Verkehrsrecht

Verwaltungsgerichte, Trunkenheitsfahrt, Medizinisch-psychologisches Gutachten, Blutalkoholkonzentration, Widerspruchsbescheid, Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, Fahrerlaubnisbehörde, Alkoholmißbrauch, Alkoholisierung, Ärztliches Gutachten, Führen von Kraftfahrzeugen, Begutachtungsleitlinien, Kraftfahreignung, Streitwertfestsetzung, Alkoholabhängigkeit, Gutachtenanordnung, Antragstellers, Fahrerlaubnisrecht, Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahrerlaubnis-Verordnung

Aktenzeichen  11 CS 20.2474

Datum:
10.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4193
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2 Abs. 8, § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 6 S. 2, Abs. 8, § 13 S. 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2, § 46 Abs. 1, Abs. 3
FeV Nr. 8.1 Anlage 4

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 10 S 20.1575 2020-10-06 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. In Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 6. Oktober 2020 wird der Streitwert für beide Rechtszüge auf jeweils 3.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der … geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A1, M, L (jeweils erteilt am 25.9.1998) und B (erteilt am 3.2.2000).
Im September 2019 wurde dem Landratsamt N. a. d. A.-B. W. bekannt, dass der Antragsteller am Sonntag, den 28. Juli 2019 gegen Mittag bei der Polizeiinspektion N.-O. vorsprach, um einen Diebstahl zur Anzeige zu bringen. Dabei stellten die Polizeibeamten der polizeilichen Mitteilung zufolge Alkoholgeruch fest. Nachdem der Antragsteller angab, mit dem Pkw zur Dienststelle gefahren zu sein, wurde eine Blutprobe entnommen, die eine Blutalkoholkonzentration von 0,94 ‰ ergab.
Auf Anfrage teilte die Polizeiinspektion B. W. dem Landratsamt darüber hinaus folgende Vorfälle mit:
Am Sonntag, den 11. Februar 2018, wurde der Polizeiinspektion St. gemeldet, dass der Antragsteller volltrunken im Restaurant des Freizeitbades „Palm Beach“ sitze. Er wurde daraufhin von der Polizei in Gewahrsam genommen. In dem Polizeibericht heißt es, der Antragsteller sei aggressiv und stark alkoholisiert gewesen. Eine Atemalkoholprobe ergab einen Wert von 1,36 mg/l.
Am Sonntag, den 3. März 2019 schlief der Antragsteller gegen 2 Uhr morgens stark alkoholisiert in einer Bar in Wü. ein, konnte sich nicht mehr selbständig auf den Beinen halten und wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen.
Am Samstag, den 29. Juni 2019 besuchte der Antragsteller das Freibad in U. und konsumierte dabei zahlreiche alkoholische Getränke. Bei Schließung des Bads beleidigte er nach 20 Uhr den Bademeister sowie einen weiteren Geschädigten u.a. als „Arschloch“ und „Hurensohn“. Aufgrund seiner Alkoholisierung lehnte er sich auf dem Parkplatz vor dem Freibad mehrfach unabsichtlich gegen einen geparkten PKW und fügte diesem mit seiner umgehängten Tasche mehrere Kratzer bei. Die herbeigerufenen Polizeibeamten beleidigte er als „Lachnummer“ und „Lappen“. Ein Atemalkoholtest ergab einen Wert von 1,39 mg/l; auf die eingesetzten Beamten machte der Antragsteller nach dem Polizeibericht nur einen leicht angetrunkenen Eindruck.
Im Januar 2020 forderte das Landratsamt den Antragsteller auf, ein ärztliches Gutachten zur Klärung einer Alkoholabhängigkeit vorzulegen. Dieser übermittelte daraufhin ein ärztliches Gutachten der p.-m. GmbH vom 27. März 2020, das zu dem Ergebnis kommt, eine Alkoholabhängigkeit lasse sich bei dem Antragsteller nicht bestätigen.
Mit Schreiben vom 9. April 2020 forderte das Landratsamt den Antragsteller gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV auf, bis zum 9. Juni 2020 ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen. Zu klären sei, ob er trotz des Hinweises auf Alkoholmissbrauch ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 sicher führen könne und nicht zu erwarten sei, dass er ein Kraftfahrzeug unter einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholeinfluss führen werde. In der Anordnung werden unter der Überschrift „Erkenntnisse“ zunächst sämtliche vorgenannten Vorfälle aufgezählt. Unter der Überschrift „Beurteilung“ heißt es sodann, es bestünden Eignungszweifel, da zwar das ärztliche Gutachten keine Alkoholabhängigkeit bestätigt habe, aber sonst Tatsachen vorlägen, die die Annahme von Alkoholmissbrauch begründeten. Der Antragsteller habe am 28. Juli 2019 ein Kraftfahrzeug mit einer Blutalkoholkonzentration von 0,94 Promille geführt; aufgrund des „obigen Sachverhalts“ sei nicht ausgeschlossen, dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigt sei.
