Aktenzeichen 6 Ds 506 Js 37436/16
Leitsatz
1. Ein unerlaubter Aufenthalt eines Ausländers liegt nicht vor und der Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist nicht erfüllt, wenn zwar der erforderliche Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG fehlt, der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig ist und ihm eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, jedoch dessen Abschiebung hätte ausgesetzt und eine Duldung hätte erteilt werden müssen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Strafgerichte dürfen sich nicht mit der Feststellung der Verwaltungsbehörde begnügen, der Ausländer sei nicht im Besitz einer Duldung nach § 60a AufenthG gewesen, sondern haben selbständig zu prüfen, ob eine Duldung (hier aufgrund der erneuten Überprüfung des Falles durch das BAMF nach eingetretenem Kirchenasyl) hätte erteilt werden müssen (im Ergebnis bestätigt durch Verwerfung der Sprungrevision der StA durch Urteil des OLG München BeckRS 2018, 7552). (Rn. 23 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Der Angeklagte … wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.
Angewendete Vorschriften:
§ 467 Abs. 1 StPO
Gründe
I.
1. Dem Angeklagten wurde von der Staatsanwaltschaft mit Anklageschrift vom 06.07.2017, unverändert zugelassen durch Beschluss des Amtsgerichts Freising vom 13.10.2017 folgender Sachverhalt zur Last gelegt:
Als nigerianischer Staatsbürger unterliegt der Angeklagte den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes.
Vom 17.02.2016 (Zeitpunkt der Vollziehbarkeit des Abschiebebescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28.01.2016) bis 21.10.2016 (Ausstellung einer Duldung) hielt der Angeklagte sich im Bundesgebiet auf, obwohl er wusste, dass er den für den Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besaß. Der Angeklagte hielt sich hierbei unter seiner Wohnanschrift in der G. Straße 1 in F. und im Zeitraum vom 15.07.2016 bis vermutlich 20.11.2016 an der Anschrift Pfarrei St. J., H.str. 27, Freising, auf.
Er wusste, dass er seit 17.02.2016 vollziehbar ausreisepflichtig war, ihm eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen war und seine Abschiebung nicht ausgesetzt war.
Der Angeklagte habe sich durch den vorgenannten Sachverhalt eines unerlaubten Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2, 4 AufenthG strafbar gemacht.
2. Mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft wurde die Verfolgung gemäß § 154 a Abs. 2 StPO auf den Zeitraum des Aufenthalts vom 15.07.2016, Beginn des Kirchenasyls – 21.10.2016 beschränkt. Desweiteren wurde mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 a Abs. 2 StPO von einer Verfolgung wegen etwaigen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass gemäß §§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 3 AufenthG im Zeitraum vom 17.02.2016 bis 20.11.2016 abgesehen.
3. Das Gericht hat in Bezug auf den verbliebenen Zeitraum den Sachverhalt so festgestellt, wie er in der Anklageschrift geschildert wurde. Insoweit wird auf Ziffer I.1. Bezug genommen. Darüber hinaus hat das Gericht folgenden Sachverhalt ergänzend bzw. konkretisiert festgestellt:
Der Angeklagte wusste spätestens mit Eintritt in das Kirchenasyl am 15.07.2016, dass er den für den Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besaß. Die Ausländerbehörde verzichtete auf Geheiß der Regierung von Oberbayern und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgrund seines Aufenthalts im Kirchenasyl auf die Vollziehung des Bescheids vom 28.01.2016. Das BAMF hat in einer Vereinbarung mit der evangelischen und katholischen Kirche 24.02.2015 erklärt, dass es nicht beabsichtigt, die Tradition des Kirchenasyls an sich in Frage zu stellen. Ein Meldeverfahren zwischen Ausländerbehörden, BAMF und Kirchen wurde etabliert. Die Pfarrei St. Jakob vom BAMF bezüglich des vereinbarten Verfahrens mit Schreiben vom 04.08.2016 informiert. Die vereinbarten Meldungen wurden von der Zeugin … am Tag des Eintritts in das Kirchenasyl vorgenommen. Der Angeklagte beendete seinen Aufenthalt in der Pfarrei St. Jakob, das Kirchenasyl, am 19.10.2016 und stellte am gleichen Tag in München Antrag, das Asylverfahren im nationalen Verfahren durchzuführen. Am 21.10.2016 wurde ihm eine Duldung bis 22.11.2016 erteilt. Die Frist zur Überstellung des Angeklagten nach Italien gem. Art. 29 Dublin-III-Verordnung lief spätestens am 03.09.2016 ab.
