Arbeitsrecht

Entfernung einer Abmahnung gegenüber Betriebsrat

Aktenzeichen  10 BV 43/21

Datum:
12.1.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
ArbG Magdeburg 10. Kammer
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:ARBGMAG:2022:0112.10BV43.21.00
Normen:
§ 1004 BGB
§ 78 BetrVG
§ 242 BGB
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

1. Bei einer Abmahnung gegenüber dem Betriebsratsgremium besteht eine andere Sach- und Rechtslage als bei einer Abmahnung im Arbeitsverhältnis. Es gibt weder eine Personalakte für das Betriebsratsgremium, noch kann die berufliche Entwicklung des Betriebsratsgremiums beeinträchtigt werden. Der Betriebsrat ist die demokratisch legitimierte Interessenvertretung der Belegschaft, deren Rechten und Pflichten sich aus dem Gesetz ergeben. Zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber besteht kein arbeitsvertragliches Schuldverhältnis, in dessen Rahmen der Arbeitgeber als Gläubiger eines Weisungsrechts auf die Verletzung von Vertragspflichten und deren Konsequenzen hinweisen muss. Der Betriebsrat kann den Beseitigungsanspruch nicht auf eine Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts stützen. § 1004 BGB kommt nicht in Betracht.(Rn.42)

2. Die Terminologie “Abmahnung” im kollektivrechtlichen Kontext suggeriert zu Unrecht eine Vergleichbarkeit mit einer individualrechtlichen, hergebrachten Abmahnung.(Rn.42)

3. § 78 BetrVG begründet bei einer Störung oder Behinderung der Arbeit des Betriebsrats durch den Arbeitgeber einen Unterlassungsanspruch. Der Begriff der Behinderung ist umfassend zu verstehen; allerdings nicht so umfassend, dass bereits Kritik des Arbeitgebers, die von Betriebsratsmitgliedern als Einschüchterung empfunden wird, als zu beseitigende Behinderung aufzufassen ist. Eine als “Abmahnung” betiteltes Schreiben des Arbeitgebers kann der Betriebsrat grundsätzlich nicht nach § 78 BetrVG entfernen lassen.(Rn.43)

4. Die Rücknahme einer rechtlichen Bewertung kann nur bedeuten, dass der Arbeitgeber seine Meinung ändern und selbst von der Unwahrheit oder fehlenden Berechtigung der Bewertung überzeugt sein soll. Niemand kann aber gegen seinen Willen gezwungen werden kann, seine Rechtsauffassung zu ändern.(Rn.51)

5. Ein Widerrufsanspruch besteht entsprechend den §§ 242, 1004 BGB nur dann, wenn eine Abmahnung auch Dritten gegenüber bekannt gegeben worden ist; ein Widerrufsanspruch ist ausgeschlossen, wenn etwaige beleidigende oder unrichtige Äußerungen nur dem Verletzten gegenüber gefallen sind.(Rn.61)

Tenor

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Entfernung zweier sog. „betriebsverfassungsrechtlicher Abmahnungen“ aus den Akten der Beteiligten zu 2. sowie die Rücknahme darin getätigter Bewertungen.
Die Beteiligte zu 2. (fortan: Arbeitgeberin) betreibt in M. eine neurologische Klinik mit 370 Arbeitnehmern. Der Antragsteller ist der örtliche Betriebsrat.
