Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung nach Erleiden eines Schlaganfalls

Aktenzeichen  11 C 16.793

Datum:
22.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 166 Abs. 1 S. 1
StVG StVG § 2 Abs. 4 S. 1, § 3 Abs. 1 S. 1
FeV FeV § 11 Abs. 2 S. 1, § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

Nach einem Schlaganfall besteht grundsätzlich keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2. Eine Ausnahme kann bei einem erlittenen Schlaganfall in Betracht kommen, wenn bei vollständiger Rückbildung der Symptome ein längerer Zeitraum ohne weitere Vorfälle verstrichen ist und kein nennenswertes Rückfallrisiko mehr besteht. (redaktioneller Leitsatz)
Hiervon kann nicht ausgegangen werden, wenn ein Arztbrief die Fahreignung nur unter der Voraussetzung einer Therapie mit Marcumar und der zwingend notwendigen Einstellung des INR bejaht, sich aber zur Rückfallgefahr nicht verhält und auch keine Aussagen zu Gruppe 1 oder 2 trifft. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 6 K 15.576 2016-04-05 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.Die Klägerin begehrt Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten für eine Klage gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen C1, C1E, C, CE und die Ablehnung der Verlängerung der Fahrerlaubnis der Klassen D1, D1E, D und DE sowie ihrer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung.
Am 10. Juni 2014 erlitt die Klägerin einen Schlaganfall, der mit Sprachstörungen, Lähmung des linken Arms und Müdigkeit einherging. Sie wurde vom 11. bis 14. Juni 2014 in der „Stroke unit“ des Universitätsklinikums W. behandelt und befand sich vom 24. Juni bis 22. Juli 2014 in einer Rehabilitationsmaßnahme. Unterlagen über diese Behandlungen sich in den Akten nicht enthalten.
Der Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K. diagnostizierte in einem Arztbrief vom 5. November 2014 „Zustand nach Insult“ und stellte fest, die körperlichen Symptome seien vollständig abgeklungen. Die Klägerin nehme regelmäßig das Medikament Marcumar. Unter der Voraussetzung, dass der INR-Wert (International Normalized Ratio – Blutgerinnungswert) zwischen 2,1 und 3,5 liege, sei sie fahrtauglich. Außerhalb dieser Werte sei keine Fahrtauglichkeit gegeben. Die Klägerin absolvierte daraufhin vom 4. bis 11. Dezember 2014 einen Kurs zur INR-Selbstmessung.
Am 2. Dezember 2014 beantragte die Klägerin beim Landratsamt K. (im Folgenden Fahrerlaubnisbehörde) die Verlängerung ihrer bis 11. Januar 2015 befristeten Fahrerlaubnis der Klassen D, DE, D1 und D1E. In der Bescheinigung über die ärztliche Untersuchung vom 2. Dezember 2014 ist „Zustand nach TIA“ (Transitorisch ischämische Attacke) angegeben.
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2014 forderte die Fahrerlaubnisbehörde die Klägerin zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens nach § 11 Abs. 2 FeV i. V. m. Nr. 6.4 und Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV auf. Es sei zu klären, ob trotz Vorliegens einer Erkrankung (TIA bzw. Insult), die die Fahreignung in Frage stelle, die Klägerin den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 und 2 gerecht werde und ob aufgrund der Dauerbehandlung mit Arzneimitteln (Marcumar) bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen seien, damit Fahreignung bestehe.
Mit Gutachten vom 22. Januar 2015 stellte die TÜV Hessen GmbH fest, dass trotz des Vorliegens einer Erkrankung unter den vorliegenden Umständen – keine neurologische Symptomatik, gute Einstellung mit dem Medikament Marcumar und Selbstmessungen – Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 bestehe, aber nicht für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2. Dabei berücksichtigte die begutachtende Ärztin einen vorläufigen Arztbericht des Universitätsklinikums W. vom 17. Juni 2014, mit dem wohl die Wiedererlangung der Fahrtauglichkeit im Straßenverkehr als Busfahrerin als ungünstig eingestuft worden war. Darüber hinaus bezog sie einen ausführlichen Therapiebericht der medizinischen Rehabilitationseinrichtung in ihr Gutachten ein, mit dem festgestellt worden war, dass die letzte berufliche Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden könne. Weiterhin erwähnt das Gutachten, dass bei Untersuchungen im MVZ … in O. am 26. September und 18. Oktober 2014 Herzerkrankungen wie Herzrhythmusstörungen und permanentes Vorhofflimmern ausgeschlossen worden seien.
Nach Anhörung entzog die Fahrerlaubnisbehörde der Klägerin mit Bescheid vom 28. Mai 2015 die Fahrerlaubnis der Klassen, C, CE, C1 und C1E und verpflichtete sie den Führerschein abzuliefern. Mit weiterem Bescheid vom 28. Mai 2015 lehnte die Fahrerlaubnisbehörde die Anträge auf Verlängerung der Fahrerlaubnis der Klassen D, DE, D1 und D1E sowie der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung ab. Die Klägerin gab ihren Führerschein am 16. Juni 2015 ab.
Gegen diese Bescheide wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage. Ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung hat das Verwaltungsgericht Würzburg mit Beschluss vom 5. April 2016 abgelehnt. Die Klägerin leide unter einer Erkrankung nach Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV und sei dadurch ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2. Die Voraussetzungen der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV seien nicht erfüllt.
