder der Beklagten in gegen sie gerichteten Zivilverfahren. Sowohl E… als auch der frühere Finanzvorstand Al. Kn. bestätigten in Schriftsätzen gegenüber dem Landgericht München I in dem dort geführten Verfahren 3 O 5875/20, dass die O… als Treuhandbank fungierte, später die BDO und BPI, wobei Herr Kn… dies noch dahingehend präzisiert hatte, dass als Treuhänder bis Ende 2019 C… fungierte und die Treuhandkonten (Escrow Accounts) bei der O… auch bis zum 31.12.2018 geführt wurden. Der Vortrag auch des Streithelfers in diesem Zivilverfahren spricht ganz wesentlich dafür, dass die Treuhandkonten tatsächlich bei der O… geführt wurden. Zwar ist eine Partei nicht gehindert, ihr Vorbringen im Verlaufe des Prozesses zu verändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen, wozu beispielsweise die Prozessentwicklung Anlass geben kann, wenn bisher beiläufig vorgetragenes präzisiert wird. Hat allerdings eine Partei im Laufe des Prozesses ihr Vorbringen geändert, so kann dies im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen. Dasselbe kann für die Bewertung streitigen Vorbringens einer Partei in einem Rechtsstreit gelten, wenn diese in einem Vorprozess abweichend vorgetragen hat (vgl. BGH, GRUR 2016, 705, 708 = WRP 2016, 869, 872; Greger in: Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 286 Rdn. 14). Von einer solchen Situation muss hier ausgegangen werden. Der Streithelfer passte seinen Vortrag hier einer neuen prozessualen Situation an, in dem er nunmehr darauf verweist, die Treuhandguthaben hätten nicht zwingend bei der O… geführt werden müssen.
Die Saldenbestätigungen der C… stimmen gerade nicht mit dem Kontostand der bei der O. geführten Konten überein, soweit diese Konten bei der O… auch in den Saldenbestätigungen genannt werden. Auch dies deutet darauf hin, dass die Treuhandguthaben tatsächlich nicht existierten.
Soweit sich der Streithelfer auf Zahlungseingänge in Höhe von € 964 Mio. im Zeitraum von 2015 bis 2020 von TPA-Partnern auf den inländischen Konten der Beklagten beruft, muss davon ausgegangen werden, dass diese Zahlungen nichts mit den Zahlungen zu tun haben, die auf Treuhandguthaben eingegangen sein sollen. Zudem hat der Kläger unwidersprochen vorgetragen, dass zum 31.12.2017 und 31.12.2018 auf diesen Konten lediglich Guthaben von € 11,75 Mio. bzw. € 9,18 Mio. existierten. Angesichts der Gesamtsumme der inmitten stehenden Treuhandguthaben entsprechend den Saldenbestätigungen über € 712,9 Mio. bzw. € 1.026,3 Mio. wären diese Salden ohnehin nicht geeignet, die Nichtigkeit der beiden Jahresabschlüsse infrage zu stellen.
b. Auch unter Zugrundelegung des Vortrags vor allem des Streithelfers muss davon ausgegangen werden, dass die Jahresabschlüsse zum 31.12.2017 und zum 31.12.2018 nichtig sind.
(1) Dies gilt namentlich dann, wenn Herr H1. M1. – gegebenenfalls im Zusammenwirken mit Dritten – die Gelder vor der Feststellung des jeweiligen Jahresabschlusses durch Vorstand und Aufsichtsrat veruntreut haben sollte und sich die Gelder dann nicht mehr auf Konten der Beklagten befunden haben sollten. In dieser Situation wären die Guthaben nicht mehr auf der Beklagten zuzurechnenden Konten verbucht, weshalb die Aktiva in gleicher Weise überbewertet wären wie in der oben beschriebenen Situation, dass es die Treuhandguthaben nicht oder nur in einem geringen Umfang gegeben haben soll.
(2) Aber auch wenn man den Vortrag des Streithelfers zur Grundlage der rechtlichen Beurteilung macht, die Treuhandguthaben hätten sich auf anderen Konten als denen der O… befunden, muss von einer Nichtigkeit der Jahresabschlüsse zum 31.12.2017 und 31.12.2018 ausgegangen werden. In dieser Situation resultiert die Nichtigkeit aus § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG, wonach ein festgestellter Jahresabschluss nichtig ist, wenn er durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutze der Gläubiger der Gesellschaft gegeben sind. Vorliegend liegt nämlich auch nach dem Vortrag des Streithelfers ein Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung im Sinne der §§ 238 Abs. 1 Satz 1, 264 Abs. 2 S. 1 AktG vor, denen aufgrund der Aufnahme in §§ 238 Abs. 1 Satz 1, 264 Abs. 2 Satz 1 HGB Gesetzesqualität zukommt und die insbesondere dem Gläubigerschutz dienen (vgl. BGHZ 124, 111, 117 = NJW 1994, 520, 521 = AG 1994, 124, 125 = ZIP 1993, 1862, 1864 = DNotZ 1994, 619, 621; Koch in: Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 256 Rdn. 12; Bezzenberger in: Großkommentar zum AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 48; Schwab in: Schmidt/Lutter AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 7; …sen in: BeckOGK AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 23; Heidel in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, a.a.O., § 256 Rdn. 11; E. Vetter in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., § 256 Rdn. 6). Unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung hat der Jahresabschluss einer Kapitalgesellschaft aufgrund von § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft zu vermitteln. Hiervon kann nicht ausgegangen werden; die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung wurden verletzt, auch wenn der Vortrag des Streithelfers auf die Existenz der Treuhandguthaben auf anderen Konten als Maßstab angelegt wird. Die Buchführung muss nämlich gem. § 238 Abs. 2 HGB so beschaffen sein, dass sie einem sachverständigen Dritten innerhalb angemessener Zeit einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und über die Lage des Unternehmens vermitteln kann. Sie soll die Handelsgeschäfte und die Lage des Vermögens nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung ersichtlich machen. Dabei ist unter Buchführung die laufende, systematische und in Geldgrößen vorgenommene Dokumentation von Geschäftsvorfällen zu verstehen (vgl. Ballwieser in: Münchener Kommentar zum HGB, 4. Aufl., § 238 Rdn. 16), weshalb dann auch die TPA-Geschäfte in ihr dokumentiert werden und demgemäß auch deutlich zu erkennen sein müssen. Nur dann sind die zentralen Grundsätze der Vollständigkeit, Klarheit und Zeitgerechtheit der Aufzeichnungen und die Grundsätze der System- und der Ergebnisdokumentation ableitbar, die als Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung im Sinne der Buchführungstechnik zu beachten sind (vgl. Ballwieser in: Münchener Kommentar zum HGB, a.a.O., § 238 Rdn. 30). Hiergegen wurde vorliegend verstoßen. Anderenfalls hätten sich nämlich die aus den echten oder vermeintlichen TPA-Geschäften resultierenden Zahlungen auf Konten der Gesellschaft finden lassen müssen. Wenn die Treuhandguthaben auf anderen Konten der Gesellschaft verbucht werden, hätten sie vom Insolvenzverwalter und den von ihm eingeschalteten sachkundigen Mitarbeitern auch tatsächlich aufgefunden werden müssen. Da dies nicht geschah, muss von einem Verstoß gegen § 238 Abs. 2 S. 1 HGB ausgegangen werden.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AktG stelle sich im Vergleich zu § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG als lex specialis dar, weshalb sich die Nichtigkeit nicht aus einer Verletzung Gläubiger schützender Vorschriften ergeben könne. Dieser Grundsatz, der ohnehin nicht unumstritten ist, kann nämlich nur dann gelten, wenn die Stoßrichtung gleichgerichtet ist, also die Überbewertung der Aktiva gleichzeitig einen Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung darstellt (so jedenfalls Bezzenberger in: Großkommentar zum AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 4), was hier gerade nicht zu bejahen ist. Die Argumentation des Streithelfers geht allerdings gerade davon aus, eine Überbewertung von Aktiva könne nicht vorliegen, weil die Gelder existent seien. Dann aber liegt ein von § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AktG grundlegend unterschiedlicher Verstoß vor, weshalb sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Nichtigkeitstatbestände vorliegend nicht stellen kann.
c. Der Bewertungsmangel im Sinne des § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AktG muss ebenso wie der Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung als gläubigerschützende Vorschrift im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG als wesentlich angesehen werden.
