Steuerrecht

Zugangsfiktion bei Verwaltungsakt – Beweisvorsorge eines Prozessbevollmächtigten

Aktenzeichen  3 K 1239/18

Datum:
1.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StEd – 2020, 621
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
AO § 122 Abs. 2, § 366

 

Leitsatz

1. Zur konkreten Begründung von Zweifeln am Zugang eines Verwaltungsakts innerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO reicht ein abweichender Eingangsvermerk eines Prozessbevollmächtigten auf der Einspruchsentscheidung allein nicht aus.
2. Es besteht dann eine Obliegenheit zur Beweisvorsorge eines Prozessbevollmächtigten, wenn er als Adressat eines durch die Post übermittelten Verwaltungsakts einen atypisch langen Postlauf anhand des Poststempels oder des Bescheiddatums hätte erkennen können.
3. Ein Fristenkontrollbuch oder eine vergleichbare Einrichtung stellt grundsätzlich eine unerlässliche Voraussetzung einer ordnungsmäßigen Büroorganisation zur Wahrung von Ausschlussfristen dar.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Streitig ist die Zulässigkeit der Klage wegen einer verspäteten Klageeinreichung sowie, ob die laut der Satzung einer KGaA vereinbarte zu zahlende variable Haftungs- und Tätigkeitsvergütung zugunsten der Klägerin als persönlich haftende Gesellschafterin der KGaA ein umsatzsteuerpflichtiges Entgelt für Leistungen darstellt.
Die Klägerin ist eine mit Gesellschaftsvertrag vom gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in A. Der Gegenstand ihres Unternehmens ist insbesondere der Erwerb und die Verwaltung von Beteiligungen sowie Übernahme der persönlichen Haftung und der Geschäftsführung bei Handelsgesellschaften, insbesondere die Beteiligung als persönlich haftende, jedoch nicht geschäftsführende, Gesellschafterin und Kommanditaktionärin an der KGaA mit dem Sitz in A sowie die Beteiligung als persönlich haftende Gesellschafterin an der B-KG. Ihr Geschäftsführer ist C.
In ihrer Umsatzsteuererklärung für 2010 vom 12. Januar 2012 errechnete die Klägerin eine Umsatzsteuer von €. In ihrer berichtigten Umsatzsteuererklärung für 2010 vom 14. Juni 2012 errechnete die Klägerin eine Umsatzsteuer von … €.
Bei der Klägerin hatte im Rahmen einer Konzernprüfung der Firma KGaA als für die Haftung sowie für die Geschäftsführung und Vertretung dieses Unternehmens beauftragten Gesellschaft eine Außenprüfung durch den Beklagten (im Folgenden: FA) stattgefunden. Der Prüfungszeitraum umfasste die Jahre 2011 bis 2014. Bezüglich der Umsatzsteuer wurden aufgrund des beim gesamten D-Konzern vorliegenden abweichenden Wirtschafsjahres (31. März) gemäß Prüfungsanordnung vom 26. Oktober 2016 die Jahre 2010 bis 2013 geprüft.
Die Klägerin ist am Stammkapital der KGaA i.H.v. € nicht beteiligt, hat aber eine Sondereinlage i.H.v. € in die KGaA geleistet, für die ihr per Satzung eine Gewinnbeteiligung von 20% zugesagt wurde. Die Gewinnbeteiligung entsprach dem rechnerischen Anteil am Gesamtkapital der KGaA.
Für die Geschäftsführung und Vertretung der KGaA erhielt die Klägerin gemäß § 12 Abs. 1 der Satzung der KGaA die Erstattung aller angemessenen Aufwendungen für die Geschäftsführung sowie nach § 12 Abs. 2 der Satzung jährlich eine variable Haftungs- und Tätigkeitsvergütung zuzüglich gegebenenfalls anfallender Umsatzsteuer, über deren Höhe von der Hauptversammlung nach billigem Ermessen beschlossen wurde.
