Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem

Aktenzeichen  M 26 K 16.4018

Datum:
7.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 151494
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 4 Abs. 5 S. 6 Nr. 1, Abs. 6 S. 4

 

Leitsatz

Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG. Für die Frage, ob die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist und sich, wenn zunächst diese Maßnahme zu ergreifen ist, der Punktestand verringert, kann nichts anderes gelten. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zur Begründung wird auf die Gründe des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Ergänzend wird folgendes ausgeführt: Ihre Rechtsgrundlage findet die Fahrerlaubnisentziehung in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG; nach dieser Bestimmung gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und ihm ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, sobald sich in der Summe acht oder mehr Punkte ergeben. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die nach Landesrecht zuständige Behörde für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Punkte ergeben sich gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird.
Die letzte vom Kläger zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt begangene rechtskräftig geahndete Zuwiderhandlung, die die Fahrerlaubnisbehörde bei der Entscheidung über die Entziehung seiner Fahrerlaubnis zu berücksichtigen hatte, war die Geschwindigkeitsüberschreitung vom … Oktober 2014. § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG bestimmt, dass die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber den Inhabern einer Fahrerlaubnis die in den Nummern 1 bis 3 aufgeführten Maßnahmen stufenweise zu ergreifen hat. Dieses Stufensystem wird im Hinblick auf seine Rechtsfolgen in § 4 Abs. 6 StVG näher präzisiert. Gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nr. 2 (Verwarnung) oder Nr. 3 (Entziehung der Fahrerlaubnis) nur ergreifen, wenn die Maßnahme der davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nr. 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen (§ 4 Abs. 6 Satz 2 StVG). Nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG verringert sich der Punktestand im Falle des Satzes 2 mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung auf fünf Punkte (Nr. 1) und der Verwarnung auf sieben Punkte (Nr. 2), wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist.
Hier hatte die Fahrerlaubnisbehörde die beiden nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG vor der Entziehung der Fahrerlaubnis liegenden Stufen des Maßnahmensystems rechtsfehlerfrei gegen den Kläger ergriffen. Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG ist dabei nicht eingetreten.
Nach dem Erreichen von acht Punkten nach dem (alten) Mehrfachtäter-Punktsystem hatte die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger mit Schreiben vom … April 2014 auf der Grundlage von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. verwarnt; dies entsprach der ersten Maßnahmenstufe nach dem bis zum 30. April 2014 geltenden Mehrfachtäter-Punktsystem.
In der Folgezeit ergaben sich aus den bis zum 1. Mai 2014 rechtskräftig geahndeten und im Verkehrszentralregister eingetragenen Zuwiderhandlungen des Klägers nach Berechnung der Fahrerlaubnisbehörde elf Punkte nach dem Mehrfachtäter-Punktsystem. Diese Punkte waren nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG zum 1. Mai 2014 in fünf Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem umzustellen; das führte zur Einordnung des Klägers in die Stufe 1 (Ermahnung) nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem. Diese am 1. Mai 2014 erreichte Stufe wird gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG für Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem zugrunde gelegt. § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 3 StVG bestimmt, dass die Einordnung nach Satz 1 allein nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem führt. Eine Wiederholung der ersten Maßnahmenstufe nach der Einführung des Fahreignungs-Bewertungssystems war somit nicht erforderlich.
Der Kläger hat mit der Verwarnung, die ihm die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG mit Schreiben vom … März 2015 erteilt hatte, auch die zweite Stufe des in § 4 Abs. 5 StVG vorgesehenen Maßnahmensystems ordnungsgemäß und ohne Verringerung des Punktestandes durchlaufen.
Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG ist, wenn sich sechs oder sieben Punkte ergeben, der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu verwarnen. Das ist hier mit dem Schreiben vom 24. März 2015 rechtsfehlerfrei erfolgt. Mit der am … November 2013 begangenen und am 8. Januar 2015 rechtskräftig geahndeten Geschwindigkeitsüberschreitung erreichte der Kläger „retrospektiv“ (vgl. BT-Drs. 17/12636 S. 19) zum 2. November 2013 einen Stand von sechs Punkten nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem. Die Punktebewertung richtete sich nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG; danach sind auf Entscheidungen, die bis zum Ablauf des 30. April 2014 begangene Zuwiderhandlungen ahnden und erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden, dieses Gesetz und die auf Grund des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. s erlassenen Rechtsverordnungen in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung anzuwenden.
Der Kläger meint, bei dieser Verwarnung hätte der Beklagte aufgrund des Tattagprinzips außer dem Verkehrsverstoß vom … November 2013 zusätzlich die am … Juni 2014 und … Oktober 2014 begangenen Ordnungswidrigkeiten berücksichtigen müssen. Es müsse, nicht anders als wenn die Fahrerlaubnisbehörde von allen drei Verkehrsverstößen gleichzeitig Kenntnis erhalten hätte, eine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG gewährt werden.
Dieser Einwand ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 26.1.2017 – 3 C 21/15 – NJW 2017, 2933) unbeachtlich. Spätestens seit der zum 5. Dezember 2014 in Kraft getretenen erneuten Gesetzesänderung ist für das Ergreifen von Maßnahmen nach rechtskräftiger Ahndung der Zuwiderhandlung nicht mehr ausschließlich auf den sich für den betreffenden Tattag ergebenden Punktestand abzustellen. Maßgebend für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG und eine Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG sind die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten Zuwiderhandlungen.
Im alten Mehrfachtäter-Punktsystem hatte die Rechtsprechung der Stufung der Maßnahmen eine „Warnfunktion“ beigemessen und daraus hergeleitet, dass die Maßnahmen den Fahrerlaubnisinhaber „möglichst frühzeitig und insbesondere noch vor Eintritt in die nächste Stufe erreichen“ sollten, damit ihm die „Möglichkeit der Verhaltensänderung“ effektiv eröffnet werde (BVerwG, U.v. 25.9.2008 – 3 C 3.07 – BVerwGE 132, 48). Die Fahrerlaubnis konnte nur entzogen werden, wenn deren Inhaber nach seiner Verwarnung eine weitere zur Überschreitung der Schwelle von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG a.F. führende Zuwiderhandlung begangen hatte. Weitere vor der Verwarnung begangene, der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt der Verwarnung aber noch nicht bekannte Zuwiderhandlungen konnten auf der Grundlage des Mehrfachtäter-Punktsystems nicht unmittelbar zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen (§ 4 Abs. 5 Satz 2 StVG a.F.). Hiervon hat sich der Gesetzgeber für das Fahreignungs-Bewertungssystem bewusst abgesetzt. Bei Fahrerlaubnisinhabern, die sich durch eine Anhäufung von innerhalb kurzer Zeit begangenen Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen haben, sollen die Verkehrssicherheit und das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, Vorrang vor dem Erziehungsgedanken haben. Für das Fahreignungs-Bewertungssystem soll es nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Die Erziehungswirkung liege – so der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Begründung der vorgeschlagenen und im Gesetzgebungsverfahren angenommenen Änderungen des Regierungsentwurfs – dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde, während die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienten. Die Maßnahmen stellten somit lediglich eine Information über den Stand im System dar. Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden sei, sei vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusse das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775 S. 9 f.).
Umgesetzt wird der vom Gesetzgeber gewollte Systemwechsel insbesondere durch § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 und § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift soll die Punktebewertung eines Verkehrsverstoßes auch dann ermöglichen, wenn er vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sei (BT-Drs. 18/2775 S. 10). § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG stellt ausdrücklich auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde ab. Nach dieser Bestimmung erhöhen Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 4 StVG Rn. 88a).
Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde mithin auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG. Für die Frage, ob die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist und sich, wenn zunächst diese Maßnahme zu ergreifen ist, der Punktestand verringert (§ 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG), kann nichts anderes gelten. Eine andere Betrachtung liefe dem Ziel der Gesetzesänderung zuwider, bei einer Anhäufung von Verkehrsverstößen die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu ermöglichen, wenn der Betroffene nach der Verwarnung die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr durch eine Änderung seines Verkehrsverhaltens verhindern kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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