Arbeitsrecht

Insolvenzverwalter als Arbeitgeber im sozialversicherungsrechtlichen Sinne

Aktenzeichen  S 15 R 582/14

Datum:
21.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ZInsO – 2016, 859
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
InsO InsO § 35 Abs. 2
SGB III SGB III § 165 Abs. 1
SGB IV SGB IV § 28p Abs. 1 S. 5
SGB X SGB X § 44 Abs. 1 S. 1
SGG § 54Abs. 2

 

Leitsatz

1. Nach Zugang einer Freigabeerklärung gem. § 35 II InsO an den Schuldner, ist der Insolvenzverwalter in Bezug auf den freigegebenen Betrieb nicht mehr Arbeitgeber im beitragsrechlichen Sinne. (amtlicher Leitsatz)
2 Die Beurteilung, wer Arbeitgeber im sozialversicherungsrechtlichen Sinne ist, muss nach den tatsächlichen Umständen erfolgen, die für ein entgeltliches Arbeitsverhältnis mit wirtschaftlicher und persönlicher Abhängigkeit erheblich sind. Typisch für einen Arbeitgeber ist das sog. Unternehmerrisiko, d.h., dass er in den Genuss der Gewinne des Unternehmens kommt, aber auch für die Verluste geradestehen muss. Darüber hinaus hat er eine Weisungsbefugnis bzw. ein Direktionsrecht gegenüber den Arbeitnehmern. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Unter Aufhebung des Bescheids vom 13.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.03.2014 wird die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 20.08.2012 zurückzunehmen.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und beschweren den Kläger im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG. Die Beklagte ist verpflichtet, den Beitragsbescheid vom 20.08.2012 gemäß § 44 Abs. 1 S.1 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) zurückzunehmen.
Von § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X werden Beiträge erfasst, die nicht oder nicht in der festgesetzten Höhe hätten erhoben werden dürfen (BeckOK SozR/Heße SGB X § 44 Rn. 19, beck-online). Vorliegend ist das Recht unrichtig angewandt worden, so dass der Beitragsbescheid vom 20.08.2012 aufzuheben ist.
Die Beklagte ist hierbei auch zuständige Behörde im Sinne von § 44 Abs. 3 SGB X. Ermächtigungsgrundlage für die Nachforderung ist § 28p Abs. 1 Satz 5 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV). Danach erlassen die Träger der Rentenversicherung im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe der Arbeitnehmer in der Sozialversicherung gegenüber den Arbeitgebern (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.12.2015 – L 8 R 213/13 B ER -, Rn. 43, juris).
Nach § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV hat der Arbeitgeber den Gesamtsozialversicherungsbeitrag, d. h. die für einen versicherungspflichtigen Beschäftigten zu zahlenden Beiträge zur Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung (§ 28d Satz 1 und 2 SGB IV), zu entrichten. Die Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger als Arbeitgeber der Beigeladenen zu 2. bis 4. sowie zu 8. Schuldner des Gesamtsozialversicherungsbeitrags ist.
Arbeitgeber ist, wer die Arbeit unmittelbar an andere vergibt und dem die Verfügung über die Arbeitskraft, die Einstellung, Verwendung und Entlassung zusteht, für dessen Rechnung das Arbeitsentgelt gezahlt wird und dem der Erfolg der Arbeitsleistung zugute kommt (vgl. Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, K § 5 Rz. 93 f. m. w. N.). Arbeitgeber kann somit eine natürliche Person, eine Personenmehrheit (z. B. OHG) oder eine juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts (z. B. GmbH, AG oder Körperschaft des öffentlichen Rechts) sein (Sehnert in: Hauck/Noftz, SGB, 10/14, § 28a SGB IV, Rn. 8).
Die Beurteilung, wer Arbeitgeber im sozialversicherungsrechtlichen Sinne ist, muss ebenfalls nach den tatsächlichen Umständen erfolgen, die für ein entgeltliches Arbeitsverhältnis mit wirtschaftlicher und persönlicher Abhängigkeit erheblich sind. Typisch für einen Arbeitgeber ist das sogenannte Unternehmerrisiko, d. h., dass er in den Genuss der Gewinne des Unternehmens kommt, aber auch für die Verluste geradestehen muss. Darüber hinaus hat er eine Weisungsbefugnis bzw. ein Direktionsrecht gegenüber den Arbeitnehmern. Er kann also bestimmen, in welcher Art, an welchem Ort, zu welcher Zeit und in welchem Umfang sie Arbeiten zu verrichten haben. Als Arbeitgeber muss grundsätzlich der Gläubiger des Anspruchs auf Arbeitsleistung und zugleich der Schuldner des Arbeitsentgelts gegenüber den Arbeitnehmern angesehen werden. Bestehen Zweifel, wer Arbeitgeber ist, kann also letztlich auf denjenigen zurückgegriffen werden, der den Lohn schuldet (BSG in BSGE 18, 190, SozR RVO § 245 Bl. Aa 1 Nr. 1 und BSG in USK 74177).
Mit Wirkung vom 01.12.2009 ist der Kläger aufgrund der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO, die dem Schuldner am selben Tag zugegangen ist, nicht mehr Arbeitgeber in diesem Sinne. Der Kläger trug weder das für den Arbeitgeber typische Unternehmerrisiko noch konnte er das Direktionsrecht gegenüber den Beigeladenen zu 2. bis 4. sowie zu 8. ausüben.
Die Rechtsansicht der Beklagten, dass zuvor vom Schuldner gekündigte und mit Insolvenzeröffnung freigestellte Arbeitsverhältnisse von der Rechtswirkung gemäß § 35 Abs. 2 InsO nicht umfasst seien, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Die erkennende Kammer folgt der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (a. a. O., Rn. 15, juris), auf die sich der Kläger beruft, wonach sich die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO bereits mit dem Zugang der Freigabeerklärung beim Schuldner ohne die Notwendigkeit zusätzlicher Erklärungen verwirklicht. Allein diese Erklärung zerschneidet das rechtliche Band zwischen der Insolvenzmasse und der durch den Schuldner ausgeübten selbstständigen Tätigkeit und leitet die der selbstständigen Tätigkeit dienenden Vertragsverhältnisse von der Masse auf die Person des Schuldners über (BAG, a. a. O., unter Verweis auf BGH, Urteil vom 09.02.2012, IX ZR 75/11 – Rn. 19). Die Veröffentlichung durch das Insolvenzgericht hat hierbei lediglich deklaratorische Wirkung, so dass bezüglich der Rechtswirkungen der Freigabeerklärung auf den Zugang beim Schuldner (dh. beim Beigeladenen zu 1.) am 01.01.2009 abzustellen ist. Die Kammer schließt sich der arbeits- und zivilrechtlichen Rechtsprechung an, wonach die Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO auch Arbeitsverhältnisse umfasst, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Erklärung bereits begründet waren (BAG, a.a.O, Rn. 16).
Der Auffassung, dass sich die Freigabe nur auf die durch den Schuldner nach Zugang der Freigabeerklärung begründeten Vertragsverhältnisse beziehen würde, kann nicht gefolgt werden. Sie berücksichtigt den Sinn und Zweck von § 35 Abs. 2 InsO nicht hinreichend. Mit dem BAG (a. a. O., Rn. 19, juris) handelt es sich bei der Freigabeerklärung um eine Pauschalfreigabe, die sich auch auf zweiseitige Verträge bezieht und dabei nicht nach Typus und Inhalt der betroffenen Vertragsverhältnisse unterscheidet. Auch innerhalb der Dauerschuldverhältnisse sind keine Differenzierungen veranlasst, die sich aus der Anwendbarkeit unterschiedlicher Kündigungsfristen ergeben. Der Schuldner muss zum Aufbau einer neuen wirtschaftlichen Existenz regelmäßig eine Vielzahl von Verträgen schließen. Soweit derartige Verträge, die vor Insolvenzeröffnung vereinbart waren und mit der Eröffnung nicht in Wegfall geraten sind, im Zuge der selbstständigen Tätigkeit von dem Schuldner fortgesetzt werden sollen, kann nicht auf eine klare zeitliche Zäsur verzichtet werden, wann Rechte und Pflichten von der Masse auf den Schuldner übergehen. Beim anderen Verständnis würde § 35 Abs. 2 S. 1 InsO weitgehend seiner Funktion beraubt, einen einheitlichen Übergang des der selbstständigen Tätigkeit dienenden Vermögens einschließlich der darauf bezogenen Vertragsverhältnisse von der Masse auf den Schuldner zu bewirken. Vielmehr werden Unklarheiten weitgehend vermieden, in dem Kraft der mit dem Zugang bei dem Schuldner wirksam werdenden Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters sämtliche noch bestehenden, der selbstständigen Tätigkeit dienenden Vertragsverhältnisse und sich daraus ergebende Verbindlichkeiten auf den Schuldner übergeleitet werden. Der Schuldner ist zur Wahrnehmung einer selbstständigen Tätigkeit häufig auf den Fortbestand von Arbeitsverhältnissen angewiesen. Müsste der Insolvenzverwalter diese zur Verwirklichung einer Enthaftung der Masse kündigen, würden sich die Arbeitnehmer wegen der eingetretenen Insolvenz vielfach nicht entschließen, mit dem Schuldner ein neues Arbeitsverhältnis einzugehen. Damit würde dem Schuldner eine unentbehrliche Betriebsgrundlage für die Fortführung seiner Tätigkeit entzogen.