Die Klägerin hatte aber nur den laufenden Kostenersatz für die Geschäftsführung der Umsatzsteuer unterworfen, nicht jedoch die variablen Haftungs- und Tätigkeitsvergütungen. Die variable Vergütung betrug im Streitjahr €. Diese wurde im Rahmen einer Außenprüfung beanstandet.
Die Klägerin hatte zur Begrenzung des Zinslaufs im Vorgriff auf einen diesbezüglichen Bericht vorläufige berichtigte Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2010 bis 2014 abgegeben. Die am 30. August 2017 eingegangene Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 2010 stand einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Die Klägerin errechnete darin für das Streitjahr 2010 eine Umsatzsteuer in Höhe von €, was laut Abrechnung und Bescheid über Zinsen vom 12. September 2017 zu einer Nachzahlung bei der Umsatzsteuer von € und von € Zinsen führte.
Gegen diese Umsatzsteuer- und Zinsfestsetzung war der Einspruch vom 27. September 2017 gerichtet.
Am 11. Januar 2018 erging der Bericht über die Außenprüfung, woraufhin das FA mit Umsatzsteuerbescheid für 2010 vom 26. Februar 2018 den bestehenden Vorbehalt der Nachprüfung aufhob. Änderungen bei der festgesetzten Umsatzsteuer ergaben sich nicht.
Mit der an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin adressierten und am Freitag, den 23. März 2018 zur Post gegebenen Einspruchsentscheidung wies das FA den Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid 2010 vom 12. September 2017 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 26. Februar 2018 als unbegründet zurück.
Dagegen ist die am Freitag, den 27. April 2018 beim Finanzgericht München eingegangene Klage gerichtet, die von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin eingereicht wurde.
Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, dass es sich bei der variablen Vergütung um eine gewinnabhängige Vergütung und nicht um ein umsatzsteuerpflichtiges Entgelt für die geschäftsführende Tätigkeit gehandelt habe.
Zu dem weiteren Vorbringen der Klägerin zur Sache wird auf die eingereichten Schriftsätze und zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts auf die Akten verwiesen.
Die Klägerin beantragt,
die Umsatzsteuer für das Jahr 2010 durch Umsatzsteuerbescheid vom 12. September 2017 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 26. Februar 2018 und in Form der Einspruchsentscheidung vom 23. März 2018 um € zu vermindern und auf € festzusetzen.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt das FA zuletzt im Wesentlichen vor, dass die Klage unzulässig sei, weil sie verspätet eingereicht worden sei.
Zu dem weiteren Vorbringen des FA insbesondere auch zur umsatzsteuerrechtlichen Sichtweise wird auf die eingereichte Stellungnahme und die Einspruchsentscheidung verwiesen.
Mit richterlichem Hinweis vom 29. Januar 2020 wurde die Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter anderem darauf hingewiesen, dass die Klage wegen der Überschreitung der einmonatigen Klagefrist unzulässig sein könnte, weil die Klage erst am Freitag, den 27. April 2018 bei Gericht eingelegt worden sei. Die Einspruchsentscheidung sei aber ausweislich der Akten am Freitag, den 23. März 2018 zur Post gegeben worden und gelte damit nach drei Tagen am Montag, den 26. März 2018 als bekanntgegeben.
Das FA teilte daraufhin mit, dass davon auszugehen sei, dass die Klage verspätet bei Gericht eingegangen sei.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin äußerte sich mit Schriftsatz vom 19. Februar 2020 dahingehend, dass die Einspruchsentscheidung erst am Mittwoch den 28. März 2018 bei ihr eingegangen sei. Die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gelte gemäß § 122 Abs. 2 AO nur, wenn die Einspruchsentscheidung nicht zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen sei. Nachweisen könne sie den späteren Zugang durch den von ihr auf der Einspruchsentscheidung angebrachten Eingangsstempel. Die Post werde in ihrem Hause stets einmal täglich zwischen 9:00 und 10:00 Uhr angeliefert. Anschließend werde sämtliche Post von ihrem Empfang umgehend geöffnet und alle Dokumente würden mit einem Posteingangsstempel versehen. Im unmittelbaren Anschluss daran werde die Post an den verantwortlichen Mitarbeiter weitergegeben. Damit sei organisatorisch ausgeschlossen, dass die Einspruchsentscheidung vor dem 28. März 2018 zugegangen sei. Im Zweifel habe hier der Beklagte den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Aufgrund des Posteingangs am Mittwoch den 28. März 2018 habe die Klagefrist daher am Montag den 30. April 2018 geendet; die Klage sei damit zulässig. Hilfsweise werde bestritten, dass die Einspruchsentscheidung am 23. März 2018 beim Beklagten versendet worden sei.
