Arbeitsrecht

Feststellung der fehlenden Berechtigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs, im Inland, Nichteinhaltung des Wohnsitzerfordernisses, unbestreitbare Informationen aus dem Ausstellungsmitgliedstaat (Polen)

Aktenzeichen  11 ZB 21.2756

Datum:
31.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8520
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 28 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 Nr. 2, S. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 19 K 21.653 2021-09-27 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Anträge auf Zulassung der Berufung und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger wendet sich gegen die Aberkennung des Rechts, von seiner polnischen Fahrerlaubnis im Bundesgebiet Gebrauch zu machen, und die Verpflichtung, den Führerschein zur Eintragung eines Sperrvermerks vorzulegen.
Mit rechtskräftigem Urteil vom 16. März 2004 entzog das Amtsgericht Bottrop dem Kläger die deutsche Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Verkehr (Blutalkoholkonzentration: 2,13 ‰). In den Jahren 2008 bis 2011 nahm er mehrere Anträge auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis zurück, nachdem ihn die Fahrerlaubnisbehörde aufgefordert hatte, ein Fahreignungsgutachten vorzulegen. Am 24. Juni 2014 erwarb er einen gefälschten britischen Führerschein. Mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 23. November 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht München wegen Urkundenfälschung und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe, da er am 27. Juni 2015 nachweislich mit einem Pkw gefahren war.
Vom 16. August 2015 bis 30. März 2017 war der Kläger amtlich im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gemeldet. Nachdem er sich wegen Umzugs nach Polen abgemeldet hatte, erwarb er am 10. April 2017 eine polnische Fahrerlaubnis, in der eine Wohnadresse in S. eingetragen ist. Am 12. April 2017 meldete er seinen Wohnsitz wieder unter der vormaligen Wohnung an.
Hiervon erlangte die Fahrerlaubnisbehörde der Beklagten nach einer Polizeikontrolle am 11. Oktober 2019, bei der der Kläger seinen polnischen Führerschein vorgelegt hatte, Kenntnis. In einem Aktenvermerk der Grenzpolizeiinspektion S. vom selben Tag ist ausgeführt, die in dem polnischen Führerschein eingetragene Wohnanschrift könne nicht überprüft werden, weil das Gemeinsame Deutsch-Polnische Zentrum Swiecko keine rechtliche Befugnis habe, der Grenzpolizeiinspektion eine Auskunft zu erteilen. Allerdings sei bekannt, dass diese Anschrift in Polen bereits in einem Strafverfahren gegen einen anderen Beschuldigten genutzt worden sei, um eine polnische Fahrerlaubnis zu erlangen.
Mit Schreiben vom 17. Juni/19. Oktober 2020 teilten die polnischen Behörden auf Anfrage des Kraftfahrt-Bundesamts mit, dem Kläger sei am 10. April 2017 ein Führerschein der Klassen AM, B1 und B ausgestellt worden. In dem verwendeten Formular wurde bejaht, dass es sich um den Wohnsitz handle, an dem sich der Betreffende gewöhnlich für mindestens 185 Tage aufhalte, und eine Unterkunft vorhanden sei. Erkenntnisse zu engen Familienangehörigen und zum Ort, an dem ein Geschäft bzw. Gewerbe betrieben werde, Immobilien vorhanden seien und administrative Beziehungen zu Behörden bestünden und soziale Dienstleistungen erfüllt oder in Anspruch genommen würden, lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Student.
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Feststellung der fehlenden Inlandsberechtigung ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten mitteilen, die Auskunft der polnischen Behörden, die die Wohnsitznahme für mindestens 185 Tage im Jahr bestätige, liefere gemessen an den Vorgaben der Rechtsprechung keinen Hinweis auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis im Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins.
Mit Bescheid vom 18. Januar 2021 stellte die Beklagte fest, der Kläger sei nicht berechtigt, von seiner polnischen Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen, und verpflichtete ihn unter der Androhung von Zwangsgeld, seinen polnischen Führerschein unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids zur Eintragung eines Sperrvermerks vorzulegen. Dieser wurde am 27. Januar 2021 angebracht.
Gegen den streitgegenständlichen Bescheid ließ der Kläger am 5. Februar 2021 Klage zum Verwaltungsgericht München erheben, und gleichzeitig einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stellen, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. April 2021 (M 19 S 21.654) ablehnte. Ein Beschwerdeverfahren hatte keinen Erfolg (BayVGH, B.v. 28.7.2021 – 11 CS 21.1395 – juris).
In der mündlichen Verhandlung legte der Kläger Kopien einer Bescheinigung über die Aufenthaltsanmeldung eines EU-Bürgers (Zaswiadczenie o zarejestrowaniu pobytu obywatela unii europejskiej) mit dem Anmeldedatum des Aufenthalts (Data zarejestrowania pobytu) am 27. September 2016 unter der Meldeadresse P. sowie einer Meldebescheinigung für einen vorübergehenden Aufenthalt (Potwierdzenie zameldowania na pobyt czasowy) vom 4. Oktober 2016 jeweils in polnischer Sprache vor. In der Meldebescheinigung ist als voraussichtliche Aufenthaltsdauer (Zamierzony czas trwania pobytu) der Zeitraum „2016.10.04 – 2017.05.03“, als vorübergehende Aufenthaltsadresse über drei Monate (Adres pobytu czasowego ponad 3 miesiace) „S., ul. W. … …“ und als Adresse des ständigen Aufenthalts Deutschland (Adres miejsca pobytu stalego: Niemcy) angegeben. Nach Angaben des Klägers handelte es sich um das Ein- und Auszugsdatum. Ferner legte der Kläger eine Bestätigung seines Vermieters vom 25. September 2021 in deutscher Sprache vor, wonach er vom „4.10.2016“ bis „3.05.201“ in S., W. … seinen ordentlichen Wohnsitz gehabt habe.
Unter Bezugnahme auf den Beschluss im Eilverfahren (Rn. 29 bis 31) und den Beschluss im Beschwerdeverfahren (Rn. 17 bis 19) wies das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 27. September 2021 ab. Der auf § 28 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Nr. 2 FeV gestützte Bescheid der Beklagten sei rechtmäßig. Zur endgültigen Beurteilung der Einhaltung der Wohnsitzvoraussetzung könnten vorliegend die gesamten Umstände des Falls herangezogen werden, die auf einen Wohnsitzverstoß schließen ließen. Dabei sei die Wohnungnahme unter der ausländischen Adresse kurz vor Ausstellung des Führerscheins ein sehr gewichtiges Indiz dafür, dass sich der Kläger nur zum Zweck des Erwerbs einer Fahrerlaubnis dort angemeldet habe. Diesem Schluss sei er weder im Verwaltungs- noch in gerichtlichen Verfahren durch substantiierte und verifizierbare Angaben entgegengetreten. Die Angaben, sich in Polen niederlassen und sich dort selbstständig machen zu wollen, seien lediglich pauschal. Der Kläger habe insoweit weder ausgeführt, welche konkreten Schritte er während seines angeblich fast einjährigen Aufenthalts in Polen hierfür unternommen habe, noch wie er seinen damaligen Aufenthalt finanziert haben wolle. Er habe auch keinerlei Unterlagen, etwa zur Finanzierung seines Gewerbes oder zur Gewerbeanmeldung, vorgelegt, die geeignet wären, seine Angaben zu belegen. Die erst in der mündlichen Verhandlung vorgelegte nicht übersetzte Anmeldebescheinigung führe zu keiner anderen Bewertung. Sie belege allenfalls, dass er sich während dieses Zeitraums überhaupt in Polen aufgehalten habe, nicht aber, in welchem Umfang. Gleiches gelte für die ebenfalls nicht übersetzte Wohnsitzbescheinigung, zumal das dort angegebene Datum weder mit der Anmeldebescheinigung noch mit der Bestätigung des Wohnungsvermittlers übereinstimme. Auch der vorgelegte Ausdruck, der angeblich eine Bestätigung seines Wohnungsvermittlers darstelle, reiche nach Auffassung des Gerichts nicht aus, um den überwiegenden Aufenthalt des Klägers in Polen zu belegen. Abgesehen davon, dass das Dokument weder unterzeichnet noch das Datum vollständig ausgefüllt sei, sei es nicht nachvollziehbar, warum dieser Wohnungsvermittler zwar Angaben zur Nummer der Bürgerkarte und zur Aufenthaltsregistrierung des Klägers machen könne, nicht aber zu typischerweise zu erwartenden Punkten wie Mietobjekt oder Mietzins. Eine online-Recherche der im Briefkopf des vorgeblichen Wohnungsvermittlers angegebenen Daten (Name, E-Mail, WhatsApp-Nummer) führe zu einer Agentur, die damit werbe, den Erwerb eines polnischen Führerscheins „ohne MPU“ zu ermöglichen. Diese stelle in einem am 10. Oktober 2021 abgerufenen Internetangebot heraus, dass in dem für den Erwerb der Fahrerlaubnis zu zahlenden Pauschalpreis ein „Wohnsitz über 7 Monate“ garantiert sei, verweise aber zugleich darauf, dass eine tatsächliche Unterkunft nicht inkludiert sei. Dies spreche dagegen, dass sich der Kläger dort tatsächlich überwiegend aufgehalten habe, und stelle seine Aussage infrage, dass er nach Polen gezogen sei, um sich dort selbstständig zu machen.
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte entgegentritt, macht der Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung und einer Divergenz von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts geltend. Zur Begründung trägt er vor, das Urteil stütze sich ausschließlich darauf, dass die von den polnischen Behörden mitgeteilten Informationen aufgrund der überwiegenden Beantwortung der Fragen mit „unknown“ eine unbestreitbare Information darstellten, die darauf hinweise, dass der Kläger keinen ordentlichen Wohnsitz in Polen gehabt habe und deshalb sog. inländische Umstände zur Beurteilung der Einhaltung der Wohnsitzvoraussetzung heranzuziehen seien. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts widerspreche der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Oktober 2019 (3 B 26.19). Es reiche nach dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofs vom 9. Juli 2009 (C-445/08) nicht aus, wenn die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats mitteilten, dass sie die Wohnsitzvoraussetzungen nicht geprüft hätten. Entsprechendes gelte daher für die Auskunft, dass Einzelheiten zu den tatsächlichen Gegebenheiten der Wohnsitznahme nicht bekannt seien. Im Zuge der vorgegebenen zweistufigen Prüfung seien zunächst (wirklich) nur vom Ausstellermitgliedstaat herrührende und deutlich auf eine bloße Umgehung des Wohnsitzerfordernisses hinweisende Umstände zu berücksichtigen. Das bloße Ausbleiben angeforderter ergänzender Informationen aus dem Ausstellermitgliedstaat, etwa durch den formularmäßigen Hinweis, die näheren Umstände des Aufenthalts seien unbekannt, könne auf dieser Prüfungsstufe nicht als Indiz für einen Wohnsitzverstoß gewertet werden. Dies habe insbesondere vor dem Hintergrund zu gelten, dass der Aufenthalt des Klägers in Polen zur Zeit der Anfrage bereits mehrere Jahre zurückgelegen habe und nähere Angaben zum privaten und/oder beruflichen Zweck des Aufenthalts seinerzeit ohnehin nicht mit hinlänglicher Gewissheit abgefragt und niedergelegt worden sein dürften. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichts sei eine reine Vermutung. Die Authentizität und der Wahrheitsgehalt der vorgelegten Abschrift der polnischen Wohnsitzbescheinigung, in der ein Aufenthaltsbeginn am 27. September 2016 registriert sei, sowie der Kopie der Anmeldebescheinigung, auf der der Zeitraum „2016.10.04 – 2017.05.03“ aufgeführt sei, könne nicht ohne weiteres infrage gestellt werden. Die genannte Aufenthaltsdauer liege oberhalb der 185-Tage-Marke und umfasse auch das Datum der Fahrerlaubniserteilung. Soweit sich Zweifel an der Verlautbarung ergäben, seien diese allenfalls auf der zweiten Stufe angesiedelt. Die Fahrerlaubnisbehörde bzw. das Gericht seien lediglich berechtigt gewesen, durch Anfragen an Behörden des Ausstellermitgliedstaats noch nähere Kenntnisse einzuholen. Das Verwaltungsgericht sei daher zu Unrecht davon ausgegangen, dass es dem Kläger obliege, substantiierte und verifizierbare Angaben zu Beginn und Ende seines Aufenthalts in Polen sowie zu den persönlichen und beruflichen Bindungen zu machen, die zu dem im Führerschein angegebenen Wohnort bestanden hätten. Es sei damit sowohl zu Fehlern bei der Rechtsanwendung als auch zu Fehlern bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts gekommen. Die Berufung sei zuzulassen, da es genüge, dass ihr Erfolg möglich sei und sie nicht offensichtlich aussichtslos erscheine. Ferner liege auch eine Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vor. Zwischen den Gerichten bestehe ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt der Auskunft aus dem Ausstellerstaat einer EU-Fahrerlaubnis und deren rechtlicher Bewertung. Die Abweichung beziehe sich auch auf einen tragenden rechtlichen Entscheidungsgrund.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, da die geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO; BayVerfGH, E.v. 14.2.2006 – Vf. 133-VI 04 – VerfGHE 59, 47/52; E.v. 23.9.2015 – Vf. 38-VI-14 – BayVBl 2016, 49 Rn. 52; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 54), nicht hinreichend dargelegt sind (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) bzw. nicht vorliegen.
1.1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind anzunehmen, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfG, B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587/17 – BVerfGE 151, 173 Rn. 32 m.w.N.; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – NVwZ 2016, 1243 = juris Rn. 16 m.w.N.) und dies zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründet (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838 = juris Rn. 9).
Dies ist hier nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat Polen herrührenden Informationen Hinweise darauf liefern, dass die unionsrechtlich vorgesehene Voraussetzung eines ordentlichen Wohnsitzes im Ausstellungsmitgliedstaat beim Kläger zum Zeitpunkt der Führerscheinausstellung nicht erfüllt war.
Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) vom 13. Dezember 2010 (BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2018 – 3 C 9.17 – BVerwGE 162, 308 = juris Rn. 13; U.v. 25.2.2010 – 3 C 15.09 – BVerwGE 136, 149 = juris Rn. 10) zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. November 2020 (BGBl I S. 2704), in Kraft getreten zum 1. April 2021, in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 FeV – vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 – im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Nach § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV gilt die Berechtigung nach § 28 Abs. 1 FeV nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 FeV im Inland hatten. Ein ordentlicher Wohnsitz im Inland wird nach § 7 Abs. 1 Satz 2 FeV angenommen, wenn der Betroffene wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – bei fehlenden beruflichen Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen ihm und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d.h. während mindestens 185 Tagen im Jahr, im Inland wohnt. Eine Person, deren persönliche Bindungen im Inland liegen, die sich aber aus beruflichen Gründen in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten der EU (oder EWR) aufhält, hat ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland, sofern sie regelmäßig dorthin zurückkehrt (§ 7 Abs. 1 Satz 3 FeV). Die Voraussetzung entfällt, wenn sie sich zur Ausführung eines Auftrags von bestimmter Dauer in einem solchen Staat aufhält (§ 7 Abs. 1 Satz 4 FeV). Über die fehlende Berechtigung kann die Behörde einen feststellenden Verwaltungsakt erlassen (§ 28 Abs. 4 Satz 2 FeV).
Diese Bestimmungen stehen mit Art. 2 Abs. 1, Art. 7 und Art. 12 der – hier zeitlich anwendbaren (vgl. deren Art. 18 Abs. 2) – RL 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (Neufassung, ABl L 403 S.18 – RL 2006/126/EG), insbesondere mit der Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine (mit der Folge der Anerkennung der dem Dokument zugrundeliegenden Fahrerlaubnis, vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2018 a.a.O. Rn. 28), in Einklang. Voraussetzung für die Ausstellung eines Führerscheins und für dessen Erneuerung bei Ablauf der Gültigkeitsdauer ist ein ordentlicher Wohnsitz im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats im Sinne des Art. 12 der RL 2006/126/EG oder der Nachweis eines dortigen Studiums während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten (Art. 7 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b der RL 2006/126/EG). Die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von durch EU-Mitgliedstaaten erteilten Fahrerlaubnissen gemäß Art. 2 Abs. 1 der RL 2006/126/EG gilt nicht, wenn entweder Angaben im zugehörigen Führerschein oder andere vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührende unbestreitbare Informationen vorliegen, nach denen das Wohnsitzerfordernis nicht eingehalten wurde (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012 – C-467/10, Akyüz – NJW 2012, 1341 Rn. 62; B.v. 9.7.2009 – C-445/08, Wierer – NJW 2010, 217 Rn. 51). Solche Informationen können insbesondere Angaben einer Einwohnermeldebehörde des Ausstellungsmitgliedstaats sein (EuGH, B.v. 9.7.2009 a.a.O. Rn. 61).
Die Prüfung, ob Informationen über den Wohnsitz des Fahrerlaubnisinhabers zum Zeitpunkt der Erteilung des Führerscheins als vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührend und unbestreitbar eingestuft werden können, obliegt den Behörden und Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012 a.a.O. Rn. 73 f.; BVerwG, B.v. 24.10.2019 – 3 B 26.19 – NJW 2020, 1600 = juris Rn. 25). Dabei muss die Begründung eines Scheinwohnsitzes aufgrund der vom Ausstellungsmitgliedstaat stammenden Informationen nicht bereits abschließend erwiesen sein (vgl. BayVGH, B.v. 4.3.2019 – 11 B 18.34 – juris Rn. 21 m.w.N.). Vielmehr reicht es aus, wenn diese Informationen darauf „hinweisen“, dass der Inhaber des Führerscheins im Gebiet des Ausstellungsmitgliedstaats einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck begründet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins im Mitgliedstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012 a.a.O. Rn. 75). Dann können die Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats auch inländische Umstände wie Einlassungen des Führerscheininhabers, Erkenntnisse der Meldebehörde oder der Polizei etc. zur Beurteilung der Frage, ob die Wohnsitzvoraussetzung eingehalten ist, heranziehen (vgl. BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 25; BayVGH, B.v. 4.3.2019 a.a.O. Rn. 22).
Derartige Hinweise ergeben sich vorliegend aus der Meldebescheinigung für einen vorübergehenden Aufenthalt (Potwierdzenie zameldowania na pobyt czasowy) vom 4. Oktober 2016, wonach der ständige Aufenthaltsort in Deutschland (Adres miejsca pobytu stalego: Niemcy) sein und lediglich ein vorübergehender Aufenthalt in S. begründet werden sollte (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2017 – 11 CE 17.718 – juris Rn. 18). Ferner sollte der vorübergehende Aufenthalt in Polen kurz nach dem voraussichtlichen Erwerb der Fahrerlaubnis, hier am 10. April 2017, wieder enden. Weiter ist die in der Bescheinigung über die Aufenthaltsanmeldung eines EU-Bürgers (Zaswiadczenie o zarejestrowaniu pobytu obywatela unii europejskiej) ausgewiesene Meldeadresse in „P.“ nicht mit dem in der Meldebescheinigung angegebenen Wohnort „S.“ zu vereinbaren, was Zweifel an den Erklärungen des Klägers zu seinen wahren Wohnverhältnissen weckt. Es ist unschädlich, dass diese Erkenntnisse erst nach dem Erlass des angefochtenen Bescheids während des gerichtlichen Verfahrens (vgl. BVerwG, B.v. 24.10.2019, a.a.O. Rn. 24 m.w.N.) und aufgrund der vom Kläger vorgelegten Unterlagen gewonnen wurden.
Hinzu kommt, wie der Senat bereits im Beschluss über die Beschwerde des Klägers vom 28. Juli 2021 (11 CS 21.1395) festgestellt hat, dass den polnischen Behörden nach dem amtlichen Formularschreiben vom 17. Juni/19. Oktober 2020 zum Wohnort von Familienangehörigen des Klägers, zu einer Geschäftsadresse, Immobiliarinteressen und zu administrativen Verbindungen zu Behörden und Sozialdienstleistern (Ort der Steuerzahlungen, des Erhalts sozialer Dienstleistungen und zur Kfz-Anmeldung etc.) nichts bekannt war, obwohl der Kläger in Polen einen Wohnsitz und eine Unterkunft hatte und sich dort gewöhnlich für mindestens 185 Tage aufgehalten haben soll. Ein tatsächlicher Aufenthalt über längere Zeit, ohne dass Kontakte zu staatlichen Stellen aktenkundig werden, ist für einen entwickelten EU-Mitgliedstaat unüblich und widerspricht der Lebenserfahrung (vgl. NdsOVG, B.v. 20.3.2018 – 12 ME 15/18 – ZfSch 2018, 296 = juris Rn. 17). Wie die Beklagte zu Recht geltend macht, kann aus der Angabe „unknown“ nicht geschlossen werden, dass die polnischen Behörden die entsprechende Frage nicht geprüft oder die entsprechende Information schlicht nicht geliefert haben. Entgegen der Auffassung des Klägers sind diese Fälle auch nicht gleichzusetzen. Nach der Rechtsprechung des Senats kann ohne besonderen Anhalt nicht unterstellt werden, dass eine europäische Behörde die in einem auf europäischer Ebene abgestimmten Formular gestellten Fragen jeweils ohne Ermittlungen mit „un-known“ beantwortet und damit der Sache nach keine Auskünfte erteilt (BayVGH, B.v. 28.7.2021 – 11 CS 21.1395 u.a. – juris Rn. 19; B.v. 10.7.2020 – 11 ZB 20.88 – juris Rn. 22; B.v. 4.3.2019 – 11 B 18.34 – juris Rn. 24 m.w.N.); zumal wenn der betreffende EU-Mitgliedstaat wie die Republik Polen ein Melde-, Handels- und Gewerberegister führt (Konsularinformationen und Merkblatt zur Anschriftenermittlung [Privatpersonen] des Auswärtigen Amts; wikipedia zu „Centralna Ewidencja i Informacja o Działalności Gospodarczej“). Vielmehr ist davon auszugehen, dass trotz Abfrage der einschlägigen Register und Datenbanken keine Erkenntnisse bzw. Informationen zum Kläger vorlagen. Es kann auch nicht angenommen werden, dass etwaige Erkenntnisse zum Kläger innerhalb von nur rund dreieinhalb Jahren wieder aus den öffentlichen Registern gelöscht worden sind.
In der Gesamtschau wecken die dargestellten Hinweise erhebliche Zweifel am Bestehen eines ordentlichen Wohnsitzes in Polen im maßgeblichen Zeitpunkt. Ob allein der Umstand, dass die in dem amtlichen Formular gestellten Fragen nach dem Ort des Geschäftsbetriebs, nach Immobiliarinteressen und administrativen Kontakten bei angeblich gewöhnlichem Aufenthalt im Ausstellungsmitgliedstaat mit „unknown“ beantwortet worden sind, im Einzelfall einen hinreichenden Hinweis auf einen Scheinwohnsitz zu liefern vermag (offengelassen in BayVGH, B.v. 4.3.2019 a.a.O. Rn. 24), ist auch im Fall des Klägers nicht entscheidungserheblich.
Somit durfte die Beklagte auch ihre eigenen inländischen Erkenntnisse berücksichtigen, wonach sich der Kläger wenige Tage vor dem Erwerb der polnischen Fahrerlaubnis von Deutschland nach Polen abgemeldet und kurz danach wieder unter der vormaligen Anschrift angemeldet hat. Dies ist – auch wenn es sich um eigene Erkenntnisse handelt – ein gewichtiges Indiz dafür, dass er sich nur zum Zweck des Erwerbs einer Fahrerlaubnis dort angemeldet hat, ohne einen ordentlichen Wohnsitz vor Ort zu begründen (vgl. BayVGH, U.v. 1.4.2019 – 11 B 18.2100 – juris Rn. 26 m.w.N.). Auch die Erkenntnisse der Grenzpolizeiinspektion S. vom 11. Oktober 2019 zu der von ihm angegebenen Adresse in Polen und die vom Verwaltungsgericht im Internet recherchierten Informationen (vgl. Urteil Rn. 27), wonach die unter dem Namen des angeblichen Vermieters betriebene Führerscheinagentur einen „Wohnsitz über 7 Monate“ garantiere, ohne dass eine tatsächliche Unterkunft inkludiert sei, weisen auf die Begründung eines Scheinwohnsitzes hin. Diese Webseite ist aktuell im Internet noch in leicht abgewandelter Form vorhanden. Der dort geschilderte „Ablauf“ mit „2 oder 3 Anreisen“ (https://www.eu-fs-ohne-mpu.de/eu-fuehrerschein-ablauf/) und der Hinweis, die Meldebescheinigung werde „gleich über 7 Monate“ ausgestellt und der Wohnsitz nur vor Ausgabe der Bescheinigung geprüft (https://www.eu-fs-ohne-mpu.de/eu-fuehrerschein-ablauf/ordentlicher-Wohnsitz/), ist mit einem tatsächlichen Wohnen während 185 Tagen nicht zu vereinbaren und ein Indiz dafür, dass es der Agentur um die gezielte Umgehung des Wohnsitzerfordernisses geht. Schließlich sind auch die angeblichen Zuzugs- und Fortzugsdaten in Polen, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung genannt hat, nicht mit den Meldeangaben gegenüber der Beklagten in Einklang zu bringen.
1.2. Die Berufung ist auch nicht wegen einer Divergenz gem. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen, weil diese nicht hinreichend dargelegt ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO). Denn der Kläger rügt in abstrakter Form die fehlerhafte Anwendung der obergerichtlichen Rechtsprechung, ohne dass klar wird, auf welchen konkreten Rechts- oder Tatsachensatz er sich damit bezieht.
Eine Divergenz ist gegeben, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz von einem in der Rechtsprechung eines Divergenzgerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungserheblichen Rechts- oder Tatsachensatz abweicht (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Juli 2021, § 124 Rn. 42 ff.; Stuhlfauth in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 124, Rn. 50 ff.; Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 42 f.). Im Rahmen der Darlegung sind die divergierenden Rechtssätze einander präzise gegenüberzustellen. Die Behauptung, das Ausgangsgericht habe einen in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellten Grundsatz übersehen, übergangen oder in sonstiger Weise nicht richtig angewandt, genügt insoweit nicht (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 9.2.2022 – 8 B 56.21 – juris Rn. 3; B.v. 27.1.2022 – 1 B 10.22 – juris Rn. 28 ff.; Rudisile a.a.O. Rn. 42; Happ, a.a.O. § 124a Rn. 73 m.w.N.; Kautz in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 124 Rn. 85).
Zudem muss die Divergenz in dem Berufungsverfahren entscheidungserheblich zum Tragen kommen können, was nicht der Fall ist, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts sich im Ergebnis aus anderen Gründen offenkundig als richtig erweist bzw. auszuschließen ist, dass das Verwaltungsgericht zu einer anderen, für den Kläger günstigeren Beurteilung gelangt wäre (vgl. Happ, a.a.O. § 124 Rn. 44; NdsOVG, B.v. 22.3.2022 – 9 LA 242/21 – juris Rn. 10 m.w.N.). Auch ersteres wäre im Hinblick auf die sich aus der vorgelegten Meldebescheinigung und der Bescheinigung über die Aufenthaltsanmeldung eines EU-Bürgers ergebenden zusätzlichen Hinweise auf einen Wohnsitzverstoß anzunehmen.
2. Mangels Erfolgsaussichten des Zulassungsantrags war auch die beantragte Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten abzulehnen (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz ZPO). Auf die Bedürftigkeit des Klägers kommt es damit nicht an.
3. Als unterlegener Rechtsmittelführer hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO).
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG und der Empfehlung in Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Die in Deutschland nicht gesondert vergebene Fahrerlaubnisklasse B1 und die Klasse AM wirken sich nicht streitwerterhöhend aus, sondern sind in der Klasse B enthalten (Art. 4 Nr. 4 lit. a RL 2006/126/EG; § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV; BayVGH, B.v. 13.6.2017 – 11 CS 17.894 – juris Rn. 17).
5. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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