Europarecht

Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – Familiennachzug eines Asylsuchenden zu deutschem Ehegatten

Aktenzeichen  M 24 K 17.2899

Datum:
26.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 151493
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5, § 28, § 10, § 54, § 99
AufenthV § 39
AsylG § 13, § 55
GFK Art. 31

 

Leitsatz

1 § 39 Nr. 4 AufentV enthält eine Ausnahme von der Pflicht zum Durchlaufen eines Visumsverfahrens für Asylbewerber, denen nach § 10 Abs. 1 AufenthG ausnahmsweise ein Aufenthaltstitel erteilt werden darf. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Vorsätzliche schwere Straftaten iSv § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sind solche, die in § 100a Abs. 2 StPO legal definiert sind. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3 Wer den Asylantrag unverzüglich nach seiner Einreise stellt, macht sich nicht strafbar und verwirklicht hierdurch auch keinen Ausweisungsgrund. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 23. Mai 2017 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, zum Antrag vom 21. Februar 2017 dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Rechtsanspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug als ausländischer Ehegatte eines Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. § 5 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 39 Nr. 4 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) nach Maßgabe des § 10 Abs. 1 AufenthG.
1.1. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 AufenthG vorliegen. Zwischen den Beteiligten ist ferner unstreitig, dass der deutsche Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat und dass eine wirksam geschlossene Ehe vorliegt aufgrund der Stellvertretereheschließung in … Die Beklagte stützt sich insoweit auf das sachnahe Standesamt … Dem erkennenden Gericht drängen sich keine Zweifel auf (vgl. zur Stellvertreterehe, sog. „Handschuhehe“, LSG Berlin-Brandenburg, B.v. 27.9.2007 – L 32 B 1558/07 AS ER – juris Rn. 13 f.; Kammergericht Berlin, B.v. 22.4.2004 – 1 W 173/03 – juris; Art. 11, 13 EGBGB).
1.2. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG i.V.m. § 39 Nr. 4 AufenthV sind vorliegend gegeben. Die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG greift nicht ein.
1.2.1. Die in § 5 Abs. 2 AufenthG normierte allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung der Einhaltung des Visumsverfahrens ist aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen des § 39 Nr. 4 AufenthV vorliegend keine erforderliche allgemeine Erteilungsvoraussetzung. Es liegt vielmehr eine gesetzliche Befreiung aufgrund des § 39 Nr. 4 AufenthV vor.
1.2.1.1. § 39 Nr. 4 AufenthV enthält eine Ausnahme von der Pflicht zum Durchlaufen eines Visumsverfahrens für Asylbewerber, denen nach § 10 Abs. 1 AufenthG ausnahmsweise ein Aufenthaltstitel erteilt werden darf (vgl. BayVGH, B.v. 28.9.2015 – 10 C 15.1470 – juris Rn. 6; B.v. 21.7.2015 – 10 CS 15.859, 10 C 15.860, 10 C 15.981 – juris Rn. 48 ff.; VGH BW, B.v. 5.9.2012 – 11 S 1639/12 – juris Rn. 6). Vorliegend war ein Visum nach § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, § 99 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 39 Nr. 4 AufenthV entbehrlich. Der Kläger kann die Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nach der Regelung in § 39 Nr. 4 AufenthG im Bundesgebiet einholen, wenn dessen tatbestandliche Voraussetzungen vorliegen. Der Verordnungsgeber hat die Privilegierung des § 39 Nr. 4 AufenthV als Ergänzung zur Privilegierung des § 10 Abs. 1 und 2 AufenthG verstanden (vgl. die Verordnungsbegründung in BR-Drs. 731/04 zu § 39 AufenthV, S. 181 – 183).
1.2.1.2. Die Voraussetzungen des § 39 Nr. 4 AufenthV liegen vor.
1.2.1.2.1. Der Kläger ist im Besitz der Aufenthaltsgestattung nach § 55 Asylgesetz (AsylG), denn sein Asylverfahren ist bislang nicht abgeschlossen. Obgleich das BAMF mit Bescheid vom 13. Oktober 2016 über den Asylantrag des Klägers einfach unbegründet abschlägig vor der Beantragung der Erteilung der streitgegenständlichen Aufenthaltserlaubnis am 21. Februar 2017 entschieden hat (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, in dem die Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG vorliegen muss, BayVGH, B.v. 21.7.2015 – 10 CS 15.859 u.a. – juris Rn. 50), ist damit das Asylverfahren nicht bestandskräftig abgeschlossen.
1.2.1.2.2. Die weitere Voraussetzung des § 39 Nr. 4 AufenthV, dass die Voraussetzungen des (vorliegend einschlägigen) § 10 Abs. 1 AufenthG vorliegen, also dass keine Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG besteht, ist gegeben.
Die Sperrwirkung des § 10 Abs. 1 AufenthG greift nicht ein in Fällen, in denen ein gesetzlicher Anspruch besteht. Ein gesetzlicher Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht dann, wenn sich der Anspruch unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Voraussetzung hierfür ist die Erfüllung aller zwingenden oder regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen, weil nur dann der Gesetzgeber selbst die Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (BVerwG, U.v. 12.7.2016 – 1 C 23/15 – juris Rn. 21; U.v. 17.12.2015 – 1 C 31/14; BayVGH, B.v. 28.9.2015 – 10 C 15.1470 – juris Rn. 9).
Im vorliegenden Fall sind alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zum deutschen Ehegatten gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 AufenthG erfüllt, sodass ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 10 Abs. 1 AufenthG vorliegt. Da § 39 Nr. 4 AufenthV bei Erfüllung seiner tatbestandlichen Voraussetzungen die regelhafte allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 AufenthG abbedingt, ist § 5 Abs. 2 AufenthG auch nicht Teil der für das Vorliegen eines Anspruchs nach § 10 Abs. 1 AufenthG zu erfüllenden regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen.
Neben den besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 AufenthG, die vorliegend unstreitig erfüllt sind (s. oben), liegen auch alle allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG vor.
1.2.1.2.2.1. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Lebensunterhalt des Klägers nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist, obschon nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine regelhafte Soll-Abweichung eingreift. Der Kläger hat seine Passpflicht nach § 3 AufenthG im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erfüllt (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Unstreitig liegen auch die regelhaften Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nrn. 1a und 3 AufenthG vor.
1.2.1.2.2.2. Entgegen der Auffassung der Beklagten besteht kein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
Auf die Rechtsprechung zum Vorliegen des Ausweisungsinteresses im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nach der Neufassung zum 1. Januar 2015 des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wie auch des VGH Baden-Württemberg wird verwiesen (BayVGH, B.v. 29.8.2016 – 10 AS 16.1602 – juris Rn. 22; VGH BW, U.v. 19.4.2017 – 11 S 1967/16 – juris Rn. 28 ff., insbesondere Rn. 32). Unter Heranziehung dieser Rechtsprechung wäre die für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erforderliche Wiederholungsgefahr hinsichtlich der als Rechtsverstöße benannten Handlungen bereits nicht gegeben.
Dessen ungeachtet liegt auch kein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, das die Beklagte für das Bestehen eines Ausweisungsinteresses im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG heranzieht. Ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG liegt vor, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche bzw. behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat oder aber außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.
Vorsätzliche schwere Straftat(en) im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sind solche, die in § 100a Abs. 2 StPO legal definiert sind (vgl. Beck Online Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 8/2017, § 54 AufenthG Rn. 122; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kom., 2016, § 54 AufentG Rn. 86). Aus dem Bereich des Aufenthaltsgesetzes sind dies das Einschleusen von Ausländern nach § 96 Abs. 2 AufenthG oder das Einschleusen mit Todesfolge und gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen nach § 97 AufenthG (§ 100a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 StPO). Bei den in § 95 Abs. 1 Nrn. 1, 3 AufenthG aufgeführten Straftaten, die die Beklagte als einschlägig heranzieht, handelt es sich bereits nicht um vorsätzliche schwere Straftaten im Sinne des § 100a Abs. 2 StPO und damit auch nicht um vorsätzliche schwere Straftaten im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG.
Im Übrigen ist eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nrn. 1, 3 AufenthG nach § 95 Abs. 5 AufenthG nicht gegeben, wenn Art. 31 Abs. 1 GFK vorliegt. Der unerlaubte Aufenthalt nach illegaler Einreise im Falle eines Asylantrages ist sowohl nach internationalem Recht (Art. 31 GFK), als auch nach nationalem Recht (§ 13 Abs. 3 Satz 2 AsylG) nur dann mit Strafe bedroht, wenn die Antragstellung nicht unverzüglich erfolgt. Wer den Asylantrag unverzüglich nach seiner Einreise stellt, wie vorliegend geschehen (vgl. §§ 13, 18 AsylG zur Anbringung des Asylgesuchs und § 14 AsylG, Art. 6 Abs. 3 RL 2013/32/EU – AsylVerfRL – zur mündlichen Asylantragstellung), macht sich nicht strafbar und verwirklicht hierdurch auch keinen Ausweisungsgrund (vgl. VG Darmstadt, U.v. 2.5.2013 – 5 K 1633/11.DA – juris Rn. 23).
Mithin stellt ohne Zweifel die Einreise und der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet angesichts seiner unverzüglichen Anbringung seines Asylbegehrens keinen Rechtsverstoß im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG dar.
Für einen Verstoß des Klägers gegen gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen ist nichts ersichtlich. Der Kläger hat sich weder strafbar gemacht noch wurden ihm gegenüber behördliche Entscheidungen oder Verfügungen erlassen, gegen die er verstoßen haben müsste.
Hinsichtlich der von der Beklagten herangezogenen Verstöße gegen die Mitwirkungspflicht nach § 15 AsylG durch die Nichtvorlage des neu ausgestellten Nationalpasses sowie des Unerwähntlassens dessen Innehabens gegenüber dem BAMF in seiner Anhörung liegt allenfalls ein vereinzelter und geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften vor, der nicht geeignet ist, das Bestehen eines Ausweisungsinteresses als entgegenstehende allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu begründen. Hinsichtlich des nicht erfolgten Hinweises des Klägers in seiner Anhörung beim BAMF über die Verdrehung seines Vor- und Zunamens bei der Datenaufnahme durch das BAMF liegt schon kein Rechtsverstoß vor, zumal der Kläger seinen Vor- und Zunamen samt detaillierter Angabe seines Geburtsorts (Ort und Distrikt) bei der Asylantragstellung korrekt angegeben hat.
Mithin ist im Ergebnis festzustellen, dass sämtliche einschlägigen allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG sowie die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 AufenthG vorliegen. Somit liegt ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 10 Abs. 1 AufenthG vor, sodass die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG vorliegend nicht greift und damit auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 39 Nr. 4 AufenthV gegeben sind und somit auch das Visumsverfahren als Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 AufenthG vorliegend nicht einschlägig ist.
Damit besteht beim Kläger ein Rechtsanspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis, die er am 21. Februar 2017 beantragt hat. Dementsprechend war die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger diese zu erteilen.
2. Als Unterliegende hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
3. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).

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