Verwaltungsrecht

Anspruch eines Syrers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  AN 15 K 17.31172

Datum:
2.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 164889
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a, § 3b Abs. 1 Nr. 5, § 28 Abs. 1a
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf ein Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn ein Asylsuchender im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Februar 2017 wird in der Ziffer 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die aufgrund der Verzichtserklärungen der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist begründet.
Die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 und der Kläger mit Schriftsatz vom 20. April 2017 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Streitgegenstand ist vorliegend die Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes vom 20. Februar 2017 und somit die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG besitzt.
Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), da dem Kläger im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zusteht.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl, 1953 II S. 559, 560-Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung kann dabei gemäß § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen, § 3e AsylG. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013, a.a.O. und 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Diese Vermutung kann aber wiederlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris).
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf ein Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Dabei greift für derartige Nachfluchttatbestände in einem Erstverfahren die Einschränkung des § 28 Abs. 2 AsylG nicht, wonach bei einem Folgeantrag Nachfluchtgründe in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht begründen können.
Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr politischer Verfolgung begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.04.1985, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 32). Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 8.5.1984, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 147).
An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerfG, B.v. 29.11.1990, die InfAuslR 1991, 94, 95; BVerwG, U.v. 30.10.1990, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 134; B.v. 21.7.1989, Buchholz a.a.O., Nr. 113).
In Anwendung dieser Grundsätze droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Zwar ist der Kläger nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben könnten, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht.
Eine begründete Flucht vor Verfolgung ergibt sich aber aus den Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat. Mithin liegen Nachfluchtgründe im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG vor.
Es ergeben sich derartige Nachfluchtgründe nicht aus dem Umstand, dass der aus Syrien ausgereiste Kläger in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände allein rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen. Das erkennende Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 (Az. 21 B 16.30338, 21 B 16. 30364 und 21 B 16.30371 – juris) an, der nach Auswertung der maßgeblichen und auch in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu diesem Ergebnis kommt.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht aber deshalb, weil sich der Kläger durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat. Als 16-Jähriger ist der Kläger zum momentanen Zeitpunkt zwar noch nicht grundsätzlich in Syrien wehrpflichtig, da dort eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis 42 Jahren besteht (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada – Antwort auf Informationsanfragen v. 13. August 2014, SYR104921.E, S. 5). Aufgrund der aktuellen Hinweise des United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR – (Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCRLänderleitfadens für Syrien vom Februar 2017) wird die allgemeine Wehrdienstpflicht in Syrien für Männer im Alter von 18 – 42 Jahren jedoch nicht stringent in der Praxis umgesetzt, sondern vielmehr dahingehend unterbrochen, dass bereits junge Männer im Alter zwischen 16 und 40 Jahren von den Grenzbehörden besonders verfolgt werden, sodass der Kläger auch unter den schützenswerten Personenkreis fällt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 23. März 2017, worin über Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen sowohl in die syrische Armee wie auch in die paramilitärischen Selbstverteidigungseinheiten berichtet wird). In den ersten Kriegsjahren seien hiernach die meisten Kinder, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert worden seien, im Alter zwischen 15 und 17 Jahren gewesen. Seit 2014 würden alle Gruppen immer jüngere Kinder rekrutieren.
Die Wehrpflicht des Klägers entfällt auch nicht vor dem Hintergrund der sogenannten „EinSohn-Regelung“, wonach der einzige Söhne einer Familie nicht wehrpflichtig ist (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016, Az. 21 B 16.30371 – juris), da der Kläger vor dem Bundesamt im Zuge seiner Anhörung glaubwürdig angegeben hat, noch einen Halbbruder väterlicherseits zu haben, der namentlich auch durch die Beklagte in dem Verwaltungssystem Maris gefunden wurde. Vor diesem Hintergrund ist es nach Auffassung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2 EMRK, Art. 3 EMRK). Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber um des Erhalts ihrer infolge des syrischen Bürgerkriegs bedrohten Herrschaft willen mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Wehrdienst entzogen hat, bei Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung als Oppositionellen behandeln (vgl. zu alldem BayVGH, U.v. 12.12.2016, Az. 21 B 16.30372 – juris – und den darin ausgewerteten und zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen).
Der Kläger gehört auch zu der Personengruppe der militärdienstpflichtigen Personen (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich im Bürgerkrieg nicht den Regierungstruppen des Präsidenten Assad zur Verfügung gestellt haben, da er zum Zeitpunkt seiner Ausreise noch minderjährig gewesen ist.
Nach alledem ist der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO, § 711 ZPO.


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