Nachdem kein Gutachten vorgelegt wurde, entzog das Landratsamt dem Antragsteller nach Anhörung mit Bescheid vom 30. Juli 2020 die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgeldes auf, seinen Führerschein binnen sieben Tagen nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Aus der Nichtvorlage des Gutachtens sei auf die mangelnde Eignung zu schließen.
Am 14. August 2020 erhob der Antragsteller Widerspruch und beantragte beim Verwaltungsgericht Ansbach die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs mit der Begründung, das Landratsamt habe die Gutachtensanordnung unzulässig allein auf die Alkoholfahrt gestützt.
Mit Beschluss vom 6. Oktober 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab. Das Landratsamt habe aus der Nichtvorlage des Gutachtens auf die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen dürfen, da die Gutachtensanordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV nicht zu beanstanden sei. Die Alkoholfahrt am 28. Juli 2019 allein könne die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung zwar ebenso wenig rechtfertigen wie eine starke Alkoholgewöhnung. In der Gesamtschau lägen jedoch hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller den Konsum von Alkohol und die Teilnahme am Straßenverkehr nicht sicher trennen könne. Das ausfällige und aggressive Verhalten am 11. Februar 2018 und am 29. Juni 2019 lasse den Schluss zu, dass der Antragsteller zu Kontrollverlust neige, und damit eine Teilnahme am Straßenverkehr in alkoholisiertem Zustand als möglich erscheinen. Dass das Landratsamt sich im Rahmen der Subsumtion auf die Nennung der Trunkenheitsfahrt beschränkt habe, sei unschädlich, da in der Gutachtensanordnung alle Tatsachen genannt seien, die die Annahme von Alkoholmissbrauch begründeten.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde lässt der Antragsteller ausführen, das Landratsamt habe sich in der Gutachtensanordnung ausschließlich auf die Alkoholfahrt gestützt und – anders als das Verwaltungsgericht – gerade keine Gesamtschau vorgenommen. Zudem habe sich der Antragsteller am 11. Februar 2018 und 29. Juni 2019 nicht aggressiv verhalten, sondern sei vielmehr aufgrund von Provokationen Dritter verbal entgleist.
Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen und weist dabei darauf hin, dass die Regierung von Mittelfranken den Widerspruch zwischenzeitlich mit Widerspruchsbescheid vom 6. November 2020 (zugestellt am 12.11.2020) zurückgewiesen und der Antragsteller dagegen am 9. Dezember 2020 Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach (Az. AN 10 K 20.02696) erhoben hat.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Der Antragsteller hat vor Ablauf der Monatsfrist seit der Zustellung des Widerspruchsbescheids Klage erhoben, so dass der Bescheid des Landratsamts nicht bestandskräftig geworden ist. Des Weiteren wäre der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen, im Interesse des Antragstellers selbst ohne ausdrückliche Erklärung dahingehend auszulegen, dass dieser nach Zurückweisung des Widerspruchs die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der am 9. Dezember 2020 eingelegten Klage begehrt (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2019 – 11 CS 19.57 – juris Rn. 9; HessVGH, B.v. 4.5.1973 – V TH 14/72 – ESVGH 23, 173). Im Übrigen hat der Antragsteller hier mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2020 eine entsprechende Auslegung bzw. Umstellung des Antrags geltend gemacht, so dass von einer sachdienlichen Antragsänderung im Beschwerdeverfahren auszugehen ist (§ 146 i.V.m. § 91 VwGO).
2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen wäre.
a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. Juni 2020 (BGBl I S. 1528), zum Teil in Kraft getreten zum 1. Oktober 2020, und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Dezember 2019 (BGBl I S. 2008), zum Teil in Kraft getreten zum 1. Juni 2020, hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer das Führen von Fahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann (Alkoholmissbrauch).
Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung begründen, so kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines Fahreignungsgutachtens anordnen (§ 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 i.V.m. §§ 11 bis 14 FeV). Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV ist zur Klärung von Eignungszweifeln bei Alkoholproblematik ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzuordnen, wenn nach dem ärztlichen Gutachten zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen (Alt. 1), oder sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen (Alt. 2).