Im Unternehmen des Arbeitgebers wurden im Frühjahr 2021 Verhandlungen zu einem Firmentarifvertrag geführt, die am 28.04.2021 durch die Arbeitnehmerseite abgebrochen wurden. Am 03.05.2021 und 25.05.2021 erließ die Gewerkschaft Ver.di Pressemitteilungen über den Stand der Verhandlungen und darüber, dass die Arbeitgeberin die Jahressonderzahlung bei Alt-Beschäftigten zusammenstreichen und bei Neu-Beschäftigten anteilig gewähren wolle (Anl. AS 2, Bl. 12 f. d.A.). Die Gewerkschaft rief aus diesem Grund zu einer „aktiven Mittagspause“ auf. Mit Aushang vom 04.05.2021 (Anl. AS3, Bl. 14 f. d.A.) reagierte die Arbeitgeberin darauf. Dabei erwähnte sie insbesondere, dass sie allen Beschäftigten 575 € Jahresprämie zahlen wolle und im Gegenzug das 13. Gehalt der Alt-Beschäftigten streichen wolle. Ob die Tarifkommission ihre ablehnende Entscheidung neutral oder objektiv gefällt habe, sei ihr aufgrund der Zusammensetzung der Verhandler unklar. Sie stellte die Frage, ob die Leser jenes Aushangs auch die Konfrontation wie Ver.di wollen würden, und kritisierte das Verhalten der Tarifkommission als Klientelpolitik für Altbeschäftigte. Am 06.05.2021 richtete der Antragsteller (fortan: Betriebsrat) die unter Anl. AS 4 beigefügte Beschwerde-E-Mail an den Geschäftsführer, Herrn S., den Geschäftsbereichsleiter Nord-Ost, Herrn R., und die kaufmännische Leiterin, Fr. G. (Anl. AS 4, Bl. 16 ff. d.A.). In diesem Schreiben heißt es auszugsweise:
„mit Bestürzung haben wir – der kleine Teil der Altbeschäftigten – Ihren Mitarbeiterbrief an die Beschäftigten des NRZ M. vom 04.05.2021 gelesen. […]
Für diese Mitarbeiter gibt es keine angemessene Gehaltsentwicklung und nun wollen Sie allen Ernstes auch noch, dass diese Mitarbeiter sich solidarisch zeigen, damit Alle profitieren? Das ist ein Hohn ohne Gleichen! […]
Wir sagen: ES REICHT!
70% der Beschäftigten aufzufordern der Tarifkommission zu sagen, was sie von solch einseitigen Besitzstandswahrungen halten, ist wirklich dreist, wenn nicht sogar frech! [-…]
575 Euro, Brutto wohlgemerkt, das ist ein Schlag ins Gesicht für alle „Alten“! […]
Was erwarten Sie nun von uns? Sollen wir jubeln? Bestimmt nicht!
Wir leben und arbeiten in einer Demokratie und das ist auch gut so.
Lassen Sie uns eines zum Schluss sagen.
Mit derartigen Lösungsvorschlägen zerstören Sie Motivation, Verbundenheit zu Unternehmen und den Glauben an eine gerechte Lohnpolitik auf einen Schlag. […]
Im Namen der Alt-Beschäftigten des NRZ M.
Der Betriebsrat des NRZ-M.“
Die Arbeitgeberin reagierte mit zwei Schreiben vom 26.05.2021, eines davon (Anl. AS 6, Bl. 21 d.A.) mit dem Betreff „betriebsverfassungsrechtliche Abmahnung“, das andere als Anschreiben an die Betriebsratsvorsitzende formuliert. Darin wird ein Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Betriebsrats in der Lohnpolitik angeprangert. Im letzten Absatz wird die Abmahnung ausdrücklich erwähnt und die Einhaltung der Neutralität verlangt. Darüber hinaus wird auf die Möglichkeit zur Auflösung des Betriebsrats hingewiesen. Dieses Schreiben solle zudem zu den Betriebsratsunterlagen genommen werden.
Der Betriebsrat meint, dass er einen Anspruch auf Entfernung der beiden Schreiben aus den Akten der Arbeitgeberin habe. Der Anspruch könne u.a. auf § 78 BetrVG gestützt werden, der neben dem Verbot von Betriebsratsbehinderungen auch den Anspruch auf Beseitigung solcher Behinderungen beinhalte. Der Beseitigungsanspruch gründe vorrangig darauf, dass der Betriebsrat gar keine Pflicht zuvor verletzt habe. Die Aussagen in der E-Mail seien ausdrücklich allein im Namen der Alt-Beschäftigten erfolgt, so dass auch keine Ungleichbehandlung innerhalb der Belegschaft vorliege. Das Schreiben sei auch allein an drei Führungspersonen im Unternehmen gerichtet worden und laufe daher gar nicht Gefahr, den Betriebsfrieden zu schädigen.
Eine betriebsverfassungsrechtliche Abmahnung sei zudem unzulässig, weil aus § 23 BetrVG zu folgern sei, dass Verstöße unterhalb der Grenze der Betriebsratsauflösung (§ 23 Abs. 1 Satz 1 BetrVG) ohne Folge bleiben müssten. § 23 BetrVG reiche als Sanktion bei groben Pflichtverletzungen aus. Aus § 74 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 BetrVG sei abzuleiten, dass eine gewisse Anteilnahme an Verhandlungen in tarifpolitischen Angelegenheiten nicht unzulässig sei. Die Aussagen seien zudem von der Meinungsfreiheit gedeckt. Wegen dieser Meinungsfreiheit müsse der Arbeitgeber auch öffentliche Kritik hinnehmen. Diese Kritik sei auch nicht unsachlich, sondern habe die allgemeine Stimmungslage wiedergegeben. Schließlich habe die Arbeitgeberin mit ihrem Schreiben versucht, einen Keil in die Belegschaft zu treiben. Die Verärgerung der Alt-Beschäftigten sei nachvollziehbar.
Mit Schriftsatz vom 08.06.2021 hat der Betriebsrat beantragt,
1. die Beteiligte zu 2. zu verpflichten, ihre zwei Abmahnungen vom 26.05.2021 gegenüber dem Antragsteller aus ihren Akten, die sie für die Zusammenarbeit und Korrespondenz mit dem Antragsteller führt, zu nehmen.
2. die Beteiligte zu 2. zu verpflichten, zu erklären, dass sie die erhobenen Vorwürfe in den beiden Abmahnungsschreiben vom 26.05.2021, der Antragsteller habe mit seinem Schreiben vom 0605.2021
a. seine ihm obliegende Neutralitätspflicht erheblich verletzt,
b. unzulässigen Einfluss auf die tarifliche Auseinandersetzung genommen und damit in eklatanter Weise gegen seine Pflicht zur Neutralität in Tarifauseinandersetzungen (§ 74 Abs. 2 S. 1 BetrVG) verstoßen,
c. Tatsachen verdreht und hierdurch bereits erzielte Erfolge im Rahmen der aktuellen Tarifverhandlungen gefährdet,
d. seine Aufgaben und eine Funktion überschritten, indem er sich als betriebliche Vertretung der Beschäftigten bei Tarifverhandlungen ausschwingt,
e. seine Betriebsverfassungsrechtliche Kompetenzen überschritten,
f. sich unberechtigt in Tarifverhandlungen einmischt,
zurücknehme.
Die Arbeitgeberin beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
Die Arbeitgeberin ist der Meinung, sie dürfe leichte und schwere Verstöße mit einer betriebsverfassungsrechtlichen Abmahnung anmahnen. Eine solche Abmahnung müsse eine Rügefunktion und eine Warnfunktion erfüllen. Richtig sei, dass diese Abmahnung nicht in die Personalakte der einzelnen Betriebsratsmitglieder übernommen werden. Ein Entfernungsanspruch rühre aber nicht aus § 78 BetrVG her, denn dafür fehle es an der dort vorausgesetzten „Behinderung des Betriebsrats“. Ein Entfernungsanspruch aus § 1004 BGB scheitere daran, dass der Betriebsrat in keinem absoluten oder sonstigen Recht verletzt sein könne, da er sich nicht auf Persönlichkeitsrechtsverletzungen berufen könne. Auch dem Fortkommen in der Unternehmenshierarchie könne eine unberechtigte Abmahnung nicht schaden, sodass auch diese Erwägung einen Entfernungsanspruch nicht tragen könne. Die Arbeitgeberin behauptet zudem, sie habe die Abmahnung nicht gegenüber Dritten oder der Belegschaft erwähnt, so dass keine Behinderungswirkung fortdauere. Sie ist der Auffassung, dass sie dem gewerkschaftlichen Aufruf zur aktiven Mittagspause habe entgegen dürfen, weshalb nicht sie, sondern die Gewerkschaft der Auslöser vom Konflikt waren.
Sie dürfe auch den Betriebsrat abmahnen, da der Betriebsrat sogar grob gegen seine Pflicht verstoßen habe. § 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG berechtige den Betriebsrat nur zur Informierung über Stand der Verhandlungen etc. Außerdem bestehe eine „Friedenspflicht“; das Schreiben vom 06.05.2021 habe aber den Frieden im Betrieb akut gefährdet. Außerdem habe der Betriebsrat damit gegen das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit aus § 2 Abs.1 BetrVG verstoßen. Das Schreiben sei als Versuch zu werten, in die Tarifverhandlungen einzugreifen. Das Schreiben könne auch nicht mehr als sachliche Kritik bezeichnet werden. Weder sei es sachlich gewesen, noch habe es Tarifpolitik i.e.S. behandelt. Die Arbeitgeberin behauptet ferner, dass der Betriebsrat niemanden anderen vertrete außer sich selbst. Zur offenen Sprechstunde seien nur Neubeschäftigte gekommen und außer den Betriebsratsmitgliedern keine Altbeschäftigten.
Soweit der Betriebsrat die Rücknahme der in Antrag zu 2. zitierten Äußerungen verlange, seien diese Aussagen als Meinungsäußerungen von Art. 5 GG geschützt. Ein Widerruf von Behauptungen setze voraus, dass ein Eingriff fortdauere, woran es hier fehle, weil die Abmahnung betriebsintern nicht weitergetragen worden sei. Im Übrigen sei der Inhalt der Abmahnung zutreffend. Es fehle zudem an einer substantiierten Einlassung des Betriebsrats zu seinem zweiten Antrag.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und das Protokoll des Anhörungstermins verwiesen.
II.
Die Anträge sind teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet.
A.
Der Antrag auf Entfernung der Abmahnungen aus den Akten der Arbeitgeberin ist zulässig aber unbegründet.
1. Der Betriebsrat ist antragsbefugt i.S.v. § 81 Abs. 1 ArbGG. Er macht den Abmahnungsentfernungsanspruch als – nach seiner Auffassung aus § 78 BetrVG folgendes – eigenes Recht geltend. Es erscheint nicht von vornherein als aussichtslos, den streitbefangenen Anspruch auf diese kollektivrechtliche Schutzbestimmung zu stützen. Ob das vom Betriebsrat verfolgte Recht tatsächlich besteht, ist eine Frage der Begründetheit (BAG, 04.12.2013 – 7 ABR 7/12, Rn. 31 – juris; die Zulässigkeit verneinend mangels Vollstreckbarkeit: LAG Hamm (Westfalen), 02.08.2002 – 10 TaBV 121/01, Rn. 51 – juris).
2. Der Entfernungsantrag des Betriebsrats ist jedoch unbegründet.
a) Der Betriebsrat kann einen Entfernungsanspruch nicht auf §§ 1004, 242 BGB stützen. Die nach ständiger Rechtsprechung als Grundlage für die Entfernung von individualrechtlichen Abmahnungen heranzugezogenen Normen sind vorliegend nicht einschlägig.
aa) Bei der Abmahnung handelt es sich um die Ausübung eines arbeitsvertraglichen Gläubigerrechts durch den Arbeitgeber. Als Gläubiger der Arbeitsleistung weist er den Arbeitnehmer (als seinen Schuldner) auf dessen vertragliche Pflichten hin und macht ihn auf die Verletzung dieser Pflichten aufmerksam (Hinweisfunktion; Rügefunktion). Zugleich fordert er ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auf und kündigt, wenn ihm dies angebracht erscheint, individualrechtliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung an (Warnfunktion) (vgl. BAG, 27.11.2008 – 2 AZR 675/07, Rn. 14; BAG, 22.02.2001 – 6 AZR 398/99). Schließlich bezweckt die Abmahnung, das beanstandete Verhalten tatbestandsmäßig festzuhalten (Dokumentationsfunktion) (APS/Vossen, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG, Rn. 349; Tschöpe BB 2002, 778, 779).
Der Anspruch nach §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB besteht, wenn die Abmahnung inhaltlich unbestimmt ist, unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt (BAG, 18.10.2017 – 10 AZR 330/16, Rn. 83; BAG, 20.01.2015 – 9 AZR 860/13, Rn. 31; BAG, 19.07.2012 – 2 AZR 782/11, Rn. 13). Eine unzutreffende Tatsachenbehauptung wird deshalb regelmäßig zur Unwirksamkeit einer Abmahnung führen, weil das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers auch durch unrichtige, sein berufliches Fortkommen berührende Tatsachenbehauptungen beeinträchtigt wird (vgl. BAG, 27.11.1985 – 5 AZR 101/84; LAG Rheinland-Pfalz, 26.11.2013 – 6 Sa 306/13, Rn. 61). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht dient in erster Linie dem Schutz ideeller Interessen, insbesondere dem Schutz des Wert- und Achtungsanspruchs der Persönlichkeit (vgl. BAG, 04.12.2013 – 7 ABR 7/12, Rn. 39 – juris; BGH, 01.12.1999 – I ZR 49/97).
bb) Aufgrund des Vorgesagten wird deutlich, dass im vorliegenden kollektivrechtlichen Kontext weder eine „Abmahnung“ im hergebrachten Grunde vorliegt noch ein Entfernungsanspruch aus Individualrechten herleitbar ist.
Bei einer Abmahnung gegenüber dem Betriebsratsgremium besteht eine andere Sach- und Rechtslage. Es gibt weder eine Personalakte für das Betriebsratsgremium, noch kann die berufliche Entwicklung des Betriebsratsgremiums beeinträchtigt werden. Der Betriebsrat ist die demokratisch legitimierte Interessenvertretung der Belegschaft, deren Rechten und Pflichten sich aus dem Gesetz ergeben (so ArbG Solingen, 18.02.2016 – 3 BV 15/15 lev, Rn. 44 – juris). Zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber besteht eben kein arbeitsvertragliches Schuldverhältnis, in dessen Rahmen der Arbeitgeber als Gläubiger eines Weisungsrechts auf die Verletzung von Vertragspflichten und deren Konsequenzen hinweisen muss (pointierte Kritik dazu Fischer, NZA 1996, 633). Dies ist der Grund, warum der Kammervorsitzende in der Anhörung stets von „Abmahnung in Anführungsstrichen“ sprach. Die rechtliche Konfliktlage ist im hiesigen kollektiven Konflikt anders als bei einer klassischen und richterrechtlich etablierten individualrechtlichen Abmahnung; die Nutzung der Formulierung „Abmahnung“ ist dann irreführend. Es handelt sich hier auch nicht um eine Abmahnung gegenüber einem individuellen Betriebsratsmitglied wegen betriebsverfassungsrechtlichen Verstößen (zu dieser Problematik vgl. LAG Hamm (Westfalen), 02.08.2002 – 10 TaBV 121/01, Rn. 53 – juris m.w.N.). Die Terminologie suggeriert, dass das Setting einer individualvertraglichen Abmahnung (z.B. Gläubigerposition eines Weisungsrechts) vorliegt. Die Kammer hielt es daher vorzugswürdig, aus Klarstellungsgründen eine andere Terminologie zu verwenden. Da ein verfahrensbeendender Vergleich nur daran scheiterte, dass der Arbeitgeber an der Terminologie „Abmahnung“ festhalten wollte, darf allerdings angenommen werden, dass dieser (irreführende) Effekt vom Arbeitgeber durchaus auch gewünscht.
b) Der Betriebsrat kann auch nicht auf § 78 BetrVG als Anspruchsgrundlage für die Entfernung der beiden Schreiben vom 26.05.2021 zurückgreifen.
aa) § 78 Satz 1 BetrVG ist eine Schutznorm zugunsten des Betriebsrats. § 78 Satz 1 BetrVG schützt dabei (auch) den Betriebsrat als Gremium (vgl. BAG, 12.11.1997 – 7 ABR 14/97, Rn. 12 – juris). Die Norm bezweckt einen Schutz der Tätigkeit der Betriebsverfassungsorgane und ihrer Mitglieder. Dies folgt deutlich aus der Gesetzesbegründung, wonach der Schutzbereich des § 78 BetrVG gegenüber dem der Vorgängerregelung des § 53 BetrVG 1952 – in der der Betriebsrat genannt war – erweitert und nicht beschränkt werden sollte. Dass der Betriebsrat als Gremium geschützt wird, zeigt außerdem ein systematischer Vergleich mit § 119 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG, nach dem die Behinderung und Störung der Tätigkeit u.a. „des Betriebsrats“ strafbewehrt ist. Der Begriff der Behinderung in § 78 Satz 1 BetrVG ist zudem umfassend zu verstehen. Er erfasst jede unzulässige Erschwerung, Störung oder gar Verhinderung der Betriebsratsarbeit. Ein Verschulden oder eine Behinderungsabsicht des Störers ist nicht erforderlich (vgl. BAG, 20.10.1999 – 7 ABR 37/98, Rn. 27 – juris). Eine Rechtsfolge ist in § 78 Satz 1 BetrVG nicht ausdrücklich geregelt. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts steht dem Betriebsrat bei einer Störung oder Behinderung seiner Arbeit durch den Arbeitgeber ein Unterlassungsanspruch zu. Ein solcher Anspruch folgt aus dem Zweck der Vorschrift, die Erfüllung von Betriebsratsaufgaben zu sichern (vgl. BAG, 12.11.1997 – 7 ABR 14/97, Rn. 14 – juris). So kann etwa eine Zutrittsverweigerung durch die Arbeitgeberin eine unzulässige Behinderung der Amtstätigkeit des Betriebsrats darstellen und einen Anspruch des Betriebsrats nach § 78 Satz 1 BetrVG auf Duldung des Zutritts begründen (vgl. BAG, 20.10.1999 – 7 ABR 37/98, Rn. 30 – juris). Im Schrifttum wird ebenso ganz überwiegend angenommen, dass aus § 78 BetrVG Handlungs-, Duldungs- und Unterlassungsansprüche des Betriebsrats und seiner Mitglieder folgen können (ErfK/Kania, 22. Aufl. 2022, § 78 BetrVG, Rn. 5; Fitting, 30. Aufl. 2020, § 78 BetrVG, Rn. 13; Kreutz GK-BetrVG, 8. Aufl., § 78 Rn. 38 f.; Thüsing in: Richardi, 17. Aufl. 2022, § 78 BetrVG, Rn. 16). Im Übrigen hat das das Bundesarbeitsgericht im Fall einer Abmahnung gegenüber einem Betriebsratsmitglied (BAG, 04.12.2013 – 7 ABR 7/12, Rn. 39 – juris) erklärt, dass „kein unabweisbares Bedürfnis für eine richterliche Rechtsfortbildung zur Begründung eines Abmahnungsentfernungsanspruchs des Betriebsrats [bestehe]“.
bb) Eine rechtlich relevante Behinderung i.S.d. § 78 BetrVG allein durch eines der beiden Schreiben vom 26.05.2021 – oder durch beide zusammen – vermag die Kammer nicht zu erkennen. Selbst bei sehr weitreichendem Verständnis des § 78 BetrVG kann keine „Beschränkung“ angenommen werden. Die vom Arbeitgeber angedrohten Konsequenzen beinhalten keinen realistischen tatsächlichen oder rechtlichen Nachteil. Selbst wenn die Schreiben als Einschüchterungsversuch gedacht waren – der Verlauf der Anhörung lässt diese Überlegung nicht völlig abwegig erscheinen – so waren diese Versuche untauglich. Eine „Abmahnung“ gegenüber dem Betriebsrat stellt gerade keine Vorstufe zum Auflösungsantrag nach § 23 Abs. 1 BetrVG dar. Eine betriebsverfassungsrechtliche Abmahnung ist weder vor der Einleitung eines Ausschlussverfahrens erforderlich noch rechtlich bedeutsam (so auch Hess. LAG allerdings mit anderer Schlussfolgerung, Beschluss vom 30.09.2019 – 16 TaBV 82/19, Rn. 52 – juris). Durch die beiden Schreiben vom 26.05.2021 hat sich das Risiko rechtlicher Sanktionen für den Betriebsrat oder für einzelne Mitglieder nicht erhöht bzw. die rechtlichen Hürden für eine Eskalation durch die Arbeitgeberin wurden nicht gesenkt. Durch die Abmahnung hat die Arbeitgeberin nur auf die Rechtslage gilt, die auch ohne sie genauso gültig wäre. Ein Arbeitgeber kann ohne vorherige Vorwarnung einen Auflösungsantrag stellen.
Eine vorherige betriebsverfassungsrechtliche Abmahnung gegenüber dem Betriebsratsgremium stellt vor diesem Hintergrund vielmehr regelmäßig ein geeignetes, milderes Mittel im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar (vgl. ArbG Solingen, 18.02.2016 – 3 BV 15/15 lev, Rn. 48 – juris; ArbG Berlin, 10.01.2007 – 76 BV 16593/06; Schleusener, NZR 2001, 640, 642). Die Kammer folgt hingegen nicht der Mutmaßung des vom Betriebsrat zitierten Hessischen Landesarbeitsgerichts, dass „ein als betriebsverfassungsrechtliche Abmahnung bezeichnetes Schreiben des Arbeitgebers, das die Rüge einer Verletzung betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten mit der Androhung des Ausschlusses aus dem Betriebsrat verbindet, alleine den Zweck haben kann, das so angesprochene Betriebsratsmitglied in der Ausübung seiner Amtstätigkeit zu verunsichern“ (Beschluss vom 30.09.2019 – 16 TaBV 82/19, Rn. 52 – juris). Da das Hessische Landesarbeitsgericht die Erkenntnisquelle für seine Überzeugung nicht darstellt, vermag die Kammer dieser Argumentation nicht zu folgen. Die Einschüchterungsabsicht dürfte nämlich nicht die einzige logische Erklärung für die Schreiben der Arbeitgeberin sein, nicht einmal die wahrscheinlichste. Im Aufsatz von Kania (NZA 1996, 970 – beck-online) fragt der Autor: „Ist es denn so fernliegend, dass ein Betriebsrat die Warnung durch eine Abmahnung ernst nimmt, sich zukünftig rechtmäßig verhält und damit ein Verfahren nach § 23 I BetrVG überflüssig macht? Auch die meisten individualrechtlichen Abmahnungen sind schließlich nicht „Vorstufe einer Kündigung“, sondern Anlass zu einer Verhaltenskorrektur im Interesse einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses“. Es erscheint somit nicht abwegig, wenn das Arbeitsgericht Solingen in einer „Abmahnung“ ein Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit sieht, weil damit der Verwarnende eine „gelbe Karte“ vor einer „roten Karte“ erteilt (ArbG Solingen, 18.02.2016 – 3 BV 15/15 lev, Rn. 47 f. – juris).
Das Erfordernis der „Behinderung“ kann auch nicht subjektiv definiert werden, sondern muss an objektive Einschränkungen anknüpfen. Die Betriebsratsvorsitzende hatte in der Anhörung mitgeteilt, dass die Schreiben einschüchternde Wirkung haben. Ein solchermaßen weitgehendes Verständnis würde einer missbräuchlichen Nutzung des § 78 BetrVG Vorschub leisten. Das Rechtsverhältnis zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber muss aber auch Kontroversen aushalten. Erst wenn die Äußerungen tatsächlich objektiv geeignet sind den Betriebsrat von der Wahrnehmung seiner Aufgaben bzw. Tätigkeit rechtswidrig zu behindern, ist ein Unterlassungsanspruch gerechtfertigt (LAG Nürnberg, 20.12.2018 – 5 TaBV 61/17, Rn. 53 – juris). Die einzelnen Betriebsratsmitglieder sind durch § 119 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG und durch ein über die Wahlperiode hinausgehendes Kündigungsverbot aus § 15 KSchG geschützt. Der Betriebsrat kann über § 78 BetrVG gerade nicht einen gefügigen Arbeitgeber erzwingen, weil Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten beeinträchtigend wirken oder jedenfalls individuell so aufgefasst werden können. Wenn der Betriebsrat seine anfängliche Beschwerde-E-Mail vom 06.05.2021 im Gerichtverfahren damit rechtfertigte, dass die dortige Kritik sachlich und von der Meinungsfreiheit gedeckt sei, so dass der Arbeitgeber sie auch als öffentliche Kritik hinnehmen müsse, so muss der Betriebsrat dieselbe Argumentation bei den nicht-öffentlichen „Abmahnungen“ gegen sich gelten lassen.
Somit kann eine solche „Abmahnung“ schon im Grundsatz keinen Entfernungsanspruch begründen (den Entfernungsanspruch des Betriebsrats offengelassen hat das BAG, Beschluss vom 04.12.2013 – 7 ABR 7/12, Rn. 37 – juris; nach dem LAG Hamm soll selbst eine Kündigungsdrohung durch den Arbeitgeber keinen Unterlassungsanspruch begründen, LAG Hamm, ARSt. 1980, 29 zitiert nach Kreutz in: GK-BetrVG, § 78, Rn. 37).
B.
Der Antrag auf Rücknahme oder Widerruf der im Antrag genannten Formulierungen ist unzulässig und unbegründet.
1. Das Landesarbeitsgericht hat einen Antrag auf Rücknahme von Rechtsauffassungen in einer Abmahnung als unzulässig bewertet (LAG Hamm, 02.08.2002, 10 TaBV 121/01, Rn. 51), da ein solcher Antrag nicht vollstreckbar wäre. Darauf kommt es jedoch nicht an. Denn der zweite Antrag ist in jedem Fall vollumfänglich unbegründet.
2. Der Betriebsrat kann nicht verlangen, dass die Arbeitgeberin ihre Bewertung des Verhaltens des Betriebsrats (öffentlich) zurücknimmt.
Die Rücknahme einer Abmahnung kann nur bedeuten, dass der Arbeitgeber seine Meinung ändern und selbst von der Unwahrheit oder fehlenden Berechtigung des Abmahnungsvorwurfs überzeugt sein soll. Niemand kann aber gegen seinen Willen gezwungen werden kann, seine Rechtsauffassung zu ändern (LAG Hamm, 02.08.2002, 10 TaBV 121/01, Rn. 51 – juris mit Verweis auf Kammerer, Abmahnung, 3.Aufl., Rz. 538; Kammerer, AR-Blattei SD 20 Rz. 349; Kleinebrink, Abmahnung, Rz. 620; Bock, AuR 1987, 217, 222; vgl. auch Tschöpe, NZA 1990, Beil. 2, S. 10, 16 m.w.N.).
Widerrufen werden können nur unrichtige Tatsachenbehauptungen (vgl. ArbG Solingen, 18.02.2016 – 3 BV 15/15 lev, Rn. 33 – juris; Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG, Rn. 420). Die zurückzunehmenden Vorwürfe
– Neutralitätspflichtverletzung
– Einflussnahme auf tarifliche Auseinandersetzung und Neutralitätspflichtverletzung
– Tatsachenverdrehen und hierdurch Erfolge bei Tarifverhandlungen gefährden
– Überschreiten von Aufgabe und Funktion
– Überschreitung der Kompetenzen
– unberechtigte Einmischung in Tarifverhandlung
betreffen hingegen überwiegend Rechtsauffassungen, die von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt sind. In keinem Fall handelt es sich jedenfalls um Tatsachenbehauptungen, welche der Wahrheitsprüfung zugänglich wären, sondern stets um Einschätzungen und Bewertungen, die die Arbeitgeberin nicht zu widerrufen braucht und die auch nicht vollständig unzutreffend sind (dazu Schönhöft/Weyhing, Neutralitätspflicht und Koalitionsfreiheit des Betriebsrats, BB 2014, 762). Gleichwohl ist der vorliegenden Gerichtsentscheidung gerade keine explizite Bewertung der (Un)Richtigkeit oder (Un)Angemessenheit des Beschwerde-Schreibens vom 26.05.2021 zu entnehmen, da diese Frage hier nicht erheblich war.
Ein Widerrufsanspruch besteht entsprechend den §§ 242, 1004 BGB nur dann, wenn eine Abmahnung auch Dritten gegenüber bekannt gegeben worden ist; ein Widerrufsanspruch ist ausgeschlossen, wenn etwaige beleidigende oder unrichtige Äußerungen nur dem Verletzten gegenüber gefallen sind (BGH, 17.06.1953 – VI ZR 51/52; BAG, 21.02.1979 – 5 AZR 568/77). Unstreitig ist die streitige Abmahnung vom 26.05.2021 lediglich an die Betriebsratsvorsitzende gesandt worden. Dass sie Dritten gegenüber bekannt gegeben worden wäre, trägt der Betriebsrat nicht vor (dazu LAG Hamm (Westfalen), 02.08.2002 – 10 TaBV 121/01, Rn. 52 – juris).


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