Mit richterlicher Aufklärungsanordnung vom 26. Februar 2020 wurde der Prozessbevollmächtigten der Klägerin aufgegeben, bis zum 20. März 2020 zum weiteren Nachweis der fristgemäßen Klageerhebung Kopien des Posteingangsbuchs der Kanzlei vom 26. März 2018 bis zum 28. März 2018 vorzulegen.
Mit Schriftsatz vom 6. März 2020 teilte das FA unter Vorlage des Absendevermerks der Einspruchsentscheidung mit, dass diese tatsächlich am 23. März 2018 zur Post gegeben worden sei. Der Absendevermerk sei am 23. März 2018 vom Bediensteten der Poststelle unterschrieben worden.
Mit Schriftsatz vom 18. März 2020 legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine eidesstattliche Versicherung der ehemaligen Mitarbeiterin E der F-AG vor, aus der sich der Zugang der maßgeblichen Einspruchsentscheidung am Mittwoch den 28. März 2018 ergebe. Darin bestätigt Frau E insbesondere, dass die Post während ihres Tätigkeitszeitraums stets einmal täglich am Vormittag angeliefert worden sei. Anschließend sei die Post vom Empfang umgehend geöffnet und alle Dokumente seien mit einem Posteingangsstempel versehen worden. Durch die Organisation des Postlaufs sei sichergestellt gewesen, dass die Eingangspost an demselben Tag, an dem sie in der Niederlassung eingegangen sei, an den zuständigen Sachbearbeiter übermittelt worden sei. Für die Einspruchsentscheidung vom 23. März 2018 könne sie bestätigen, dass sie durch ihr Kurzzeichen den Posteingang am 28. März 2018 bestätigt habe. Mit vorgenanntem Schriftsatz legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin zugleich eine E-Mail ihres ehemaligen Mitarbeiters Steuerberater G an H vor, aus der sich ebenfalls der Zugang der Einspruchsentscheidung am 28. März 2018 ergebe. In dieser E-Mail schreibt H unter anderem, dass „… der Einspruch am 28.03.2018 bei uns eingegangen ist. Das heißt, die Frist zur Erhebung der Klage endet mit Ablauf des 30.04.2018. …“.
Mit richterlichem Hinweis vom 30. März 2020 wurde die Prozessbevollmächtigte der Klägerin darauf hingewiesen, dass das Gericht nach derzeitigem Sachstand davon ausgehe, dass die Vertreterin der Klägerin entweder kein Posteingangsbuch vorlegen könne oder dass sich in diesem keine Eintragung für den Zugang der Einspruchsentscheidung vom 23. März 2018 finde. Das Gericht gehe weiter davon aus, dass der Briefumschlag der genannten Einspruchsentscheidung nicht mehr vorgelegt werden könne. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin wurde zusätzlich auf die einschlägige, vom Gericht zu berücksichtigende Rechtsprechung hingewiesen.
Mit Schriftsatz vom 4. Mai 2020 teilte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit, dass die Vorlage des Posteingangsbuchs ihres Erachtens nicht ausschlaggebend für den Nachweis des späteren Zugangs sein könne. Steuerberater sowie Rechtsanwälte seien nicht verpflichtet, ein Posteingangsbuch zu führen, um ihrer Verpflichtung an eine ordnungsgemäße Büroorganisation zu genügen. Sie müssten wegen der verfahrensrechtlichen Bedeutung von Fristen dafür Sorge tragen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig hergestellt und innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingereicht werde. Wie der bereits vorgelegten E-Mail zu entnehmen sei, sei die Frist vom Steuerberater H ausgehend vom späteren Zugang erfasst und dem Mandanten mitgeteilt worden. Die Frist sei entsprechend überwacht und die Klage innerhalb dieser Frist beim Finanzgericht eingereicht worden. Als weiteren Nachweis zur fristgerechten Klageerhebung legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine weitere E-Mail des Steuerberaters H an den Niederlassungsleiter Dr. I vor. In dieser auf den 28. März 2018 datierten E-Mail schrieb H, dass „… wir heute die Einspruchsentscheidung für 2010 bekommen haben. …“.
Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.
II.
Die Klage ist unzulässig.
Sie ist verspätet eingelegt worden.
1. Gemäß § 47 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf, die Einspruchsentscheidung. Die begründete Einspruchsentscheidung kann auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 der Abgabenordnung – AO – i.V.m. § 122 Abs. 2 AO). In diesem Fall gilt eine Einspruchsentscheidung nach der besonderen Bekanntgaberegelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO mit dem dritten Tage nach ihrer Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
a) Die Regelung des § 122 Abs. 2 AO fingiert den Zugang eines mit der Post übermittelten Verwaltungsakts am dritten Tag nach dessen Aufgabe zur Post. Die Vorschrift enthält eine an den Tag der Aufgabe des Verwaltungsaktes zur Post anknüpfende Zugangsvermutung und darüber hinaus eine Zugangsfiktion (Bundesfinanzhof-BFH-Beschlüsse vom 1. Dezember 2010 VIII B 123/10, BFH/NV 2011, 410, Rz. 5 und vom 26. Januar 2010 X B 147/09, BFH/NV 2010, 1081, Rz. 5 sowie Urteil vom 9. Dezember 2009 II R 52/07, BFH/NV 2010, 824, Rz. 27).
Mit § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wollte der Gesetzgeber – zugunsten wie zuungunsten des Adressaten – generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Zugangs eines Bescheids weitgehend ausschließen (BFH-Beschluss vom 26. Januar 2010 X B 147/09, BFH/NV 2010, 1081 und Urteil vom 13. Dezember 2000 X R 96/98, BStBl II 2001, 274, Rz. 9).
b) Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern den Erhalt innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, so hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Hierzu muss er Tatsachen vortragen, die den Schluss darauf zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post ernstlich in Betracht zu ziehen ist (BFH-Urteile vom 17. Juni 1997 IX R 79/95, BFH/NV 1997, 828, Rz. 6 und vom 3. Mai 2001 III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365, Rz. 12 sowie BFH-Beschluss vom 20. April 2011 III B 124/10, BFH/NV 2011, 1110, Rz. 7). An diese Substantiierung sind aber keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, damit die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Finanzverwaltungsbehörde trifft, nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH-Urteil vom 3. Mai 2001 III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365, Rz. 12 und Beschluss vom 20. April 2011 III B 124/10, a.a.O.)
c) Hat der Steuerpflichtige seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, dann obliegt es dem Gericht, den Vortrag des Steuerpflichtigen und die festgestellten oder unstreitigen Umstände im Wege freier Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO abzuwägen. Auf die Beweislastregel des § 122 Abs. 2 Halbsatz 2 AO kann erst dann zurückgegriffen werden, wenn trotz erfolgter Sachaufklärung noch Zweifel am gesetzlich vermuteten Zugang eines Bescheides verbleiben (BFH-Urteil vom 3. Mai 2001 III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365, Rz. 13 und Beschlüsse vom 30. November 2006 XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389, Rz. 9 sowie vom 26. Oktober 1998 X B 117/98, BFH/NV 1999, 450, Rz. 3).
Zu einem substantiierten, auf einen verspäteten Zugang hindeutenden Tatsachenvortrag kann etwa die Vorlage des betreffenden Briefumschlags des übersendeten Verwaltungsakts dienen (Finanzgericht München, Urteil vom 10. Mai 2012 5 K 1325/11, juris, Rz. 21 und Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. März 2013 4 K 1440/10, juris, Rz. 21; BFH-Beschlüsse vom 16. Mai 2007 V B 169/06, BFH/NV 2007, 1454, Rz. 10 sowie vom 25. Februar 2010 IX B 149/09, BFH/NV 2010, 1115, Rz. 4).
Vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber mit § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Zugangs eines Bescheides weitgehend ausschließen wollte (s.o. in Tz. II.1.a m.w.N.), geht die Rechtsprechung zudem davon aus, dass dann eine Obliegenheit zur Beweisvorsorge besteht, wenn der Adressat einen atypisch langen Postlauf anhand des Poststempels oder des Bescheiddatums hätte erkennen können (vgl. BFH-Beschluss vom 16. Mai 2007 V B 169/06, BFH/NV 2007, 1454, Rz. 10 m.w.N. und Finanzgericht München, Urteil vom 10. Mai 2012 5 K 1325/11, juris, Rz. 21).
d) Bei Übertragung dieser Grundsätze der Rechtsprechung auf den Streitfall ist es der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht zur Überzeugung des Gerichts gelungen, ihr Vorbringen eines atypischen Geschehenslaufs bei der Zustellung der Einspruchsentscheidung vom 23. März 2018 im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren ausreichend zu substantiieren, um ausreichende Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen.
Hier ist insbesondere zu berücksichtigen, dass vorliegend eine Obliegenheit der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zur Beweisvorsorge bestand, denn sie hätte als Adressat der auf den 23. März 2018 datierten Einspruchsentscheidung – bei einem tatsächlichen Zugang erst am 28. März 2018 – einen atypisch langen Postlauf anhand des Poststempels oder des Datums der Einspruchsentscheidung erkennen müssen.
Die Würdigung des Gerichts beruht auf folgenden Erwägungen:
aa) Ausweislich des in der Rechtsbehelfsakte des FA befindlichen mit einer Unterschrift versehenen Absendevermerks mit dem Stempelaufdruck „Abgesandt am 23. März 2018“, in der der Bedienstete des FA versichert, die Einspruchsentscheidung am Tag des Datums der Einspruchsentscheidung zur Post gegeben zu haben, geht das Gericht zunächst davon aus, dass die Einspruchsentscheidung tatsächlich an diesem Tag vom FA zur Post gegeben wurde.
Die vorliegend am Freitag, den 23. März 2018 zur Post gegebene Einspruchsentscheidung gilt dann nach der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am Montag, den 26. März 2018 bekannt gegeben. Die einmonatige Klagefrist begann nach § 54 Abs. 1 FGO am Dienstag, den 27. März 2019 um 0:00 Uhr und endete nach § 54 Abs. 2 FGO, § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am Donnerstag, den 26. April 2018 um 24:00 Uhr. Die am Freitag, den 27. April 2018 bei Gericht eingegangene Klage wurde somit nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist und damit verfristet erhoben.
bb) Zur konkreten Begründung von Zweifeln am Zugang innerhalb dieser Drei-Tages-Frist reicht – entgegen der Ansicht der Prozessbevollmächtigen der Klägerin – ein abweichender Eingangsvermerk der Kanzlei der Prozessvertreterin der Klägerin auf der Einspruchsentscheidung allein nicht aus (BFH-Urteil vom 17. Juni 1997 IX R 79/95, BFH/NV 1997, 828, Rz. 10 und Beschlüsse vom 27. Februar 1998 IX B 29/96, BFH/NV 1998, 1064, Rz. 13 sowie vom 30. November 2006 XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389, Rz. 10), auch wenn dieser als private Urkunde zu beurteilen wäre. Mit diesem Stempel kann lediglich belegt werden, dass die Einspruchsentscheidung am Tag der Stempelung in die interne Bearbeitung der Steuerkanzlei gelangt ist. Er ist für sich allein aber kein Nachweis dafür, dass auch der Eingang des Schriftstücks an diesem Tag erfolgte.
Die hier aus Sicht der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mögliche Rechtsfrage, ob die Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO jedenfalls dann nicht gelte und stattdessen auf den tatsächlichen Zugang des Verwaltungsakts abzustellen sei, wenn dieser Zeitpunkt unstreitig feststehe oder eindeutig – z.B. durch einen Posteingangsstempel auf dem Original des Bescheids – nachgewiesen werden könne, und die Anwendung der Fiktion unter Außerachtlassung des tatsächlichen Geschehensablaufs zu gravierenden Nachteilen für den Steuerpflichtigen führe, ist durch die Rechtsprechung geklärt. Die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts wird im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf dieser Frist fingiert. Die Existenz und die Wirksamkeit des Verwaltungsakts treten nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO mit Ablauf der Drei-Tages-Frist ein (BFH-Urteil vom 13. Dezember 2000 X R 96/98, BFHE 193, 512, BStBl II 2001, 274 und Beschluss vom 26. Januar 2010 X B 147/09, juris, Rz. 5).
cc) Eine als mögliche anwaltliche Versicherung zu wertende Erklärung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Verlauf des Klageverfahrens genügt zur Glaubhaftmachung des Zugangszeitpunkts eines Verwaltungsaktes dann nicht, wenn objektive Beweismittel zur Verfügung gestanden hätten (BFH-Beschluss vom 25. Februar 2010 IX B 149/09, BFH/NV 2010, 1115, Rz. 4). Auch eine eidesstattliche Versicherung – wie sie hier von der ehemaligen Mitarbeiterin der Prozessbevollmächtigten E abgegeben wurde – ist zur Glaubhaftmachung eines Sachverhalts nur geeignet, wenn zu diesem Zweck – außer der eigenen Erklärung des Antragstellers oder dritter Personen – keine weiteren Mittel der Glaubhaftmachung zur Verfügung stehen (BFH-Beschluss vom 28. November 2003 V R 3/03, BFH/NV 2004, 524, Rz. 12). Derartige „Mittel“ hätten im Streitfall aber etwa mit der Führung eines Posteingangs- oder Fristenkontrollbuchs oder der Vorlage des Umschlags der Einspruchsentscheidung zur Verfügung gestanden.
Im Streitfall wurde von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin – auch nach einem entsprechenden richterlichen Hinweis – allerdings weder ein Posteingangs- oder ein Fristenkontrollbuch vorgelegt; nach den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung sind derartige Aufzeichnungen auch nicht geführt worden. Ein Fristenkontrollbuch oder eine vergleichbare Einrichtung stellt aber grundsätzlich eine unerlässliche Voraussetzung einer ordnungsmäßigen Büroorganisation zur Wahrung von Ausschlussfristen dar (BFH-Urteil vom 31. Mai 2005 I R 103/04, BStBl II 2005, 623, Rz. 16). Das Fehlen dieser Aufzeichnungen kann deshalb z.B. eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO verhindern. Im Streitfall kommt es zwar nicht auf ein „Verschulden“ im Sinne von § 56 Abs. 1 FGO an, die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat sich aber durch das Fehlen dieser Aufzeichnungen einer weiteren Möglichkeit zum Nachweis eines atypischen Geschehensverlaufs bei der Anwendung der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO beraubt.
dd) Es liegen auch keine weiteren konkreten Anhaltspunkte für einen Zugang der Einspruchsentscheidung erst nach Ablauf der Drei-Tages-Fiktion und damit zum Nachweis eines atypischen Geschehensverlaufs vor.
So konnte der Briefumschlag der Einspruchsentscheidung – der eventuell einen vom Datum der Einspruchsentscheidung abweichen Poststempel aufweisen könnte – nicht von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorgelegt worden. Bei dem Datumsvermerk auf dem Briefumschlag handelt es sich um eine öffentliche Urkunde mit – jedenfalls für den Empfänger – entscheidender Beweiskraft (BFH-Beschluss vom 7. August 1970 VI R 24/67, BStBl II 1970, 814, Rz. 12).