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 19 m.w.N.). Bei feststehender Ungeeignetheit ist die Entziehung der Fahrerlaubnis zwingend, ohne dass der Fahrerlaubnisbehörde ein Ermessensspielraum zukäme. Dies gilt auch bei Nichtvorlage eines zu Recht geforderten Fahreignungsgutachtens.
b) Gemessen daran begegnet die vom Landratsamt verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis in Gestalt des Widerspruchsbescheids keinen rechtlichen Bedenken. Der Schluss aus der Nichtvorlage des angeforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens auf die Nichteignung ist nicht zu beanstanden, denn die auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV gestützte Begutachtungsanordnung war rechtmäßig.
aa) Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass eine einmalig gebliebene Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von weniger als 1,6 ‰ die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach der Auffangregelung des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV nicht allein rechtfertigen kann, sondern nur bei Hinzutreten zusätzlicher aussagekräftiger Umstände, die die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen (BVerwG, U.v. 6.4.2017 – 3 C 24.15 – DAR 2017, 282 = juris Rn. 14 ff.; BayVGH, U.v. 17.11.2015 – 11 BV 14.2738 – DAR 2016, 41 = juris Rn. 22 ff.).
Als solche Zusatztatsachen kommen auch nicht unmittelbar mit der Teilnahme am Straßenverkehr in Zusammenhang stehende Alkoholauffälligkeiten in Betracht, insbesondere unkontrolliert aggressives Verhalten gegenüber Dritten (BayVGH a.a.O. Rn. 24) oder sonstige irrationale, auf einen alkoholbedingten Kontrollverlust hindeutende Handlungen (OVG NW, B.v. 29.7.2015 – 16 B 584/15 – Blutalkohol 52, 350 = juris Rn. 25). Ein solcher Kontrollverlust unter Alkoholeinfluss begründet hinreichende Zweifel, ob der Betroffene die nötige Selbstkontrolle aufbringt, um von der Teilnahme im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss abzusehen. Dieses Risiko muss individuell, auch unter Berücksichtigung der Fahrgewohnheiten und früherer Verkehrsauffälligkeiten, bewertet werden (vgl. auch OVG Bremen, B.v. 13.8.2020 – 2 B 143/20 – Blutalkohol 58, 300 = juris Rn. 10; Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Kommentar, 3. Aufl. 2018, S. 252 f.).
Ferner kann eine relevante Zusatztatsache in einer hohen Alkoholgewöhnung bzw. Giftfestigkeit liegen (BayVGH, B.v. 8.10.2018 – 11 CE 18.1531 – juris Rn. 20 ff.; OVG NW, B.v. 29.7.2015 – 16 B 584/15 – Blutalkohol 52, 350 = juris Rn. 9 ff., 20; VGH BW, U.v. 7.7.2015 – 10 S 116/15 – DAR 2015, 592 = juris Rn. 43 ff.; OVG RhPf, B.v. 11.9.2006 – 10 B 10734/06 – ZfSch 2006, 713 = juris Rn. 9). Es wird davon ausgegangen, dass bereits vom Erreichen oder Überschreiten von Werten ab 1,1 ‰ auf eine hohe und ungewöhnliche Trinkfestigkeit geschlossen werden kann, die durch ein über dem gesellschaftlichen Durchschnittskonsum liegenden Trinkverhalten erworben sein muss (Schubert/Huetten/Reimann/Graw a.a.O. S. 249 f.; so auch VGH BW a.a.O. Rn. 47 zu Werten ab 1,3 ‰ unter Verweis auf Schubert/Schneider/Eisenmenger/Stephan, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Kommentar, 2. Aufl. 2005, S. 132). Bei Personen, die Blutalkoholwerte von 1,6 ‰ und mehr erreichen, ist anzunehmen, dass sie deutlich normabweichende Trinkgewohnheiten haben, regelmäßig an einer dauerhaften, ausgeprägten Alkoholproblematik leiden und zur Risikogruppe überdurchschnittlich alkoholgewöhnter Kraftfahrer gehören, die im Straßenverkehr doppelt so oft alkoholauffällig werden wie andere Personen (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94 – BVerwGE 99, 249 = juris Rn. 14; BayVGH a.a.O. Rn. 22.; Abschnitt 3.13.2 der Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung vom 27.1.2014 [VkBl. S. 110] in der Fassung vom 28.10.2019 [VkBl. S. 775], S. 81; Schubert/Huetten/Reimann/Graw a.a.O. S. 249 f.). Bei hoher Giftfestigkeit fehlen die natürlichen alarmierenden Reaktionen des Organismus, die durch den Konsum größerer Alkoholmengen ausgelöst werden, oder sind nur gering ausgeprägt. Damit steht bei hoher Alkoholgewöhnung die körperliche Befindlichkeit als Maßstab der aktuellen Alkoholisierung nicht mehr zur Verfügung und ist das Trennen von unzulässiger Blutalkoholkonzentration und dem Führen eines Kraftfahrzeuges weit schwerer als für den Durchschnitt der Kraftfahrer, die lediglich eine „normale“ Giftfestigkeit aufweisen (vgl. VGH BW a.a.O. Rn. 47; OVG NW a.a.O. Rn. 13; Schubert/Huetten/Reimann/Graw a.a.O. S., 266 f.; s. auch Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung, Nr. 3.13.2, S. 81).
bb) Derartige Zusatztatsachen hat das Verwaltungsgericht hier zu Recht bejaht. Der Antragsteller hat sich am 11. Februar 2018 sowie am 29. Juni 2019 unter Alkoholeinfluss Dritten gegenüber aggressiv verhalten und zumindest am 29. Juni 2019 – in einem ihm vertrauten sozialen Umfeld, das erfahrungsgemäß mäßigend wirkt – in hohem Maße irrational und sozial inadäquat gehandelt. Dies weist auf einen allgemeinen Kontrollverlust und eine Neigung zu Selbstüberschätzung sowie Impulshaftigkeit bei Alkoholkonsum hin, woraus eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Trunkenheitsfahrten folgen kann. Wenn der Antragsteller dagegen im Beschwerdeverfahren einwendet, er habe sich – anders als in den Mitteilungen der Polizei an das Landratsamt ausgeführt – bei den vorgenannten Vorfällen nicht aggressiv verhalten, kann er damit nicht durchdringen. § 2 Abs. 12 StVG sieht eine polizeiliche Mitteilungspflicht vor, deren Zweck es ist, die Fahrerlaubnisbehörde mit allen eignungs- und befähigungsrelevanten Informationen zu versorgen, die Veranlassung für Maßnahmen nach dem Fahrerlaubnisrecht sein können. Mitteilungen der Polizei sind für die Fahrerlaubnisbehörde daher grundsätzlich berücksichtigungsfähig, wenn sie – wie hier – Anhaltspunkte für Fahreignungszweifel des Betroffenen enthalten (BayVGH, B.v. 18.4.2012 – 11 ZB 12.296 – juris Rn. 4; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 2 StVG Rn. 86 und § 13 FeV Rn. 20; zur Verwertung amtlicher Schilderungen vgl. auch BayVGH, B.v. 13.1.2016 – 22 CS 15.2643 – GewArch 2016, 160 = juris Rn. 10). Der Vortrag des Antragstellers, der keinerlei eigenes Fehlverhalten thematisiert, die polizeilichen Maßnahmen als willkürlich schildert und vage auf Provokationen Dritter verweist, ist weder plausibel noch nachprüfbar und nicht geeignet, Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der polizeilichen Mitteilungen darzulegen.
Ferner wurden bei dem Antragsteller am 11. Februar 2018 und am 29. Juni 2019 Atemalkoholkonzentration von 1,36 mg/l sowie 1,39 mg/l gemessen. Auch wenn eine direkte Konvertierbarkeit von Atemalkoholkonzentration in Blutalkoholkonzentration ausgeschlossen ist und die gängige Umrechnungsformel, nach der für die Bestimmung des Blutalkoholwertes in Promille rechnerisch der doppelte Betrag des Atemalkohols in mg/l anzunehmen wäre, nur einen Hinweis auf die Blutalkoholkonzentration liefert (vgl. BGH, B.v. 3.4.2001 – 4 StR 507/00 – BGHSt 46, 358 = juris Rn. 17 ff., OVG NW, B.v. 29.7.2015 – 16 B 584/15 – Blutalkohol 52, 350 = juris Rn. 11), kann doch mit großer Wahrscheinlichkeit bei beiden Vorfällen von einer Alkoholisierung des Antragstellers ausgegangen werden, die nach den vorgenannten Erkenntnissen auf eine hohe Alkoholgewöhnung schließen lässt. Dies gilt umso mehr, als in dem Polizeibericht vom 29. Juni 2019 festgehalten ist, der Antragsteller habe trotz der hohen Alkoholisierung nur einen leicht angetrunkenen Eindruck auf die eingesetzten Beamten gemacht.
cc) In der Gesamtschau begründen die Trunkenheitsfahrt vom 28. Juli 2019 sowie der allgemeine Kontrollverlust und die hohe Alkoholgewöhnung, die sich bei den in engerem zeitlichen Zusammenhang mit der Trunkenheitsfahrt stehenden Vorfällen vom 11. Februar 2018 und 29. Juni 2019 gezeigt haben, somit als sonstige Tatsachen i.S.d. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV die Annahme von Alkoholmissbrauch.
