Verkehrsrecht

Fahrerlaubnisentzug und Löschung von Punkten

Aktenzeichen  M 26 S 15.5717

Datum:
1.2.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 3 Abs. 4 Satz 1, § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3
VwGO VwGO § 65 Abs. 3 Nr. 4 S. 2, § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Nummern 1 und 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 17. November 2015 wird angeordnet bzw. wiederhergestellt.
II.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 8.750 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis u. a. der Klassen A, B und C nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
Am … August 2003 war dem Antragsteller die Fahrerlaubnis im Zusammenhang mit dem Konsum von Drogen entzogen worden. Im Jahr 2010 legte er ein positives medizinisch-psychologisches Gutachten vor. Am 16. November 2010 wurde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis daraufhin neu erteilt.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 17. November 2015 entzog ihm die Fahrerlaubnisbehörde seine Fahrerlaubnis u. a. der Klassen A, B und C wegen des Erreichens von acht Punkten im Fahreignungsregister. In Bezug auf den Punktestand berücksichtigte sie unter anderem drei Verurteilungen des Antragstellers wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis vom … Juli 2005, … Juni 2005 und … Februar 2007. Diese wurden nach früherem Recht mit jeweils sechs Punkten bewertet und führten zu einem Punktestand von 13 Punkten nach altem Recht, nachdem eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 5 StVG a. F. berücksichtigt wurde, da die der Fahrerlaubnisentziehung vorgeschaltete Maßnahme nicht ergriffen worden war. Nach der Eintragung von zwei weiteren Punkten hatte der Antragsteller am 30. April 2014 einen Punktestand von 15 Punkten im früheren Verkehrszentralregister erreicht, der am 1. Mai 2014 mit einem Punktestand von sechs Punkten in das Fahreignungsregister überführt wurde. Wegen Verkehrszuwiderhandlungen am … November 2014 und am … Mai 2015 wurden zulasten des Antragstellers im Fahreignungsregister zwei weitere Punkte eingetragen.
Am … Dezember 2015 hat der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten Klage erhoben. Gleichzeitig beantragt er im Verfahren zur Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, in entsprechender Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG a. F. hätte der Punktestand des Antragstellers nach Neuerteilung der Fahrerlaubnis am 16. November 2010 auf Null reduziert werden müssen. Der Neuerteilung der Fahrerlaubnis liege ein positives Fahreignungsgutachten zugrunde, dass dem Antragsteller Fahreignung bescheinige. Dies habe letztlich auch die Fahrerlaubnisbehörde so gesehen, ansonsten hätte sie dem Antragsteller keine neue Fahrerlaubnis erteilen dürfen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG a. F. sehe eine Löschung von Punkten nach Neuerteilung einer Fahrerlaubnis gerade nicht vor. Eine entsprechende Anwendung komme schon deshalb nicht infrage, da sich das vorgelegte positive Fahreignungsgutachten ausschließlich mit der Fahreignung des Antragstellers unter dem Gesichtspunkt eines die Fahreignung ausschließenden Drogenkonsumverhaltens befasse. Eine Anwendung von § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG n. F. sehe die Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 StVG n. F. gerade nicht vor.
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Soweit sich der Antrag gegen die Zwangsgeldandrohung im streitgegenständlichen Bescheid richtet, ist er unzulässig. Diese hat sich erledigt, nachdem der Antragsteller vom Antragsgegner unwidersprochen vorgetragen hat, im Zeitpunkt der Antragstellung seinen Führerschein bereits beim Antragsgegner abgeliefert zu haben und vor diesem Hintergrund nichts dafür ersichtlich ist, dass der Antragsgegner das in Nr. 4 des Bescheids angedrohte Zwangsgeld noch beitreiben wird.
Im Übrigen ist der Antrag zulässig und begründet. Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung, die sich auch an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert. Im hier zu entscheidenden Fall bestehen überwiegende Hauptsacheerfolgsaussichten zugunsten des Antragstellers.
Maßgeblich ist § 4 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in der ab 5. Dezember 2014 anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 28. November 2014 (BGBl I S. 1802), da auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 17. November 2015 abzustellen ist. Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94 -BVerwGE 99, 249; BayVGH, B.v. 2.12.2015 – 11 CS 15.2138). In Ermangelung eines Widerspruchsverfahrens ist das hier der Zeitpunkt des Erlasses des streitbefangenen Bescheids. Vor diesem Hintergrund ist § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG n. F. einschlägig. Nach dieser Vorschrift dürfen Punkte für vor der Erteilung rechtskräftig gewordene Entscheidungen über Zuwiderhandlungen nicht mehr berücksichtigt werden, wenn eine Fahrerlaubnis erteilt wird. Nach der Gesetzesbegründung (BR-Drs. 17/12363 S. 39 f.) regelt diese Vorschrift die Löschung der Punkte im Zusammenhang mit der Entziehung der Fahrerlaubnis und anschließender Neuerteilung oder im Zusammenhang mit der Ersterteilung dahingehend neu, dass die Punkte erst dann gelöscht werden, wenn die Fahrerlaubnis nach vorheriger Entziehung neu erteilt wird oder wenn vor der Ersterteilung der Fahrerlaubnis Punkte angesammelt werden. Damit sei besser als bisher dem Umstand Rechnung getragen, dass die Geeignetheit des Betroffenen erst mit der Erst- (oder Neu-)Erteilung der Fahrerlaubnis (wieder) als gegeben anzusehen sei. Die Löschung der Punkte für den als geeignet eingestuften Antragsteller sei dann konsequent und auch erforderlich, weil es ansonsten möglich sei, dass ein einziger mit einem Punkt bewerteter Verstoß wieder zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen würde. Stelle die Behörde fest, dass die Eignung wieder gegeben sei und erteile daraufhin die Fahrerlaubnis neu, so müsse auch der Punktestand auf null und nicht auf einen anderen Wert reduziert werden, da ansonsten von vornherein unterstellt würde, dass die Behörde trotz der Erteilung der Fahrerlaubnis Zweifel an der Eignung habe.
Hinter dieser Regelung steht also der Gedanke, dass eine Fahrerlaubnis nur erteilt oder neu erteilt werden kann, wenn der Betroffene uneingeschränkt zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist, so dass es angebracht ist, die Punkte in dem Zeitpunkt zu löschen, in dem die Fahrerlaubnisbehörde die Eignung des Betroffenen durch die Erteilung der Fahrerlaubnis bejaht (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 4 StVG, Rn. 51). Vor diesem Hintergrund ist es unschädlich, dass die vom Antragsteller vorgelegte positive medizinisch-psychologische Untersuchung seine Fahreignung in erster Linie oder ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines die Fahreignung ausschließenden Drogenkonsums untersucht hat. Denn durch die Neuerteilung der Fahrerlaubnis bringt die Fahrerlaubnisbehörde nach der Wertung des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass sie die Fahreignung des Betroffenen, hier des Antragstellers, uneingeschränkt bejaht.
Ob die Regelung des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG n. F. nur bei ab dem 1. Mai 2014 erteilten Fahrerlaubnissen oder auch bereits für Fälle gelten soll, in denen eine Fahrerlaubnis davor erteilt worden ist, kann dem Wortlaut der punktuellen, diese Fragestellung nicht explizit thematisierenden Übergangsvorschriften in § 65 StVG n. F. nicht zweifelsfrei entnommen werden. Zwar knüpft die Umrechnungsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n. F. an den Punktestand an, der unter der Geltung des alten Rechts bis zum 30. April 2014 erreicht worden ist. Dies schließt aber die Annahme einer prioritären Eliminierung von Punkten – hier aufgrund des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG n. F. – vor der Umrechnung nicht zwingend aus (VGH Mannheim, B.v. 31.3.2015 – 10 S 2417/14 – NJW 2015, 2134).
Vor allem sprechen die Gesetzesbegründung (BR-Drs. 17/12363 S. 50) und insbesondere der dort angegebene Zweck der Regelung dafür, dass es sich bei § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n. F. um eine die formale Umrechnung von alten in neue Punktestände regelnde Vorschrift handelt, die die Anwendbarkeit von § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG n. F. auch auf vor dem 1. Mai 2014 (neu) erteilte Fahrerlaubnisse nicht ausschließt: „Nummer 4 regelt die Umstellung der Punktestände nach bisherigem Recht in die Maßnahmenstufen des neuen Fahreignungs-Bewertungssystems oder in die Vormerkung. Die Bestimmung ist notwendig, da die bisherige differenzierte Bewertung der Zuwiderhandlungen nach Bedeutung und Schwere mit 1-7 Punkten zugunsten eines 3-Kategorien Systems aufgegeben wird. Die Punktestände nach bisherigem Recht werden mittels der Überführungstabelle in Punktestände nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem überführt. Der aufgrund der Überführung ermittelte neue Punktestand bildet nach Satz 2 die Grundlage für die Einstufung in eine der Maßnahmenstufen des Fahreignungsbewertungssystems oder in die Vormerkung. Mit der Regelung wird sichergestellt, dass jeder, der sich im bisherigen dreistufigen Punktsystem in einer Maßnahmenstufe befunden hat, in die entsprechende Maßnahmenstufe des neuen ebenfalls dreistufigen Fahreignung-Bewertungssystems überführt wird.“
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister ergeben. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde für das Ergreifen einer Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Damit hat der Gesetzgeber das von der Rechtsprechung zur Rechtslage vor der Gesetzesänderung zum 1. Mai 2014 entwickelte Tattagprinzip normiert. Im Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Ordnungswidrigkeit, nämlich am 27. Mai 2015, hat der Antragsteller unter Anwendung des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG n. F. keinen Stand von acht Punkten im Fahreignungsregister erreicht, da alle Eintragungen vor Neuerteilung der Fahrerlaubnis am 16. November 2010 unberücksichtigt bleiben müssen.
Da somit die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der einstweiligen gerichtlichen Überprüfung nicht standhält, kann auch die in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern ( § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i. V. m. § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FeV), keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Nr. 1.5, 46.1, 46.3 und 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2014.


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