II. Der Angeklagte war aus Rechtsgründen bezüglich des verbleibenden abzuurteilenden Zeitraums vom 15.07.2016 bis 21.10.2016 freizusprechen.
1. Der festgestellte Sachverhalt steht fest aufgrund der Angaben des Verteidigers sowie der Zeugen … sowie der verlesenen Urkunden und Schriftstücke. Diese gaben übereinstimmend an, dass der Angeklagte sich am 15.07.2016 in das Kirchenasyl bei Pfarrer … begeben habe; das Kirchenasyl habe er am 19.10.2016 verlassen, um am gleichen Tag einen Asylfolgeantrag bzw. den Antrag, das Asylverfahren im nationalen Verfahren durchzuführen, zu stellen. Ab dem 21.10.2016 sei dem Angeklagten dementsprechend auch eine Duldung erteilt worden, gleichwohl er wegen des Übergangs ins nationale Verfahren einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgestattung gehabt habe. Diese fehlerhafte Ausstellung einer Duldung habe möglicherweise daran gelegen, so der Zeuge …, dass man seinen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens im nationalen Verfahren irrtümlich als Folgeantrag gewertet habe, mittlerweile habe der Angeklagte eine Aufenthaltsgestattung.
Wie die Zeugen … bekundeten und dem verlesenen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 28.01.2016 (Bl. 16-19 d.A.) zu entnehmen ist, war der Asylantrag des Angeklagten vom 18.08.2015 am 28.01.2016 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet worden. Der Angeklagte war demnach aus Italien am 06.11.2014 in die Bundesrepublik eingereist, obwohl gemäß der Dublin-III-VO Italien der für sein Asylverfahren zuständige Staat war. Ein entsprechendes Wiederaufnahmeersuchen wurde am 16.10.2015 an Italien gerichtet, auf das die italienischen Behörden bis zum 28.01.2016 nicht antworteten.
Der Angeklagte hatte gegen den Bescheid vom 28.01.2016 mit Schreiben vom 07.02.2016 Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben (Az. M9 16.50076) und mit Schreiben vom 10.02.2016 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt (Az. M 9 S 16.50102). Dieser Antrag wurde durch den in der Hauptverhandlung verlesenen Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 17.02.2016 abgelehnt. (Bl. 78-81 d.Akte) Die Entscheidung wurde nach Angaben der Zeugin … an die Behörde am 03.03.2016 zugestellt, ausweislich des verlesenen Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 06.02.2017 (Bl. 62-67 d.A.) zuletzt am 01.03.2016 zugestellt. Die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Dublin-III-VO lief daher spätestens am 03.09.2016 ab.
Die Zeugen … bekundeten darüber hinaus, dass das Landratsamt Freising jeden Abschiebungsversuch unterlasse, wenn sich ausreisepflichtige Flüchtlinge im „Kirchenasyl“ befänden. Die Abschiebung werde dann auch auf Geheiß des BAMF, der Regierung und des Ministeriums nicht mehr betrieben. Es bestünde diesbezüglich auch eine Vereinbarung zwischen den Kirchenvertretern und dem BAMF. Die Bearbeitungshinweise des Bundesamtes zu Kirchenasylfällen (Bl. 93/94 d.A.), die in der Hauptverhandlung verlesen wurden, wurden und werden nach Angaben der Zeugen … durchgängig beachtet. Die Zeugen … bekundeten, dass sie seitens der Regierung und des Innenministeriums angewiesen seien, nichts mehr zu unternehmen, wenn der Ausländer im Kirchenasyl sei. Es sei in diesen Fällen niemals ein Haftbefehl beantragt worden. Der Angeklagte sei auch nicht zur Festnahme ausgeschrieben worden. Die Zeugin … bekundete zudem, dass man den Ausländern im Kirchenasyl auch nicht auflauern dürfe. Ob es eine schriftliche Weisung und von wem konkret gebe, konnten die Zeugen nicht beantworten. Der Zeuge … bekundete, dass er aber bereits bei der Einarbeitung in die Fälle, daraufhin gewiesen worden sei, in Fällen des Kirchenasyls nichts weiter zu unternehmen. Mittlerweile, so beide Zeugen von der Ausländerbehörde, müssten aber alle Fälle des Kirchenasyls an die Regierung abgegeben werden, die die Bearbeitung übernimmt. Ihres Wissens nach würde es aber nachwievor so gehandhabt, dass man auf keinen Fall das Kirchenasyl mit Gewalt breche.
Gleiches bekundete auch der Zeuge …. Er bearbeite die „Kirchenasylfälle“; es sei ihm kein einziger Fall bekannt, in dem die Polizei auf Geheiß der Ausländerbehörde mit Gewalt in eine Kirche eingedrungen seien. Es gäbe „von oben“ die Weisung, auf keinen Fall in die Kirchen reinzugehen. Haftbefehle würden von den Ausländerbehörden nicht beantragt, nur die Regierung der Oberpfalz habe mal in einem Fall zur Festnahme ausschreiben lassen; in der Regel passiere nicht einmal das. Wenn die Ausländer im Kirchenasyl seien, dürfe man nichts mehr tun.
Pfarrer … habe der Polizei den Eintritt des Angeklagten in das Kirchenasyl noch am 15.07.2016 gemeldet.
In den Bearbeitungshinweisen wurde im Ergebnisvermerk zum Gespräch zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Bevollmächtigten der evangelischen und katholischen Kirchen zum Thema Kirchenasyl vom 24.02.2015, der verlesen wurde, unter anderem folgendes festgehalten:
„[…]
– die Beteiligten stimmen überein, dass das Kirchenasyl kein eigenständiges, neben dem Rechtsstaat stehendes Institut ist, sich jedoch als christlich-humanitäre Tradition etabliert hat.
– Das Bundesamt beabsichtigt nicht, die Tradition des Kirchenasyls an sich in Frage zu stellen.“
Unter 2. Verfahrensabläufe auf Grundlage der Vereinbarung ist festgehalten:
„2.1. Zentraler Bestandteil ist die bis voraussichtlich bis Spätherbst 2015 laufende Pilotphase, in der die Strukturen für die Zusammenarbeit aufgebaut werden sollen. Vorgesehen hierfür ist die Benennung kirchlicher Ansprechpartner […], die ausschließlich Prüffälle zum Kirchenasyl entgegennehmen und diese vorgeprüft mittels Dossiers an das Bundesamt weiterleiten. […] Nach der Registrierung, einer schriftlichen Eingangsbestätigung an den Kirchenvertreter und Meldung an die zuständige Ausländerbehörde sowie die Bundespolizei wird der Fall gesichtet, mit einem Votum versehen, das einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen (Ausübung des Selbsteintritts oder Feststellung des Ablaufs der Überstellungsfrist in Dublin-Fällen, Möglichkeit einer positiven Entscheidung) beinhaltet und an das zuständige Fachreferat abgegeben werden. Stimmt dieses dem Votum zu, erfolgt die entsprechende Benachrichtigung der Kirchen-Ansprechpartner. […]“
Dass dieses Verfahren auch noch im hier gegenständlichen Zeitraum seitens des BAMF und der Kirchen eingehalten wurde, wird durch das Schreiben des BAMF vom 05.08.2016 an die Pfarrei St. Jakob (Bl. 13/14) in dieser Sache bestätigt. Sowohl die Zeugen … als auch die Zeugin … bestätigen, dass der Eintritt in das Kirchenasyl vereinbarungsgemäß unverzüglich seitens der Pfarrei bzw. durch die Zeugin … bei der Ausländerbehörde Freising und dem BAMF angezeigt worden war. Dies ergibt sich auch aus der verlesenen E-Mail der Zeugin … vom 15.07.2016 (Bl. 8 d.A.), die den Zeugen … und die Zeugin … von der Ausländerbehörde über den Eintritt ins Kirchasyl informiert.