Ob eine weitere Zusatztatsache in dem hilflosen Zustand des Antragstellers nach Alkoholkonsum am 3. März 2019 zu sehen ist (so Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, S. 253), kann damit dahinstehen.
dd) Schließlich genügt die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens den formellen Anforderungen des § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV, die der Antragsteller der Sache nach anspricht, wenn er die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gesamtschau in der Anordnung selbst vermisst.
Nach § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV legt die Fahrerlaubnisbehörde unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und unter Beachtung der Anlagen 4 und 5 in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens fest, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind. Gemäß § 11 Abs. 6 Satz 2 Halbs. 1 FeV teilt die Behörde dem Betroffenen unter Darlegung der Gründe für die Zweifel an seiner Eignung und unter Angabe der für die Untersuchung in Betracht kommenden Stelle oder Stellen mit, dass er sich innerhalb einer von ihr festgelegten Frist auf seine Kosten der Untersuchung zu unterziehen und das Gutachten beizubringen hat. Außerdem ist ihm mitzuteilen, dass er die zu übersendenden Unterlagen einsehen kann (§ 11 Abs. 6 Satz 2 Halbs. 2 FeV). Diese formellen Anforderungen an den Inhalt einer Beibringungsanordnung sollen es dem Betroffenen ermöglichen, eine fundierte Entscheidung darüber zu treffen, ob er sich der geforderten Begutachtung unterziehen will oder nicht (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 21; B.v. 5.2.2015 – 3 B 16.14 – DAR 2015, 216 = juris Rn. 8). Die Aufforderung muss daher im Wesentlichen aus sich heraus verständlich sein und der Betroffene muss ihr entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das dort Mitgeteilte die behördlichen Zweifel an der Fahreignung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 a.a.O.; B.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – DAR 2001, 522 = juris Rn. 25; U.v. 9.6.2005 – 3 C 21.04 – DAR 2005, 578 = juris Rn. 23; VGH BW, U.v. 14.9.2004 – 10 S 1283/04 – NJW 2005, 234 = juris Rn. 19; OVG RhPf, B.v. 10.8.1999 – 7 B 11398/99 – DAR 1999, 518 = juris Rn. 9).
Diesen Anforderungen genügt die Gutachtensanordnung. Das Landratsamt führt im Rahmen seiner „Beurteilung“ zwar nicht ausdrücklich aus, dass sich die Eignungszweifel aus der Trunkenheitsfahrt vom 28. Juli 2019 und den weiteren, unter der Überschrift „Erkenntnisse“ genannten Vorfällen in der Zusammenschau ergeben. Da das Landratsamt diese Vorfälle ausdrücklich als Erkenntnisse mit heranzieht und im Übrigen auch im Rahmen der Beurteilung auf den gesamten vorgenannten Sachverhalt verweist, lässt die Begründung jedoch erkennen, dass es seine Zweifel nicht nur aus der Trunkenheitsfahrt, die den Ausschlag für die Anordnung gegeben hat, sondern auch aus diesen Ereignissen mit Kontrollverlust und hoher Alkoholisierung schöpft. Anhand dieser Angaben war es dem Antragsteller möglich, die Berechtigung der Zweifel des Landratsamts an seiner Fahreignung, ggf. mit Hilfe eines Rechtsanwalts, zu überprüfen.
3. Die Beschwerde war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1 und Nr. 46.2 sowie Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Die Fahrerlaubnis der Klasse A1 wurde dem Antragsteller am 25. September 1998 erteilt und ist nach Abschnitt A I Nr. 9 der Anlage 3 zur FeV nicht mit einer Einschränkung, sondern mit der Schlüsselzahl 79.05 versehen, gilt also nach Abschnitt B I Nr. 128 der Anlage 9 zur FeV für Krafträder der Klasse A1 mit einem Leistungsgewicht von mehr als 0,1 kW/kg. Damit ist sie streitwerterhöhend zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2015 – 11 ZB 14.2498 – juris Rn. 13). Die Befugnis zur Änderung des Streitwertbeschlusses in der Rechtsmittelinstanz von Amts wegen folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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