Auch die von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zur Unterstützung ihres Vorbringens des Eingangs der Einspruchsentscheidung erst am 28. März 2018 vorgelegten E-Mails ihrer Mitarbeiter stellen zur Überzeugung des Gerichts keinen ausreichenden Nachweis eines atypischen Geschehensablaufes dar, denn diese Nachrichten dokumentieren lediglich, dass die zur Bearbeitung der Sache zuständigen Steuerberater in der Kanzlei den Vorgang an diesem Tag erhalten haben. Inhaltlich „bauen“ diese am 28. März 2018 erstellten Nachrichten aber lediglich darauf auf, dass der Eingangsstempel der Kanzlei an diesem Tag auf diesem Schriftstück angebracht wurde und dass dieses sodann sogleich intern weitergeleitet wurde.
ee) In Anbetracht dessen, dass die Einspruchsentscheidung vom 23. März 2018 hier – folgt man der Einlassung der Klägerin – erst fünf Tage nach deren Versand (am 28. März 2020) bei ihrer Prozessbevollmächtigten eingegangen sein soll, hätte zum substantiierten Nachweis dieses (aus Sicht der Prozessbevollmächtigten der Klägerin offensichtlich) verspäteten Zugangs eine bessere Beweisvorsorge getroffen werden müssen.
Das bloße Anbringen eines Eingangsstempels auf der Einspruchsentscheidung, die allgemeine Versicherung einer ordnungsgemäßen Büroorganisation und die Vorlage einer dahingehenden eidesstattlichen Versicherung einer Mitarbeiterin stellen in diesem besonderen Fall keine ausreichende Beweisvorsorge für das Vorliegen eines atypischen Geschehensverlaufs bei der Anwendung der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 AO dar. Letztlich wird mit dem Stempel lediglich dokumentiert, dass er an einem bestimmten Tag auf einem Dokument angebracht worden sein soll, das ist aber noch kein objektiver Nachweis dafür, dass dieses Dokument auch tatsächlich an diesem Tag in der Kanzlei eingegangen ist (vgl. oben in Tz II.1.d.bb).
Neben dem hier bestehenden Gebot der Beweisvorsorge unterscheidet das den Streitfall auch von der Entscheidung des BFH vom 3. Mai 2001 (III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365, Rz. 15 f.), in dem neben den vorgenannten Beweismitteln noch ein Fristenkontrollbuch zur Unterstützung des Tatsachenvortrags vorgelegt werden konnte.
ff) Die Klägerin muss sich das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten hier zurechnen lassen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO).
e) Vorliegend kommt auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht.
Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm nach § 56 Abs. 1 FGO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO ist der Antrag binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Gemäß § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Ein Wiedereinsetzungsantrag ist nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO zwar nicht erforderlich, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden ist. Aber auch in diesem Fall sind die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung begründen können, innerhalb der Antragsfrist vorzutragen und glaubhaft zu machen (Gräber/Stapperfend FGO § 56 Rn. 125, m.w.N.).
Diese Frist hat die Klägerin bzw. deren Prozessbevollmächtigte indes nicht gewahrt.
Selbst wenn man das Vorbringen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Schriftsatz vom 19. Februar 2020, bei Gericht per Fax am 21. Februar 2020 eingegangen, als Begründung für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auslegen könnte, wäre diese nicht innerhalb der Zweiwochenfrist bei Gericht eingegangen. Denn diese Frist hat mit Zugang des richterlichen Hinweises vom 29. Januar 2020 (versendet am Donnerstag, den 30. Januar 2020) bei der Prozessbevollmächtigten zu laufen begonnen, weil die Prozessbevollmächtigte ab diesem Zeitpunkt wusste, dass von einem verspäteten Klageeingang auszugehen war. Ausgehend von einem Zugang am Montag, den 3. Februar 2020 wäre die Frist am 21. Februar 2020 jedenfalls abgelaufen gewesen.
Im Übrigen hätte der Klägerin auch wegen Verschulden der Prozessbevollmächtigten keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden können (vgl. oben in Tz. II.1.d) cc); BFH-Urteil vom 31. Mai 2005 I R 103/04, BStBl II 2005, 623, Rz. 16).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.


Ähnliche Artikel

Steuererklärung für Rentner

Grundsätzlich ist man als Rentner zur Steuererklärung verpflichtet, wenn der Grundfreibetrag überschritten wird. Es gibt allerdings Ausnahmen und Freibeträge, die diesen erhöhen.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben