Aktenzeichen S 13 AL 172/16
SGB III SGB III § 25 Abs. 1, § 149, § 150 Abs. 1
Leitsatz
1 Ein fortbestehendes Arbeitsverhältnis, bei dem der Arbeitnehmer unter Fortzahlung der Bezüge unwiderruflich von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt ist, erfüllt die Voraussetzungen für ein Versicherungspflichtverhältnis, ist jedoch kein Beschäftigungsverhältnis im leistungsrechtlichen Sinn. (redaktioneller Leitsatz)
2 In Bezug auf den Bemessungszeitraum kommt es auf das sog. leistungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis an, das die tatsächliche Erbringung von Arbeit voraussetzt. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 21. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. August 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Der Klägerin steht ab dem 08. Juni 2016 kein höheres Alg I unter Berücksichtigung ihres ab dem 01. November 2015 bezogenen Arbeitsentgelts zu. Die fiktive Berechnung des Alg I ist nicht zu beanstanden.
Die Höhe des der Klägerin zustehenden Alg I errechnet sich gemäß § 149 Sozialgesetzbuch, Drittes Buch (SGB III) aus dem sog. Bemessungsentgelt. Das Bemessungsentgelt ist das pauschalierte Nettoentgelt, das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, dass die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat.
Der Bemessungszeitraum umfasst gemäß § 150 Abs. 1 SGB III die beim Ausscheiden aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigung im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst ein Jahr. Er endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs auf Alg I.
Nach § 150 Abs. 3 SGB III wird der Bemessungsrahmen auf zwei Jahre erweitert, wenn der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält.
Ist auch im erweiterten Bemessungsrahmen ein Bemessungszeitraum mit mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt nicht feststellbar, so hat gemäß § 152 SGB III eine fiktive Berechnung des Alg I zu erfolgen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfüllt ein fortbestehendes Arbeitsverhältnis, bei dem der Arbeitnehmer unter Fortzahlung der Bezüge unwiderruflich von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt ist, die Voraussetzungen für ein Versicherungspflichtverhältnis im Sinne des § 25 Abs. 1 SGB III (vgl. BSG, Urt. v. 24.08.2008 – B 12 KR 22/07 R; BSG, Urt. v. 11.12.2014 – B 11 AL 2/14 R).
Das Ende des Bemessungsrahmens fällt dementsprechend auf den 31. Mai 2016.
In Bezug auf den Bemessungszeitraum kommt es nach ständiger Rechtsprechung des BSG demgegenüber auf das sog. leistungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis an, das die tatsächliche Erbringung von Arbeit voraussetzt (vgl. nur BSG, Urt. v. 08.07.2009 – B 11 AL 14/08 R; BSG, Beschluss vom 30.04.2010 – B 11 AL 160/09 B; so auch Bay LSG, Beschluss vom 18.07.2016 – L 10 AL 133/16 NZB; LSG Hamburg, Urt. v. 05.04.2017 – L 2 AL 84/16). Bei unwiderruflicher Freistellung eines Arbeitnehmers von der Erbringung der Arbeitsleistung liegt trotz Zahlung von Arbeitsentgelt somit zwar ein Beschäftigungsverhältnis im versicherungsrechtlichen Sinne, jedoch kein Beschäftigungsverhältnis im leistungsrechtlichen Sinne vor.
Im Zeitraum vom 01. Juni 2015 bis zum 31. Mai 2016 hat die Klägerin somit gar kein Entgelt aus einem leistungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis bezogen und in dem auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen lediglich im Zeitraum vom 01. Juni 2014 bis zum 24. August 2014.
Innerhalb des Bemessungsrahmens liegen damit keine 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt aus einem leistungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis, so dass die Beklagte zu Recht eine fiktive Berechnung des Alg I vorgenommen hat.
Die Kammer kann in der Rechtsprechung des BSG zu der Unterscheidung zwischen einem Beschäftigungsverhältnis im versicherungsrechtlichen Sinne im Gegensatz zu demjenigen im leistungsrechtlichen Sinne auch keinen Wertungswiderspruch erkennen.
Die Anerkennung eines formal fortbestehenden Arbeitsverhältnisses, bei dem der Arbeitnehmer unter Fortzahlung der Bezüge unwiderruflich von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt ist, als Beschäftigungsverhältnis im versicherungsrechtlichen Sinne dient dem Schutz der Arbeitnehmer, die hierdurch auch bei Freistellung einen Anspruch auf Alg I dem Grunde nach erwerben können.
Den Regelungen der §§ 150 ff. SGB III, nach denen Alg I nur dann konkret nach dem bisher erworbenen Arbeitsentgelt berechnet werden soll, wenn der Bemessungsrahmen mindestens mit 150 Tagen Anspruch auf Arbeitsentgelt gegen Arbeitsleistung belegt ist, liegt demgegenüber die Annahme zugrunde, dass Alg I eine Lohnersatzfunktion in Bezug auf denjenigen Lohnanspruch zukommt, den der Arbeitnehmer gegenwärtig am Arbeitsmarkt erzielen kann.
Der Gesetzgeber geht insofern davon aus, dass ein Arbeitsloser, der in den letzten zwei Jahren vor Bezug von Alg I nicht mindestens 150 Tage in einem leistungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis stand, nicht mehr zwingend an sein altes Lohnniveau anknüpfen kann (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10.03.2010, 1 BvL 11/07). Die Berechnung hat in diesen Fällen fiktiv nach Maßgabe derjenigen Tätigkeit zu erfolgen, in die der oder die Arbeitslose – ausgehend in erster Linie von der absolvierten Ausbildung – vermittelt werden soll.
Die Klägerin hat sich den Vermittlungsbemühungen der Beklagten als Pförtnerin zur Verfügung gestellt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Zuordnung zur Qualifikationsstufe 4 nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.