(1) Die Überbewertung eines Bilanzpostens im Sinne des § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AktG führt dann zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses, wenn eine den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung widersprechende Bilanzierung ihrem Umfang nach nicht bedeutungslos ist.
Das Erfordernis dieses ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals folgt aus dem Rechtsgedanken des § 256 Abs. 4 AktG, der insoweit einen allgemeinen Rechtsgrundsatz für die Folgen von Fehlern bei der Aufstellung des Jahresabschlusses erhält. Durch eine geringfügige Überbewertung wird der Schutzzweck der Norm nicht tangiert (vgl. BGHZ 83, 341, 347 = NJW 1983, 42, 44 = ZIP 1982, 1077, 1080; NZG 2021, 1603, 1608 = AG 2022, 159, 163 = WM 2021, 1692, 1697; OLG H5. AG 1992, 233, 234; OLG Brandenburg GmbHR 1997, 796, 797; LG Frankfurt am Main DB 2001, 1483; LG München I DB 2007, 2306, 2307 = BB 2007, 2510, 2511 = Der Konzern 2007, 537, 538; …sen in: BeckOGK AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 67; A. Arnold in: Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl., § 256 Rdn. 71; Schulz in: Bürgers/Körber/Lieder, AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 17; E. Vetter in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, a.a.O., § 256 Rdn. 20). Aus dem vom Kläger vorgelegten Gutachten ergibt sich die Notwendigkeit einer Abwertung der Aktivposten der Beklagten im Jahresabschluss zum 31.12.2017 von € 743,6 Mio. oder etwa 39% der Bilanzsumme und im Jahresabschluss zum 31.12.2018 von € 972,7 Mio. oder 41% der Bilanzsumme. Bei einer solchen Überbewertung kann kein Zweifel an der Wesentlichkeit bestehen. Diese Feststellungen hat die Beklagte nicht substantiiert bestritten, sondern lediglich darauf verwiesen, die Streitverkündete E… habe gegenüber den Prozesspflegern darauf verwiesen, dass Parteigutachten sei beispielsweise fehlerhaft, als es die möglicherweise bei Tochtergesellschaften nicht vorhandenen Vermögensgegenstände spiegelbildlich unverändert auf die Beteiligungsbuchwerte der Beklagten übertrage, ohne mögliche Gegeneffekte zu berücksichtigen und es von Treuhandguthaben der Beklagten ausgehe, obwohl die Treuhandguthaben zugunsten von Tochtergesellschaften bestanden haben sollen. Die fehlerhafte Bilanzierung bei Tochtergesellschaften wirkt sich jedoch auf die Beteiligungsbuchwerte aus, die dann deutlich überhöht auf der Aktivseite des Jahresabschlusses der Beklagten ausgewiesen wurden. Die Beklagte hat zudem nicht darlegen können, woraus sich eventuelle werthaltige Gegenansprüche der Beklagten ergeben könnten, die zu bilanzieren gewesen wären.
(2) Dieselben Erwägungen gelten, wenn vom Vortrag des Streithelfers auszugehen ist.
(a) Für den Fall der Veruntreuung vor der Feststellung des jeweiligen Jahresabschlusses gelten die soeben gemachten Ausführungen in gleicher Weise, weil auch dann von einer Überbewertung von Aktiva im Sinne des § 256 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AktG auszugehen ist.
(b) Liegt dagegen ein Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung vor, muss gleichfalls die Wesentlichkeit bejaht werden. Dabei kann offen bleiben, ob auf dieses Erfordernis mit einem Teil der Literatur (vgl. Heidel in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, a.a.O., § 256 Rdn. 12) verzichtet werden kann oder ob – wofür die besseren Gründe sprechen dürften – § 256 Abs. 4 AktG ein allgemeines Prinzip zum Ausdruck bringt, dass auf alle in § 256 AktG genannten Inhaltsmängel Anwendung findet (vgl. Jansen in: BeckOGK AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 26; Koch in: Münchener Kommentar zum AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 15; Schwab in: Schmidt/Lutter, AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 7; Bezzenberger in: Groß Kommentar zum AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 52; A. Arnold in: Kölner Kommentar zum AktG, a.a.O., § 256 Rdn. 24). Die Auswirkungen der Verletzung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung sind hier so gravierend, dass Nichtigkeit angenommen werden muss, weil die nicht korrekt erfolgte Buchung zu dem oben genannten Abwertungsbedarf führt.
Angesichts dessen musste die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse zum 31.12.2017 und 31.12.2018 festgestellt werden, ohne dass eine Beweisverfahren durchgeführt werden muss. Die Beweisangebote zur Existenz der Treuhandkonten sind aus den oben genannten Gründen nicht entscheidungserheblich. Der nicht nachgelassene Schriftsatz des Klägers vom 23.03.2022 wurde bei der Entscheidung nicht zu Lasten der Beklagten und ihres Streithelfers verwertet. Sodass auch aus diesem Grund eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß § 156 ZPO nicht veranlasst war.
II. Die auf Feststellung der Nichtigkeit der Beschlüsse der Hauptversammlung der Beklagten vom 21.06.2018 und 18.06.2019 über die Verwendung des Bilanzgewinns gerichtete Klage ist zulässig und begründet.
1. Hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage gelten dieselben Erwägungen, wie sie oben unter I.1. dargestellt wurden. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
2. Die Begründetheit der wiederum gegen die Beklagte zu richtende Klage ergibt sich aus § 253 Abs. 1 Satz 1 AktG. Da die beiden Jahresabschlüsse, auf denen der Beschluss über die Gewinnverwendung jeweils beruht, nichtig sind, sind aufgrund von § 253 Abs. 1 Satz 1 AktG auch die Beschlüsse über die Verwendung des Bilanzgewinns nichtig.
III. 1. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 91 Abs. 1, 100 Abs. 1, 101 Abs. 2 ZPO. Da es sich bei dem Beitritt zu einer Nichtigkeitsfeststellungsklage um eine streitgenössische Nebenintervention handelt und dies auch für den Streithelfer auf Seiten der Beklagten gilt, tragen die Beklagte und der Streithelfer die Kosten des Rechtsstreits als Unterlegene zu gleichen Teilen. Infolge der Rücknahme der Nebenintervention auf Seiten der Beklagten durch die Nebenintervenienten … und … We… kann eine Kostentragungspflicht nicht angenommen werden, weil hierfür auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen ist und der Nebenintervenient in diesem Moment noch als solcher zugelassen sein muss. Dies ist vorliegend indes mit Blick auf die jederzeit mögliche Rücknahme und dem damit verbundenen Rücktritt nicht mehr der Fall (vgl. Goldbeck in: Kern/Diehm, ZPO, 2. Aufl., § 101 Rdn. 4). Nichts anderes kann gelten, sollte entsprechend allgemeiner zivilprozessualer Grundsätze der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich sein, weil die beiden Nebenintervenienten bereits zuvor die Rücknahme der Nebenintervention erklärt hatten.
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 Satz 1 und 2 ZPO.
3. Der Streitwert war aufgrund der Vorschriften der §§ 247 Abs. 1 AktG, 5 ZPO festzusetzen. Angesichts der begehrten Feststellung der Nichtigkeit eines Jahresabschlusses einer vormals im DAX 30 notierten Gesellschaft war der Streitwert für jeden Jahresabschluss auf € 500.000,- und für die Gewinnverwendungsbeschlüsse jeweils auf € 250.000,- festzusetzen. Auch wenn die darauf beruhenden Ansprüche auf Rückzahlung von Dividenden und geleisteten Steuern möglicherweise höher anzusetzen sind, sieht die Kammer keine Notwendigkeit, einen höheren als den regelmäßig festzusetzenden Streitwert anzusetzen.


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