Zweifel an dem schlüssigen, übereinstimmenden und widerspruchsfreien Angaben sämtlicher Zeugen wie des Angeklagten über seinen Verteidiger waren für das Gericht nicht angezeigt, zumal sie auch durch die verlesenen Urkunden und Schriftstücke bestätigt werden.
Dass der Angeklagte spätestens zum Zeitpunkt des Eintritts in das Kirchenasyl wusste, dass er trotz nicht eingezogener, versehentlich am 19.02.2016 durch die Zeugin … verlängerten und bis zum 18.08.2016 ausgestellten Aufenthaltsgestattung, die in Augenschein genommen und verlesen wurde, keinen Aufenthaltstitel mehr hatte und ausreisepflichtig war, ergibt sich aus den Angaben der Zeugin …, die die zunehmende Verzweiflung des Angeklagten nach Erhalt des Beschlusses vom 17.02.2016 am 01.03.2016 schilderte. Der Angeklagte sei verzweifelt gewesen, warum gerade er kein Asylverfahren hier bekomme und nach Italien zurück müsse. Je weiter die Überstellungsfrist ablief, desto mehr sei ihnen allen klar gewesen, dass jetzt jeden Tag die Abschiebung kommen könne, deswegen habe man sich schon um einen Kirchenasylplatz bemüht, während sich der Angeklagte in der Psychiatrie befand, aber erst etwa zwei Wochen danach einen Platz gefunden. Dass der Angeklagte dennoch unvermeidbar den Eindruck gehabt haben könnte, dass er sich legal im Bundesgebiet aufhält, wie der Verteidiger vorträgt, erscheint lebensfern. Zumal der Angeklagte selbst sich nicht dazu äußerte und der Verteidiger diesbezüglich nach eigenen Angaben auch nur eine Vermutung anstellte.
2. Der Angeklagte war aus Rechtsgründen freizusprechen. Ein unerlaubter Aufenthalt eines Ausländers liegt nicht vor und der Tatbestand des § 95 I Nr. 2 AufenthG ist nicht erfüllt, wenn zwar der erforderliche Aufenthaltstitel nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AufenthG fehlt, der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig ist und ihm eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, jedoch dessen Abschiebung hätte ausgesetzt und eine Duldung hätte erteilt werden müssen. Andernfalls hätten es die Ausländerbehörden in der Hand, durch auch pflichtwidrige Untätigkeit eine Strafbarkeit durch Verwaltungshandeln, besser -unterlassen zu begründen.
Gemäß § 60 a AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. In einem solchen Fall besteht ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung. Bei dem sogenannten Kirchenasyl handelt es sich um ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das freilich – da innerstaatlich und in der Sphäre des BAMF liegend – nicht den Ablauf der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-VO hemmt (s. hierzu das verlesene Urteil des VG München vom 06.02.2017, Bl. 62-67 d.A., vgl. auch VG München, Urteil vom 27.03.2017, beck-online)
Die Strafgerichte dürfen sich nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (BVerfG, Beschluss vom 06.03.2003 – 2 BvR 397/02) nicht mit der Feststellung begnügen, der Angeklagte sei nicht im Besitz einer Duldung nach § 60 a AufenthG gewesen. Die Duldung ist eine gesetzlich zwingende Reaktion auf ein vom Verschulden des Ausländers unabhängiges Abschiebungshindernis. Insofern dient § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht der Strafbewehrung eines Verwaltungsakts und bindet den Strafrichter nicht an die unterlassene oder verspätet getroffene Entscheidung einer Verwaltungsbehörde.
Die Strafgerichte sind vielmehr von Verfassungs wegen gehalten, selbstständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren.
