Aktenzeichen 10 U 1942/20
StVG § 17
ZPO § 540 Abs.2, 313a Abs.1 S. 1
EG-RL 2003/97/EG
Leitsatz
1. Ein LKW-Fahrer ist aufgrund der Regelungen des §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO und unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Zwecks der EG-RL 2003/97/EG verpflichtet, seinen Frontspiegel vor dem Anfahren zu beachten und sich über diesen zu vergewissern, dass kein anderes Fahrzeug unmittelbar vor dem Beklagtenfahrzeug steht. Auch wenn die Richtlinie insbesondere eine Verbesserung der Sicherheit von Fußgängern, Radfahrern und anderen schwächeren Verkehrsteilnehmern bezweckt, folgt aus dem von der Richtlinie bezweckten Interesse der höheren Verkehrssicherheit, dass der zusätzlich angebrachte Frontspiegel jedenfalls in Verkehrssituationen, in denen damit zu rechnen ist, dass häufiger Fahrzeuge auf eine bevorrechtigte Straße ausfahren, ebenfalls zu beachten ist(Rn. 7 – 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Verletzt er diese Pflicht, ist gegenüber einer Geschädigten, die ihrerseits unter Verstoß gegen § 10 StVO vor der Ausfahrt einer Tankstelle einfädelt, eine Schadensteilung geboten, wenn sie bei Nutzung des Frontspiegels sichtbar gewesen wäre. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
19 O 7736/19 2020-03-26 Endurteil LGMUENCHENI LG München I
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin vom 01.04.2020 wird das Endurteil des LG München I vom 26.03.2020 (Az. 19 O 7736/19) in Nr. 1 und Nr. 2 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.404,10 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.07.2019 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 334,75 € zu zahlen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits (
I. Instanz) haben die Klägerin 53% und der Beklagte 47% zu tragen.
Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin 69% und der Beklagte 31%.
III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg.
I.
Das Landgericht hat im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge gemäß § 17 StVG zum Nachteil der Klägerin einen Haftungsbeitrag des Beklagten in Höhe von lediglich 25% angesetzt. Vorliegend erachtet der Senat eine Haftungsverteilung zwischen den Parteien von 50 zu 50 als sachgerecht und zutreffend.
1. Rechtsfehlerfrei ging das Landgericht davon aus, dass vorliegend gegen die Klägerin der Anscheinsbeweis des § 10 StVO spricht. Der Senat hält die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts für zutreffend und nimmt auf diese Bezug.
2. Der Senat ist aufgrund der in zweiter Instanz durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme der Überzeugung, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges gegen seine Verpflichtungen aus §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO, die vorliegend im Lichte der EG-RL 2003/97/EG auszulegen waren, verstoßen hat.
a) Aufgrund der überzeugenden Ausführungen des vom Senat ergänzend mündlich angehörten Sachverständigen Dipl.-Ing. B., dessen hervorragende Sachkunde dem Senat auch aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt ist, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges zwar über die reine Frontscheibe keine sichere Sicht auf das klägerische Fahrzeug haben musste. Der Klägerin ist ein dementsprechender Nachweis nicht gelungen. Allerdings erläuterte der Sachverständigen nachvollziehbar und überzeugend, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges vor dem streitgegenständlichen Anfahren über den sogenannten „Frontspiegel“ das Heck des klägerischen Fahrzeugs hätte erkennen können.
b) In der streitgegenständlichen Verkehrssituation ist der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges aufgrund der Regelungen des §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO und unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Zwecks der EG-RL 2003/97/EG verpflichtet gewesen, den Frontspiegel vor dem Anfahren zu beachten und sich über diesen zu vergewissern, dass kein anderes Fahrzeug unmittelbar vor dem Beklagtenfahrzeug steht.
Auch wenn sich aus Artikel 3 der entsprechenden Richtlinie ergibt, dass diese insbesondere eine Verbesserung der Sicherheit von Fußgängern, Radfahrern und anderen schwächeren Verkehrsteilnehmern bezweckt, war vorliegend auch das klägerische Fahrzeug aufgrund der streitgegenständlichen Verkehrssituation in den Schutzbereich der Richtlinie miteinbezogen. Denn die Richtlinie fordert im Interesse einer höheren Verkehrssicherheit die verpflichtende Ausrüstung von Lastkraftwagen mit einem zusätzlichen Frontspiegel, damit vor dem Lastkraftwagen stehende und über die Frontscheibe nicht sichtbare andere Verkehrsteilnehmer zu sehen sind. Aus dem von der Richtlinie bezweckten Interesse der höheren Verkehrssicherheit folgt dabei, dass der zusätzlich angebrachte Frontspiegel jedenfalls in Verkehrssituationen, in denen damit zu rechnen ist, dass häufiger Fahrzeuge auf eine bevorrechtigte Straße ausfahren, zu beachten ist. Eine derartige von dem Schutzzweck der Richtlinie mitumfasste Verkehrssituation besteht beispielsweise bei Ausfahrten von größeren Firmengeländen, Gewerbebetrieben, Großmarkthallen, Einkaufszentren sowie Tankstellen.
Jedenfalls musste der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges angesichts dessen, dass er in einem Staugeschehen vor der Ausfahrt einer Tankstelle zum Stehen gekommen war, damit rechnen, dass andere Fahrzeuge unter Nichtbeachtung der Verpflichtungen aus § 10 StVO auch kleinere sich zum Ausfahren bietende Lücken zu nutzen versuchen und dabei vor dem Beklagtenfahrzeug zum Stehen kommen. Angesichts des gesetzgeberischen Zwecks der EG-RL 2003/97/EG war der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges somit zum Schutze des klägerischen Fahrzeuges verpflichtet, den Frontspiegel vor dem Anfahren zu beachten und sich über diesen zu vergewissern, dass kein anderes Fahrzeug unmittelbar vor dem Beklagtenfahrzeug steht. Wenn der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges diese Verpflichtung jedoch beachtet hätte, dann hätte er gemäß den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen das klägerische Fahrzeug vor dem Anfahren gesehen, so dass er den streitgegenständlichen Unfall durch einen Blick in den Frontspiegel hätte verhindern können.
3. Vorliegend erachtet der Senat im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge die Verstöße der Klägerin gegen ihre Verpflichtung aus § 10 StVO und des Fahrers des Beklagtenfahrzeuges gegen seine Verpflichtungen aus §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO als gleich schwerwiegend, so dass eine Haftungsverteilung zwischen den Parteien von 50 zu 50 sachgerecht und zutreffend ist.
4. Ausgehend von der seitens des Landgerichts zutreffend und damit rechtsfehlerfrei festgestellten Schadenshöhe von 4.808,21 € hat die Klägerin somit einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 2.404,10 €. Die von der Klägerin beanspruchten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten waren aus diesem Gegenstandswert zu berechnen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 I 1 Fall 2 ZPO.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.