Zur Begründung ihrer Beschwerde, der der Beklagte entgegentritt, trägt die Klägerin vor, es liege eine Ausnahmefall nach der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV vor. Nach dem Arztbrief des Dr. K. bestehe Fahrtauglichkeit wenn der INR-Wert gut eingestellt sei. Dieser Arztbrief sei nicht hinreichend berücksichtigt worden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Weder aus der Beschwerdebegründung noch aus dem Akteninhalt ergeben sich hinreichende Erfolgsaussichten der Klage (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Mai 2016 (BGBl I S. 1217), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2015 (BGBl I S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann zur Aufklärung von Eignungszweifeln die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens angeordnet werden. Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen kann nach Nr. 6.4 der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV bei Vorliegen eine kreislaufabhängigen Störung der Hirntätigkeit bestehen.
Nach § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG kann eine Fahrerlaubnis nur erteilt werden, wenn der Bewerber geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, mithin die notwendigen körperlichen Anforderungen erfüllt. Bei einer Verlängerung muss der Fahrerlaubnisinhaber nach § 24 Abs. 1 Satz 1 FeV seine Eignung nachweisen.
Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids am 28. Mai 2015 ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 (Fahrerlaubnisklassen C, CE, C1 und C1E, D, D1, DE, D1E, FzF) war, denn die Voraussetzungen einer Ausnahme nach der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV lagen nicht vor. Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94 – BVerwGE 99, 249; U.v. 23.10.2014 – 3 C 13.13 – NJW 2015, 2439 Rn. 13). In Ermangelung eines Widerspruchsverfahrens ist dies hier der Zeitpunkt des Erlasses des streitbefangenen Bescheids.
Grundsätzlich besteht nach einem Schlaganfall gemäß Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV i. V. m. Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Begutachtungsleitlinien – Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, gültig ab 1.5.2014, zuletzt geändert am 3.3.2016 [VkBl S. 185]) keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2. Eine Ausnahme kann bei einem erlittenen Schlaganfall z. B. dann in Betracht kommen, wenn bei vollständiger Rückbildung der Symptome ein längerer Zeitraum ohne weitere Vorfälle verstrichen ist und kein nennenswertes Rückfallrisiko mehr besteht. Denn bei vollständiger Rückbildung der Symptome können alleine aus einem Rückfall noch Gefahren für den Straßenverkehr resultieren. Dies wird durch Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien bestätigt, wonach bei der Eignungsbeurteilung im Falle einer kreislaufabhängigen Störung der Hirntätigkeit insbesondere die Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen ist (vgl. BayVGH, U.v. 7.3.2016 – 11 B 15.2093 – juris Rn. 30). Auch die Änderungen der Nr. 3.4 „Herz- und Gefäßkrankheiten“ der Begutachtungsleitlinien am 3. März 2016 zeigen, dass bei diesen Erkrankungen nunmehr wesentlich differenzierter und regelmäßig nach individueller fachärztlicher Einschätzung, auch die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 wieder erlangt werden kann.
Unstreitig hat die Klägerin am 10. Juni 2014 einen Schlaganfall erlitten. Nach dem vorgelegten Arztbrief des Dr. K. aus dem Jahr 2014 ist die Klägerin damals auch nur unter der Voraussetzung fahrgeeignet gewesen, dass sie ihren INR-Wert regelmäßig testet. Eine Unterscheidung nach Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 und 2 erfolgt in diesem Arztbrief nicht. Hinsichtlich der Rückfallgefahr wird keine Aussage getroffen. Daraus kann, insbesondere vor dem Hintergrund der nach dem Arztbrief notwendigen Therapie mit Marcumar und der zwingend notwendigen Einstellung des INR zwischen 2,1 und 3,5, aber nicht geschlossen werden, dass die Rückfallgefahr zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses hinreichend reduziert war, um ausnahmsweise auch Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 anzunehmen.
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen D, DE, D1 und D1E sowie der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung, denn sie hat nicht nachgewiesen, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt ihre Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 ausnahmsweise wiedererlangt hat. Ein Rückgriff auf den Arztbrief des Dr. K. aus dem Jahr 2014 kann nicht erfolgen, denn damit kann die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 angesichts der unpräzisen Formulierungen nicht nachgewiesen werden. Es erscheint aber nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin nach Ablauf einer längeren rückfallfreien Zeit ihre Fahreignung auch für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 ausnahmsweise wiedergewinnen und nachweisen kann, denn es wurden bei den Untersuchungen im Herbst 2014 keine zugrundeliegenden Erkrankungen des Herzens festgestellt, die dies unmöglich machen würden. Die bisher verstrichene Zeitspanne von ca. zwei Jahre nach dem Insult lässt dies jedoch derzeit noch nicht erwarten, denn die Rückfallgefahr ist in den ersten Jahren nach einem Vorfall am höchsten (vgl. Nr. 5.1.1 der DEGAM-Leitlinie Nr. 8 „Schlaganfall“, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Frankfurt a.M. 2012, Gültigkeit verlängert bis 31.7.2016, abrufbar unter www.a…org).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Anders als das Prozesskostenhilfeverfahren erster Instanz ist das Beschwerdeverfahren in Prozesskostenhilfesachen kostenpflichtig. Eine Streitwertfestsetzung ist entbehrlich, weil für die Zurückweisung der Beschwerde nach dem hierfür maßgeblichen Kostenverzeichnis jeweils eine Festgebühr anfällt (§ 3 Abs. 2 GKG i. V. m. Anlage 1 Nr. 5502).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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