Zivil- und Zivilprozessrecht

Richterablehnung: Besorgnis der Befangenheit bei Beteiligung eines Richters an einer gegen eine Prozesspartei gerichtete Musterfeststellungsklage – Befangenheit, Musterfeststellungsklage

Aktenzeichen  III ZB 57/20

Datum:
25.3.2021
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:250321BIIIZB57.20.0
Normen:
§ 42 Abs 2 ZPO
§ 608 Abs 1 ZPO
Spruchkörper:
3. Zivilsenat

Leitsatz

Befangenheit, Musterfeststellungsklage
Die Beteiligung eines Richters an einer gegen eine Prozesspartei gerichteten Musterfeststellungsklage kann insbesondere dann, wenn darin der Vorwurf einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung erhoben wird, die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. Dies gilt auch, wenn ein eigenes wirtschaftliches Interesse des Richters am Ausgang des Rechtsstreits ausgeschlossen ist, weil der Richter mit der Beklagten der Musterfeststellungsklage einen Vergleich abgeschlossen hat, und dieser Vergleich noch nicht lange Zeit zurückliegt.

Verfahrensgang

vorgehend BGH, 17. Februar 2021, Az: III ZB 57/20, Beschlussvorgehend OLG Frankfurt, 21. September 2020, Az: 8 U 74/20, Beschlussvorgehend LG Limburg, 19. Februar 2020, Az: 2 O 201/19

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. September 2020 – 8 U 74/20 – aufgehoben.
Das Ablehnungsgesuch der Beklagten vom 24. Juli 2020 gegen die Richterin am Oberlandesgericht B.     wird für begründet erklärt.
Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens: 72.592,75 €

Gründe

I.
1
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schadensersatz unter dem Vorwurf, in den Dieselmotor EA 897 eines von ihr erworbenen PKW (Typ VW Touareg V6 TDI) mehrere unzulässige Abschaltautomatiken (unter anderem sogenannte Thermofenster) eingebaut zu haben.
2
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Die für die Berufung geschäftsplanmäßig zuständige Berichterstatterin hat angezeigt, sich der im Zusammenhang mit der Motorsteuerungsproblematik bei Motoren des Typs EA 189 geführten Musterfeststellungsklage vor dem Oberlandesgericht Braunschweig gegen die Beklagte angeschlossen und in dem dortigen Verfahren mit der Beklagten einen Vergleich abgeschlossen zu haben. Daraufhin hat die Beklagte die Berichterstatterin wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
3
Das Berufungsgericht hat das Ablehnungsgesuch als unbegründet zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Beklagte ihr Gesuch weiter.
II.
4
Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 ZPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg.
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1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, ein Ablehnungsgrund im Sinne des § 42 Abs. 2 ZPO liege nicht vor. Ein eigenes wirtschaftliches Interesse der abgelehnten Richterin am Ausgang des Rechtsstreits sei nicht erkennbar. Nach dem Zustandekommen des Vergleichs seien weitergehende Ansprüche der Richterin gegen die Beklagte aus der “Diesel-Problematik” ausgeschlossen. Auch die Befassung der Richterin mit einer vergleichbaren Fallgestaltung führe nicht zu der Befürchtung, diese habe sich für die Würdigung der hier betroffenen Fallgestaltung bereits festgelegt. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass ein Richter auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantrete, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe. Zwar könnten besondere Umstände des Einzelfalls im Ablehnungsverfahren berücksichtigt werden, wozu die atypische Vorbefassung in verschiedenen Ausprägungen gehöre. Die insoweit ergangene Rechtsprechung habe jedoch individualisierte Sachverhalte vor Augen gehabt, bei denen der Richter “doppelt” tätig geworden sei. Darum gehe es hier nicht. Die abgelehnte Richterin sei als Käuferin eines PKW der Herstellermarke VW mit einem Motor EA 189 eine von vielen tausend in gleicher Weise betroffenen Autokäufern. Dass die abgelehnte Richterin von der Möglichkeit, in dem Musterfeststellungsverfahren etwaige Rechte aus diesem Autokauf gegen die Beklagte geltend zu machen, Gebrauch gemacht habe, rechtfertige es nicht, vernünftigerweise ihre Unparteilichkeit in einem Rechtsstreit in Frage zu stellen, der keinen Motor der Baureihe EA 189 betreffe. Aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. Dezember 2019 (II ZB 14/19, NJW 2020, 1680) folge nichts anderes. Zum einen sei dort das Musterfeststellungsverfahren noch nicht abgeschlossen gewesen; zum anderen stelle dieser Beschluss maßgeblich auf den Motortyp EA 189 ab, um den es hier nicht gehe.
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2. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.
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a) Gemäß § 42 Abs. 2 ZPO ist die Befangenheit eines Richters zu besorgen, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter eine Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Maßgeblich ist, ob aus Sicht der ablehnenden Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 10. Dezember 2019 aaO Rn. 9 und vom 28. Juli 2020 – VI ZB 94/19, NJW 2020, 3458 Rn. 7, jeweils mwN). Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt bereits der “böse Schein”, das heißt der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität (BGH aaO). Misstrauen gegen die Unvoreingenommenheit eines Richters ist unter anderem dann gerechtfertigt, wenn objektive Gründe dafür sprechen, dass er auf Grund eines eigenen – sei es auch nur mittelbaren – wirtschaftlichen Interesses am Ausgang des Rechtsstreits der Sache nicht unvoreingenommen und unparteiisch gegenübersteht (BGH aaO). Darüber hinaus kann die Besorgnis der Befangenheit im Sinne von § 42 Abs. 2 ZPO begründet sein, wenn ein Richter in einem Verfahren zwar nicht selbst Partei ist, aber über den gleichen Sachverhalt zu entscheiden hat, aus dem er selbst Ansprüche gegen eine Partei geltend macht. Aus der Sicht einer Partei, gegen die ein Richter Ansprüche erhebt, kann Anlass zu der Befürchtung bestehen, dass dieser Richter die Würdigung des Sachverhalts, wie er sie dem von ihm verfolgten Anspruch gegen die Partei zugrunde gelegt hat, auf das Verfahren gegen eine andere Partei, dem der gleiche Sachverhalt zugrunde liegt, überträgt und wie in der eigenen Sache urteilt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Dezember 2019 aaO Rn. 10 und vom 28. Juli 2020 aaO Rn. 8).
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b) Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Ablehnungsgrund vor.
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aa) Zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings ausgeführt, dass ein eigenes wirtschaftliches Interesse der Richterin am Ausgang des Rechtsstreits nicht erkennbar ist, nachdem die Geltendmachung ihrer Ansprüche durch den mit der Beklagten abgeschlossenen Vergleich einen Abschluss gefunden hat.
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bb) Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht auch dargelegt, dass keiner der Fälle einer Befangenheit wegen “atypischer Vorbefassung” vorliegt, in denen der Richter in einer beruflichen oder dienstlichen Funktion zuvor mit einer vergleichbaren Fallgestaltung oder den Parteien befasst gewesen war (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 2. November 2016 – AnwZ (Brfg) 61/15, AnwZ (B) 2/16, NJW-RR 2017, 187 ff; Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, 17. Aufl., § 42 Rn. 14; BeckOK-ZPO/Vossler, § 42 Rn. 16a [Stand 1. Dezember 2020]).
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cc) Rechtsfehlerhaft sind aber die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht die Beteiligung der abgelehnten Richterin an dem Musterfeststellungsverfahren für unerheblich erachtet hat. Die Anmeldung ihrer Ansprüche dort ist geeignet, aus Sicht der Beklagten den Anschein der Parteilichkeit zu begründen.
12
(1) Zwar trägt das Verfahren der Musterfeststellungsklage dem Umstand Rechnung, dass Verbraucher es aus “rationalem Desinteresse” versäumen könnten, ihre Rechte geltend zu machen (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage BT-Drucks. 19/2439, S. 1, 14 ff). Auch trifft es zu, dass der Verbraucher in diesem Verfahren nicht Partei ist, die abgelehnte Richterin also nicht “Prozessgegnerin” der Beklagten war. Dies stellt jedoch nicht in Frage, dass die Richterin in diesem Verfahren gegenüber der Beklagten keine neutrale Haltung einnahm, sondern als deren Gegnerin erschien (vgl. MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl., § 42 Rn. 23). Denn die Anmeldung von Ansprüchen zur Musterfeststellungsklage gemäß § 608 Abs. 1 ZPO dient der effektiven Rechtsdurchsetzung (vgl. BT-Drs. 19/2439 aaO S. 14 f), und der Anmelder bringt hiermit grundsätzlich objektiv zum Ausdruck, dass ihm seiner Auffassung nach ein von den Feststellungszielen des betreffenden Musterfeststellungsverfahrens abhängiger Anspruch zusteht (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2019 aaO Rn. 18). Dementsprechend hat die abgelehnte Richterin mit ihrer Beteiligung am Musterfeststellungsverfahren objektiv zu erkennen gegeben, dass sie ihrer Auffassung nach von Vorstandsmitgliedern und/oder Mitarbeitern der Beklagten vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt (§ 826 BGB) oder betrogen (§ 823 Abs. 2 BGB iVm § 263 StGB) worden sei (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2019 aaO). Dies bietet bei verständiger Würdigung des Sachverhalts einen Grund für die Befürchtung, die Richterin könne der Beklagten im vorliegenden Verfahren nicht mit der gebotenen Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit gegenübertreten.
13
(2) Eine andere Beurteilung ist nicht deshalb gerechtfertigt, weil es vorliegend um einen Dieselmotor des Typs EA 897 geht und die Richterin die Verfolgung ihres Anspruchs durch den Vergleich mit der Beklagten abgeschlossen hat. Zum einen hat sich die Klägerin zur Begründung ihres Anspruchs ausdrücklich auch auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Motortyp EA 189 berufen (zB Schriftsatz vom 19. August 2020, S. 14 ff). Zum anderen kann angesichts der zeitlichen Nähe zum Vergleichsabschluss nicht mit einer genügenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die abgelehnte Richterin ihre – aus Sicht der Beklagten negative – Haltung inzwischen geändert hätte. Insofern bestehen erhebliche Unterschiede zu der Fallgestaltung, die dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30. Oktober 2014 (V ZB 196/13, MDR 2015, 50) zugrunde lag; zudem haben dort alle Beteiligten erklärt, sie sähen in dem 15 Jahre zurückliegenden Streit keinen Anlass für eine Befangenheit der Richterin (BGH aaO Rn. 6).
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