Die Beklagte folgt dieser Rechtsauffassung insoweit, als sie die Auffassung vertritt, dass Arbeitsverhältnisse, die zuvor vom Schuldner mit Arbeitnehmern begründet wurden, dann von der Wirkung von § 35 Abs. 2 InsO umfasst seien, wenn diese nach Zugang der Freigabeerklärung vom Schuldner weitergeführt würden, d. h. zuvor nicht gekündigt wurden. Diese Differenzierung wird damit begründet, dass nur dann die Weiterführung der selbstständigen Tätigkeit nicht durch Beitragslasten bezüglich der gekündigten Beschäftigungsverhältnisse belastet würde. Die Auffassung übersieht aber, dass vorrangiger Zweck von § 35 Abs. 2 InsO der Gläubigerschutz ist. Der Insolvenzverwalter soll die Möglichkeit haben, die selbstständige Tätigkeit auszugliedern, um die Masse zu schützen. Zudem ist diese „vermittelnde Ansicht“ vom Gesetzeswortlaut nicht umfasst. Eine Differenzierung danach, ob das Dauerschuldverhältnis bereits gekündigt worden ist oder nicht, findet nicht statt. Auch das Bundesarbeitsgericht hat eine solche Differenzierung nicht in Betracht gezogen: Im entschiedenen Fall wurde der klagende Arbeitnehmer bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens fristlos gekündigt. Das BAG entschied dennoch, dass die Passivlegitimation bezüglich der Kündigungsschutzklage durch die Freigabeerklärung vom Insolvenzverwalter auf den Schuldner übergegangen ist.
Soweit ersichtlich, folgen auch die Sozialgerichte der dargestellten zivilrechtlichen Rechtsprechung. Das BSG geht im Einklang mit dem BAG und dem BGH davon aus, dass die Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO nicht nur einzelne Vermögensgegenstände, sondern eine Gesamtheit von Gegenständen und Werten umfasst. Wie die obersten Zivilgerichte geht das BSG davon aus, dass die Erklärung das rechtliche Band zwischen der Insolvenzmasse und der durch den Schuldner ausgeübten selbstständigen Tätigkeit zerschneidet und die der selbstständigen Tätigkeit dienenden Vertragsverhältnisse von der Masse auf die Person des Schuldners umleiten würde (BSG, Urteil vom 10.12.2014, B 6 KA 45/13 R, Rn. 18, juris). Die von dem Schuldner ab dem Wirksamwerden der Freigabeerklärung aus der selbstständigen Tätigkeit erzielten Einkünfte stünden als ihm gehörendes Vermögen grundsätzlich allein den Gläubigern als Haftungsmasse zur Verfügung, deren Forderungen nach der Freigabeerklärung entstanden sind (BSG, a. a. O.). Vorliegend sind die Forderungen der Beigeladenen zu 2. bis 4. sowie zu 8. gegenüber dem Schuldner aus den übergeleiteten Arbeitsverhältnissen für den Monat Dezember 2009 erst nach Zugang der Freigabeerklärung entstanden, so dass diese aus den aus der selbstständigen Tätigkeit erzielten Einkünften des Schuldners zu befriedigen sind. Das gleiche muss dann auch für die Beitragsforderung der Beklagten gelten, die aufgrund der Arbeitsleistung der Beigeladenen zu 2. bis 4. sowie zu 8. im Dezember 2012 gemäß dem Entstehungsprinzip entstanden ist.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.01.2015, Az. L 9 AL 278/13) geht ebenfalls in einem obiter dictum (Rn. 47, juris, letzter Satz) davon aus, dass der Schuldner aufgrund der Freigabeerklärung (erneut) zum Arbeitgeber und damit zum Schuldner der Beitragsrückstände wird. Verneint wurde lediglich, dass die Insolvenz der nach § 35 Abs. 2 InsO ausgegliederten Masse maßgebliches Insolvenzereignis im Sinne von § 165 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) ist.
Ob auch die Einrede der Masseunzulänglichkeit den Bescheid vom 20.08.2012 rechtswidrig macht, ist nicht mehr entscheidungserheblich und kann daher offen bleiben.
Nach allem war der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG mit § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

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