Aktenzeichen M 9 K 16.50076
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Leitsatz
Beim sogenannten Kirchenasyl ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung des Asylsuchenden durchzuführen. Er verzichtet vielmehr bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … Januar 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da alle Beteiligten – der Kläger durch Erklärung seines Bevollmächtigten vom 27. Januar 2017, die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung – auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben. Die Verzichtserklärungen wurden auch nicht durch die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter verbraucht (BayVGH, B.v. 19.10.2006 – 12 ZB 06.1211 – juris).
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom … Januar 2016 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung betreffend den zunächst zuständigen Mitgliedstaat auf der Grundlage des § 34a i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen nicht mehr vor.
Der streitgegenständliche Bescheid ist aufgrund des Ablaufs der sog. Überstellungsfrist und des hierdurch bedingten Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO rechtswidrig geworden. Die sechsmonatige Frist des Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO begann mit der (letzten) Zustellung der Eilentscheidung des Gerichts im Verfahren M 9 S. 16.50102 am 1. März 2016 zu laufen (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris). Diese Frist ist mit Ende des 1. September 2016 (d.h. 24:00 Uhr) abgelaufen. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO im Verfahren M 9 S7 16.50262 hat nicht die Wirkungen des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 -; VG Aachen, U.v. 25.7.2016 – 9 K 1184/16.A – jeweils zitiert nach juris). Unabhängig davon wird darauf hingewiesen, dass die 6-Monats-Frist auch im Nachgang zu letzterem Beschluss abgelaufen wäre.
Nachfragen bei der zuständigen Ausländerbehörde am Landratsamt F* … vom 24. Januar 2017 und bei der Regierung von … vom 6. Februar 2017 ergaben, dass sich der Kläger seit mindestens 4. Juli 2015 durchgehend in Deutschland aufgehalten hat. Auch für eine Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen nach diesen Auskünften keine Anzeichen: Dass sich der Kläger laut Aussage der Regierung von … zwischenzeitlich – vom 15. August 2016 bis 19. Oktober 2016 – im Kirchenasyl befunden hat, ändert nichts. Die Sachlage bei einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person ist nicht mit jener vergleichbar, die bei einer inhaftierten oder flüchtigen Person vorliegt. Ist eine Person inhaftiert oder flüchtig, so ist eine Überstellung unmöglich. Die Möglichkeit der Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO soll als Ausnahme von dem den Fristen des Dublin-Systems zugrunde liegenden Beschleunigungsgrundsatz ein längeres Zuwarten bei der Rücküberstellung ermöglichen, weil ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis die Einhaltung der Frist vereitelt. Ein solches Hindernis, das einen vergleichbaren Ausnahmefall rechtfertigen könnte, besteht beim sogenannten Kirchenasyl nicht. Der Staat ist weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet vielmehr bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. Der Umstand, dass die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden wohl davor zurückschrecken, die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei Personen im Kirchenasyl auszuschöpfen, also insbesondere auch unmittelbaren Zwang in kirchlichen Räumen anzuwenden, macht die Überstellung nicht unmöglich. Der freiwillige Verzicht auf eine Rücküberstellung im Fall des Kirchenasyls ist nicht anders zu bewerten, als die Fälle, in denen eine Rücküberstellung mangels entsprechender Vollzugskapazitäten oder anderer in der Sphäre des Staates liegender Umstände nicht möglich ist. Eine in der Sphäre des Klägers liegendes Hindernis für den Vollzug der Rücküberstellung, wie im Fall der Flucht, ist nicht gegeben (VG München, U.v. 23.12.2016 – M 1 K 15.50681 – juris; U.v. 9.1.2017 – M 1 K 16.50375 – juris).
Der Fristablauf begründet gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens auf die Beklagte. Der Asylantrag ist damit nicht mehr nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig.
Mit dieser objektiven Rechtswidrigkeit geht auch eine subjektive Rechtsverletzung des Klägers einher, da eine Rückübernahmebereitschaft Italiens nicht ersichtlich ist (BVerwG, U.v. 9. 8. 2016 – 1 C 6/16 – juris). Der nach den Dublin-Bestimmungen infolge des Fristablaufs zuständige Mitgliedsstaat darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf eine Prüfung durch einen anderen Mitgliedsstaat verweisen, wenn dessen (Wieder-) Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris). Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass Italien trotz des Ablaufs der Überstellungsfrist zur Rückübernahme des Klägers bereit wäre. Hierfür bestehen auch keine Anhaltspunkte. Damit kann sich der Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen, da Italien jedenfalls nicht verpflichtet ist, das Asylverfahren durchzuführen und der Anspruch des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens verletzt wäre. Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes, § 31 Abs. 2 AsylG, verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris).
Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.