Steuerrecht

Wahlrecht zur nachgelagerten Besteuerung von Veräußerungsrenten

Aktenzeichen  10 K 2391/16

Datum:
16.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StEd – 2017, 365
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
AO § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Unter Änderung des Bescheids vom 23. Dezember 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. August 2016 wird die Einkommensteuer 2002 auf 39.730 € herabgesetzt.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Kläger die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
4. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

II.
Die Klage ist begründet.
Soweit der festgestellte Veräußerungsgewinn auf den Teil des Kaufpreises entfällt, der auf die vom Erwerber abgeschlossenen Rentenversicherungen entfällt, mithin in Höhe von 161.000 €, ist der Veräußerungsgewinn nicht im Streitjahr zu versteuern. Denn die Kläger haben wirksam eine nachgelagerte Besteuerung erst im Zeitpunkt des Zuflusses der jeweiligen Rentenzahlungen gewählt.
1. Die Voraussetzungen für eine Wahl der nachgelagerten Besteuerung gem. § 24 Nr. 2 i. V. m. § 15 EStG der Renten, die dem Kläger aus den vom Erwerber abgeschlossenen Rentenversicherungen zufließen, sind gegeben.
a) Bei der Veräußerung eines Anteils i. S. d. § 16 EStG gegen Leibrente hat der Steuerpflichtige die Wahl zwischen der sofortigen Versteuerung eines Veräußerungsgewinns nach den §§ 16, 34 EStG in Form des Unterschiedsbetrags zwischen dem Kapitalwert der Rente sowie den Veräußerungskosten und dem auf den Veräußerungszeitpunkt ermittelten Wert des Betriebsvermögens (vgl. § 16 Abs. 2 Sätze 1 und 2 EStG) einerseits und einer nicht tarifbegünstigten Besteuerung der nachträglichen Betriebseinnahmen im Jahr des Zuflusses nach § 24 Nr. 2 EStG in Verbindung mit § 15 EStG andererseits. Dieses Wahlrecht beruht auf einer teleologischen Reduktion des grundsätzlich zwingenden Anwendungsbereichs der §§ 16, 34 EStG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Besteuerung (vgl. BFH-Urteil vom 20. Juli 2010 IX R 45/09, BFHE 230, 380; BStBl II 2010, 969 m. w. N.). Es trägt vor allem dem Umstand Rechnung, dass zum einen die Leibrentenforderung mit ihrem Gegenwartswert zu bewerten ist und damit der Veräußerungsgewinn bereits im Zeitpunkt der Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums an den wesentlichen Betriebsgrundlagen verwirklicht wird, zum Anderen jedoch – gemessen an der statistischen Wahrscheinlichkeit – der vorzeitige Tod des Rentenberechtigten nicht zu einer (rückwirkenden) Korrektur des Veräußerungsgewinns führt (vgl. BFH-Urteil vom 19. August 1999 IV R 67/98, BFHE 190, 150, BStBl II 2000, 179) und deshalb der Ansatz des Veräußerungsgewinns mit der Folge verbunden sein kann, dass der Veräußerer Gewinne zu versteuern hat, die er tatsächlich zu keinem Zeitpunkt erzielt bzw. erzielen kann (vgl. BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 8/01, BFHE 199, 198; BStBl II 2002, 532 m. w. N.). Auf dieser Grundlage kommt ein Wahlrecht nach der Rechtsprechung dann in Betracht, wenn langfristige wiederkehrende Bezüge vereinbart werden und diese entweder mit einem Wagnis behaftet sind oder hauptsächlich im Interesse des Veräußerers, um dessen Versorgung zu sichern, und nicht im Interesse des Erwerbers festgelegt werden (vgl. BFH-Urteil vom 20. Juli 2010 IX R 45/09, BFHE 230, 380; BStBl II 2010, 969 m. w. N.; BFH-Beschluss vom 11. August 2011 VIII B 34/11, BFH/NV 2011, 2039 m. w. N.).
Wagnisbehaftete Bezüge liegen vor, wenn als Kaufpreis Zahlungen vereinbart werden, bei denen die Gefahr besteht, dass diese trotz vertragsgemäßer Erfüllung hinter den im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vorhandenen Erwartungen zurückbleiben (BFH-Urteil vom 15. Juni 2010 X R 36/08, BFH/NV 2017, 4).
Versorgungszwecke liegen vor, wenn sich die Raten- oder Rentenzahlungen über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren erstrecken und die Vereinbarung den Versorgungscharakter eindeutig zum Ausdruck bringt (Kobor in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Stand März 2013, § 16 Rn. 406 m. w. N.).
b) Im Streitfall steht dem Kläger ein Wahlrecht zur Besteuerung (eines Teils, zum Bestehen des Wahlrechts auch in einem solchen Fall vgl. BFH-Urteil vom 7. November 1991 IV R 14/90, BFHE 166, 527, BStBl II 1992, 457) des Veräußerungsgewinns i. S. d. § 16 EStG erst im Zeitpunkt des Zuflusses der jeweiligen Rentenzahlungen zu.
Anders als das FA meint, ist nach den vertraglichen Regelungen nicht vollumfänglich sicher gestellt, dass dem Kläger als Veräußerer bzw. der Klägerin sämtliche Leistungen aus den Rentenversicherungsverträgen zufließen, so dass eine die teleologische Reduktion der §§ 16, 34 EStG erfordernde Interessenlage im Streitfall gegeben ist. Denn die Klägerin ist nur widerruflich als Bezugsberechtigte für den Todesfall des Klägers bestimmt und ein solches widerrufliches Bezugsrecht ist nicht vererblich (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 18. Juni 2003 IV ZR 59/02, VersR 2003, 1021; Winter in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2013, § 159 VVG, Rn. 141; Hasse, VersR 2008, 590, Fn. 125). Somit hätte z. B. in dem Fall, dass die Klägerin vor dem Kläger verstirbt, der Erwerber als Versicherungsnehmer einen neuen Bezugsberechtigten für den Todesfall des Klägers zu bestimmen. Sofern dies nach dem Versicherungsvertrag der Zustimmung des Klägers bedürfte, wäre der Erwerber dennoch nicht verpflichtet, einem Vorschlag des Klägers zu folgen. Weiter ist nicht vorgesorgt für den Fall des gleichzeitigen Versterbens der Kläger. Dabei ist auch die Regelung im Veräußerungsvertrag zu berücksichtigen, wonach sich die Parteien einig waren, dass ausschließlich in Höhe und Umfang der aus den jeweiligen Rückdeckungsversicherungen dem Veräußerer als „versicherte Person“ zufließenden Zahlungen (Rentenzahlungen/ Einmalzahlungen im Todesfall etc.) seitens des Erwerbers eine Rentenzusage erteilt wird.
Im Übrigen liegt auch ein Versorgungscharakter der Rentenzahlungen vor. Sie sind lebenslänglich vereinbart mit aufgeschobenem Rentenbeginn und dienen jedenfalls in Zeiträumen ohne Erwerbsbezüge der Versorgung. Der Weg über eine Versicherung macht zudem die Zahlungen von der Leistungsfähigkeit des Erwerbers unabhängig.
2. Die Kläger konnten von diesem Wahlrecht noch im Einspruchsverfahren gegen den gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten Einkommensteuerbescheid vom 23. Dezember 2015 Gebrauch machen.
a) aa) Antrags- oder Wahlrechte, für deren Ausübung – wie im Streitfall – im Gesetzeswortlaut keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung vorgesehen ist, können grundsätzlich nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des entsprechenden Steuerbescheids erstmals oder in geänderter Weise ausgeübt werden. Die Änderung eines Antrags- oder Wahlrechts ist aber auch zuzulassen, wenn und soweit der Bescheid lediglich partiell noch nicht formell und materiell bestandskräftig ist. Das erfasst diejenigen Fälle, in denen Änderungsbescheide auf der Grundlage einer selbständigen Änderungsvorschrift – z. B. §§ 172 ff. AO – die teilweise Durchbrechung der Bestandskraft bewirken. Wird ein solcher Änderungsbescheid angefochten, so folgt jedoch aus § 351 Abs. 1 AO, dass die Änderung der Antrags- oder Wahlrechtsausübung nur möglich ist, wenn die dadurch zu erzielende Steueränderung den durch die partielle Durchbrechung der Bestandskraft gesetzten Rahmen nicht verlässt. Die Vorschrift begrenzt die Anfechtbarkeit und damit auch die durch den Einspruch bewirkte Änderbarkeit eines Änderungsbescheids auf den Umfang der Änderung und stellt damit u. a. klar, dass es im Übrigen bei der zuvor eingetretenen Bestandskraft bleibt. Bewegt sich die durch eine zulässige Änderung eines Antrags- oder Wahlrechts bewirkte Steueränderung innerhalb des Rahmens des § 351 Abs. 1 AO, ist es nach § 157 Abs. 2 AO gleichgültig, ob die Änderung einen Bezug zu den Veräußerungsgewinnen aufweist (BFH-Urteile vom 9. Dezember 2015 X R 56/13, BFHE 252, 241, BStBl II 2016, 967 zur Wahl des ermäßigten Steuersatzes für Veräußerungsgewinne gem. § 34 Abs. 3 EStG; vom 27. Oktober 2015 X R 44/13, BFHE 252, 94, BStBl II 2016, 278 zum Antrag auf Anwendung des Freibetrags gem. § 16 Abs. 4 EStG).
bb) Wenn die steuerlichen Auswirkungen der Ausübung des Antrags- oder Wahlrechts nicht über den durch § 351 AO gezogenen Rahmen hinausgehen, wird die zeitliche Grenze für die erneute oder anderweitige Ausübung eines Wahlrechts jedenfalls dann erst durch die formelle Bestandskraft des steuererhöhenden Änderungsbescheids gezogen, wenn erst durch die erstmalige Erfassung eines weiteren steuererheblichen Sachverhalts im Änderungsbescheid überhaupt die wirtschaftliche Notwendigkeit entsteht, sich mit der geänderten Ausübung eines einkommensteuerrechtlichen Antrags- oder Wahlrechts für denselben Veranlagungszeitraum zu befassen (BFH-Urteil vom 27. Oktober 2015 X R 44/13, BFHE 252, 94, BStBl II 2016, 278, Rn. 27; Kobor in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 16 Rn. 408; Schallmoser in: Blümich, EStG, § 16 Rn. 311).
Wenn die Ausübung eines Wahlrechts den Steuerpflichtigen für mehrere Veranlagungszeiträume bindet, tritt diese Bindung bereits dann ein, wenn nur der erste Veranlagungszeitraum bestandskräftig veranlagt wurde (BFH-Urteil vom 27. Oktober 2015 X R 44/13, BFHE 252, 94, BStBl II 2016, 278, Rn. 16; Schmieszek in AO-StB 2016, 64).
b) Nach diesen Maßgaben konnten die Kläger im Streitfall die beantragte Ausübung bzw. Änderung des Wahlrechts noch vornehmen.
aa) Im Streitfall steht nicht entgegen, dass der Bescheid vom 4. März 2010 bestandskräftig geworden war. Denn die Kläger haben den gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten Bescheid vom 23. Dezember 2015 angefochten und die infolge der Wahlrechtsausübung festzusetzende Einkommensteuer unterschreitet die betragsmäßige Änderungsschranke des § 351 Abs. 1 AO nicht (Steuer 0 € lt. dem vorangegangenen nicht angefochtenen Bescheid vom 4. März 2010).
bb) Im Streitfall steht weiter nicht entgegen, dass der Erstbescheid vom 2. Juli 2004, mit dem ein Kaufpreisanteil von 161.000 € (wie ursprünglich beantragt) der sofortigen Besteuerung unterworfen worden ist, bestandskräftig geworden ist.
Denn durch die nunmehrige Besteuerung des endgültigen Gesamtkaufpreises (Veräußerungsgewinn 660.100 €) ohne weitere Zahlungen in eine Rückdeckungsversicherung statt – wie im Erstbescheid – eines vorläufigen Gesamtkaufpreises von 536.800 € mit weiteren geplanten Zahlungen in eine Rückdeckungsversicherung ist zum einen erstmals ein weiterer steuererheblicher Sachverhalt im Änderungsbescheid erfasst worden und zum anderen die wirtschaftliche Notwendigkeit entstanden, sich mit der geänderten Ausübung eines Wahlrechts für den streitigen Veranlagungszeitraum zu befassen. Das Gericht interpretiert den „weiteren steuererheblichen Sachverhalt“ nicht einschränkend dahin gehend, dass er von dem bisher der Besteuerung unterworfenen Sachverhalt verschieden sein muss; dies ergibt sich jedenfalls nicht aus dem Wortlaut. Vielmehr erfordern die weiteren geänderten Bestandteile des Veräußerungsentgelts eine Änderung des im Erstbescheid ausgeübten Wahlrechts.
Im Übrigen spricht im Streitfall für eine erstmalige Erfassung eines weiteren steuererheblichen Sachverhalts, dass im Verfahren der einheitlichen und gesonderten Feststellung, in dem der beim Kläger entstandene Veräußerungsgewinn für die Einkommensbesteuerung 2002 der Kläger bindend festzustellen war (vgl. BFH-Urteil vom 17. September 2015 III R 49/13, BFHE 252, 17, BFH/NV 2016, 624, unter III.5.b.bb.), im Zeitpunkt der Ausübung des Wahlrechts noch keine Bestandskraft eingetreten war. Hinsichtlich der Einkommensteuerfestsetzung erfolgten lediglich Anpassungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO.
cc) Im Streitfall steht auch nicht entgegen, dass die Ausübung des Wahlrechts die Kläger für mehrere Veranlagungszeiträume – nämlich für alle Zeiträume mit Rentenzahlung – bindet. Denn keiner dieser ab 2015 betroffenen Veranlagungszeiträume ist bisher bestandskräftig veranlagt worden.
dd) Ist ein Wahlrecht aus rechtlichen Erwägungen zu gewähren, können fiskalische Überlegungen wie die Zinsauswirkungen keine Versagung des Wahlrechts rechtfertigen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung. Die Revision wird zugelassen wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

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