Ob die Voraussetzungen des § 60 a AufenthG vorliegen, kann aus Behördensicht nicht anders bewertet werden als aus Betroffenensicht. Grundsätzlich kommt es beim Vorliegen eines Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 a AufenthG nicht darauf an, ob der Angeklagte dies zu vertreten hatte. Das Bundesamt hat sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung oder Nichterteilung einer Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt. (mit weiteren Nachweisen BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 BvR 732/14). Dies gilt nicht nur hinsichtlich bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen. Gegebenenfalls hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Abschiebungsanordnung aufzuheben oder die Ausländerbehörde anzuweisen, von deren Vollziehung abzusehen. Im Falle von Kirchenasyl liegt aus Sicht des Bundesamtes und der Ausländerbehörde offenkundig ein tatsächliches inlandsbezogenes Vollzugshindernis im Sinne des § 60 a Abs. 2 AufenthG vor. Bundesamt und Ausländerbehörde sahen sich an die Absprache mit den Kirchen gebunden, das Kirchenasyl des Angeklagten nicht durch unmittelbaren Zwang zu beenden. In der Vereinbarung das BAMF mit den Kirchen wird sich diesbezüglich ausdrücklich auf das Kirchenasyl als christlich-humanitäre Tradition berufen und das Bundesamt erklärt, dass es diese Tradition nicht in Frage stelle (hierzu VG München, Urteil vom 29.10.2015 – Az. M 2 K 15.50211, beck-online, Ziffer 1 bb) am Ende).
Bundesamt und Ausländerbehörden setzen sich aber zudem zu sich selbst in Widerspruch, wenn aus Rücksicht auf die christlich-humanitäre Tradition des Kirchenasyls den Kirchen zugesichert wird, vom (mit unmittelbarem Zwang durchgesetzten) Vollzug der Abschiebung vollständig abzusehen, und die Ausländerbehörden wie die Polizei vor Ort informell entsprechend anzuweisen, die Abschiebung nicht zu vollziehen, zugleich aber ein Vorgehen über eine Anordnung durch die oberste Landesbehörde gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG für im Kirchenasyl befindliche Ausländer oder die Ausstellung einer Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG vermieden wird. Obwohl also die Ausländerbehörde aus humanitären Gründen gegenüber den Kirchen von einer Abschiebung absieht, möchte sie gegenüber dem „Kirchenasylanten“ die gleichen Gründe nicht als solche des § 60 a AufenthG gelten lassen. Da dies offensichtlich willkürlich ist, war das Kirchenasyl, das zwar kein eigenes Rechtsinstitut ist, dennoch einheitlich als tatsächliches Abschiebungshindernis anzusehen.
Solange der Angeklagte sich also im Kirchenasyl befand, hätte ihm daher auch förmlich eine Duldung erteilt werden müssen. Dass der Angeklagte nach Angaben des Verteidigers aus dem Kirchenasyl heraus selbst keinen Antrag auf Ausstellung einer Duldung gestellt hat, ist hierbei unschädlich. Die Ausstellung der Duldung hat ausweislich § 60 a Abs. 4 AufenthG von Amts wegen zu geschehen. Wie das Verfassungsgericht bereits in der o.g. Entscheidung feststellte (BVerfG, Beschluss vom 06.03.2003 – 2 BvR 397/02), lässt die Systematik des Ausländergesetzes – jetzt Aufenthaltsgesetzes – grundsätzlich keinen Raum für einen derartig ungeregelten Aufenthalt (vgl. BVerwGE 105, 232, 236), der den Zeitpunkt der Duldungserteilung ins Belieben der Behörden stellt. Da der Ausländer auch zu dulden ist, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise oder wie hier: das Aufsuchen des Kirchenasyls) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat (vgl. BVerwGE 111, 62, 64 f.), ist keine Konstellation vorstellbar, in der der Ausländer nicht einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätte.
Darüber hinaus konnte der Angeklagte nach Verlassen des Kirchenasyls am 19.10.2016 nicht mehr nach Italien zurück überstellt werden, da die Überstellungsfrist spätestens am 03.09.2016 abgelaufen war. Hierin liegt ebenfalls ein Hindernis gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG, dass zur Ausstellung einer Duldung von Amts wegen bzw. im konkreten Fall zur Ausstellung einer Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 AsylG zur Durchführung des Asylverfahrens im nationalen Verfahren verpflichtet hätte.
Eine Strafbarkeit gemäß § 95 Abs. Nr. 2 AufenthG schied für den Angeklagten, der im Kirchenasyl und nach Ablauf der Überstellungsfrist einen Anspruch auf Ausstellung einer Duldung gemäß § 60 a Aufenthaltsgesetz bzw. Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 AsylG hatte, in dem noch abzuurteilenden Zeitraum vom Eintritt in das Kirchenasyl am 15.07.2016 bis zum 21.10.2016 aus.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO.