Arbeitsrecht

Kriterien für die Einstufung von Bereitschaftszeiten eines Arbeitnehmers als „Arbeitszeit“ oder „Ruhezeit“, Wegezeit zum Arbeitsplatz nach Abruf im Bereitschaftsdienst als „Arbeitszeit“ (verneint), fehlende Rechtsgrundlage der Anordnung im Einzelfall

Aktenzeichen  Au 5 K 20.724

Datum:
22.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 29555
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
RL 2003/88/EG Art. 2 Nr. 1 und Nr. 2 der
ArbZG § 17 Abs. 2 und Abs. 4

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid der Regierung von … – Gewerbeaufsichtsamt – vom 17. März 2020 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 4. Mai 2021, Az., wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid des Beklagten, vertreten durch die Regierung von … – Gewerbeaufsichtsamt – vom 17. März 2020 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 4. Mai 2020, Az., ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Nr. 1 des Bescheides vom 17. März 2020, nach der die Klägerin durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen hat, dass bei Inanspruchnahmen im Rufbereitschaftsdienst die Wegezeiten der diensthabenden Beschäftigten von der Wohnung zum Einsatzort und nach Einsatzende vom Einsatzort zurück zur Wohnung als Arbeitszeiten i.S.d. § 2 Abs. 1 ArbZG zu werten (Nr. 1.1 des Bescheides) und nach Nr. 1.2 des Bescheides anfallende Wegezeiten als Arbeitszeiten gem. § 16 Abs. 2 ArbZG aufzuzeichnen sind, wenn die gesamte werktägliche Arbeitszeit acht Stunden überschreitet (Nr. 1.2 Satz 1 des Bescheides) sowie weitergehende Aufzeichnungspflichten nach anderen Vorschriften unberührt bleiben (Nr. 1.2 Satz 2 des Bescheides) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Der vom Gewerbeaufsichtsamt als Rechtsgrundlage für die getroffenen Anordnungen zugrunde gelegte § 17 Abs. 2 ArbZG trägt die streitgegenständlichen Anordnungen in Nr. 1.1 und Nr. 1.2 des Bescheides vom 17. März 2020 nicht.
Nach § 17 Abs. 2 ArbZG kann die Aufsichtsbehörde die erforderlichen Maßnahmen anordnen, die der Arbeitgeber zur Erfüllung der sich aus dem Arbeitszeitgesetz und den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen ergebenden Pflichten zu treffen hat.
Eine Definition des Arbeitszeitbegriffes i.S.d. Arbeitszeitgesetzes enthält § 2 Abs. 1 Satz 1 HS 1 ArbZG. Danach ist Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitgesetzes die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen.
Daneben findet sich eine Definition der Arbeitszeit in der RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung.
Diese Richtlinie enthält nach Art. 1 Abs. 1 Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung. Gegenstand der Richtlinie sind nach Art. 1 Abs. 2a die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit.
Arbeitszeit i.S.d. der Richtlinie ist nach deren Art. 2 Nr. 1 jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Ruhezeit ist nach Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit.
Das Bundesarbeitsgericht hat bereits in seiner Entscheidung vom 18. Februar 2003, Az. 1 ABR 2/02, festgestellt, dass Zeiten des Bereitschaftsdienstes nach herkömmlicher Auffassung nicht als Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitgesetz anzusehen sind (BAG, B.v. 18.2.2003 – 1 ABR 2/02 – juris Rn. 55). In seiner Entscheidung vom 20. August 2014, Az. 10 AZR 937/13, hat das Bundesarbeitsgericht darüber hinaus entschieden, dass der Weg von der Wohnung des Arbeitnehmers bis zu der Stelle, an der die Arbeit beginnt, grundsätzlich nicht zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit zählt (BAG, U.v. 20.8.2014 – 10 AZR 937/13 – juris Rn. 18).
Der Europäische Gerichtshof hat sich in einer Entscheidung vom 9. März 2021, Az. C 580/19, mit der Frage auseinandergesetzt, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft Arbeitszeit i.S.d. Art. 2. Nr. 1 der RL 2003/88/EG sein kann (EuGH, U.v. 9.3.2021 – C 580/19 – juris). Er hat dabei folgende Grundsätze aufgestellt:
30. Die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers ist daher für die Zwecke der Anwendung der RL 2003/88 entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzustufen, da die Richtlinie keine Zwischenkategorie vorsieht (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizja Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C 344/19, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung].
31. Außerdem sind die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ unionsrechtliche Begriffe, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der RL 2003/88 zu bestimmen sind. Denn nur eine solche autonome Auslegung vermag die volle Wirksamkeit der Richtlinie und eine einheitliche Anwendung dieser Begriffe in sämtlichen Mitgliedsstaaten sicherzustellen (Urteil vom heutigen Tag Radiotelevizia Slovenija) [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C 344/19 Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung].
32. Daher dürfen die Mitgliedsstaaten trotz der Bezugnahme auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten in Art. 2 der RL 2003/88 den Inhalt der Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ nicht unilateral festlegen, indem sie den Anspruch auf ordnungsgemäße Berücksichtigung der Arbeitszeiten und dementsprechend der Ruhezeiten, der den Arbeitnehmern durch diese Richtlinie unmittelbar zuerkannt wird, irgendwelchen Bedingungen oder Beschränkungen unterwerfen. Jede andere Auslegung würde der RL 2003/88 ihre praktische Wirksamkeit nehmen und ihrer Zielsetzung zuwiderlaufen (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizja Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C 344/19, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung].

36. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass sich der Arbeitnehmer, der während einer solchen Bereitschaftszeit verpflichtet ist, zur sofortigen Verfügung seines Arbeitsgebers an seinem Arbeitsplatz zu bleiben, außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten muss und weniger frei über die Zeit verfügen kann, in der er nicht in Anspruch genommen wird. Folglich ist dieser Zeitraum, unabhängig von den Arbeitsleistungen, die der Arbeitnehmer darin tatsächlich erbringt, als „Arbeitszeit“ i.S.d. RL 2003/88 einzustufen.

37. Zum anderen hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, auch wenn der Arbeitnehmer während dieser Zeit nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, gleichwohl insgesamt als „Arbeitszeit“ i.S.d. RL 2003/88 einzustufen ist, sofern sich angesichts der objektiv vorhandenen und ganz erheblichen Auswirkungen der dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen auf seine Möglichkeiten, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen zu widmen, von einem Zeitraum unterscheidet, in dem der Arbeitnehmer lediglich für seinen Arbeitgeber erreichbar sein muss…
38. Wie sich sowohl aus den in den Rn. 34 bis 37 des vorliegenden Urteils angeführten Gesichtspunkten, als auch aus dem in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Erfordernis, Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte auszulegen, ergibt, fallen unter den Begriff „Arbeitszeit“ i.S.d. RL 2003/88 sämtliche Bereitschaftszeiten einschließlich der Rufbereitschaften, während derer dem Arbeitnehmer Einschränkungen von solcher Art auferlegt werden, dass sie seine Möglichkeit, während der Bereitschaftszeit die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.
39. Umgekehrt stellt, wenn die dem Arbeitnehmer während einer bestimmten Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen keinen solchen Intensitätsgrad erreichen und es ihm erlauben, über seine Zeit zu verfügen und sich ohne größere Einschränkungen seinen eigenen Interessen zu widmen, nur die Zeit, die auf die gegebenenfalls während eines solchen Zeitraums tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung entfällt, „Arbeitszeit“ für die Zwecke der Anwendung der RL 2003/88 dar (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizja Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C 344/19, Rn. 8 und die dort angeführte Rechtsprechung].

41. Organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit für den Arbeitnehmer mit sich bringen kann und die sich nicht aus solchen Einschränkungen ergeben, sondern zum Beispiel die Folge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers sind, können dagegen nicht berücksichtigt werden (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizja Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C 344/19, Rn. 40].
42. So stellt insbesondere die große Entfernung zwischen dem vom Arbeitnehmer frei gewählten Wohnort und dem Ort, der für ihn während seiner Bereitschaftszeit innerhalb einer bestimmten Frist erreichbar sein muss, für sich genommen kein relevantes Kriterium für die Einstufung dieser gesamten Zeitspanne als „Arbeitszeit“ i.S.v. Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88 dar; dies gilt zumindest dann, wenn dieser Ort sein gewöhnlicher Arbeitsplatz ist.
Dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 9. März 2021 – Az. C580/19 – ist zu entnehmen, dass die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ autonom unionsrechtlich auszulegen sind. Die Einführung einer nationalen Kategorie „Wegezeit“ ist danach nicht möglich. Dementsprechend kennt auch das Arbeitszeitgesetz keine eigene Kategorie „Wegezeit“. Damit scheidet es auch aus, die „Wegezeit“, aber nicht die restliche Bereitschaftszeit pauschal zur „Arbeitszeit“ zu zählen. Entweder ist die gesamte Bereitschaftszeit „Arbeitszeit“ oder „Ruhezeit“ i.S.d. Art. 2 Nr. 1 und Nr. 2 der RL 2003/88/EG.
Kann wegen des Fehlens einer Verpflichtung, am Arbeitsplatz zu bleiben, eine Bereitschaftszeit nicht automatisch als „Arbeitszeit“ i.S.d. RL 2003/88/EG eingestuft werden, haben die nationalen Gerichte (nur) noch zu prüfen, ob sich eine solche Einstufung nicht doch aus den Konsequenzen ergibt, die die gesamten dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen auf seine Möglichkeiten haben, während der Bereitschaftszeit die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, über wie viel Zeit der Arbeitnehmer während seines Bereitschaftsdienstes verfügt, um seine beruflichen Tätigkeiten ab dem Zeitpunkt der Aufforderung durch seinen Arbeitgeber aufzunehmen, gegebenenfalls i.V.m. der durchschnittlichen Häufigkeit der Einsätze, zu denen der Arbeitnehmer während dieses Zeitraums tatsächlich herangezogen wird (EuGH, U.v. 9.3. 2021 – C 580/19 – juris Rn. 44 f.). Zweitens muss neben der Frist, über die der Arbeitnehmer verfügt, um seine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, berücksichtigt werden, wie oft er im Durchschnitt während seiner Bereitschaftszeiten normalerweise tatsächlich Leistungen zu erbringen hat, wenn insoweit eine objektive Schätzung möglich ist. Ein Arbeitnehmer, der während einer Bereitschaftszeit im Durchschnitt zahlreiche Einsätze zu leisten hat, verfügt nämlich über einen geringeren Spielraum, um seine Zeit während der Perioden der Inaktivität frei zu gestalten, weil diese häufig unterbrochen werden. Das gilt umso mehr, wenn die Einsätze, die dem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeit normalerweise abverlangt werden, von nicht unerheblicher Dauer sind (EuGH, U.v. 9.3.2021 – C 580/19 – juris Rn. 44, 45 und 50, 51).
Maßgebliche Kriterien, ob danach Bereitschaftszeiten grundsätzlich insgesamt als „Arbeitszeit“ i.S.d. RL 2003/88/EG anzusehen sind, sind danach insbesondere die durchschnittliche Häufigkeit der tatsächlichen Einsätze für den Arbeitnehmer in der Bereitschaftszeit, der Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer ab der Aufforderung des Arbeitgebers am Arbeitsplatz zur Verfügung stehen muss sowie die Dauer des tatsächlichen Arbeitseinsatzes.
Danach kann § 17 Abs. 2 ArbZG bereits deshalb nicht als Rechtsgrundlage für die in Nr. 1.1 und Nr. 1.2 des Bescheides vom 17. März 2020 erlassenen Anordnungen, nach der die „Wegezeit“ von der Wohnung zum Einsatzort und nach Einsatzende vom Einsatzort zurück zur Wohnung als „Arbeitszeit“ i.S.d. § 2 Abs. 2 ArbZG zu werten sind und gem. § 16 Abs. 2 ArbZG als solche aufzuzeichnen sind, wenn die gesamte werktägliche Arbeitszeit acht Stunden überschreitet, herangezogen werden, weil es keine nationale Kategorie „Wegezeit“ gibt.
Aber auch wenn man die Nr. 1.1 und die Nr. 1.2 des Bescheides vom 17. März 2020 als die Klägerin weniger belastendes Minus im Vergleich zu einer Anordnung, die gesamte Bereitschaftszeit der betroffenen Arbeitnehmer als „Arbeitszeit“ einzustufen, ansähe, könnten die Anordnungen nicht auf § 17 Abs. 2 ArbZG gestützt werden.
Voraussetzung und Grundlage für die Prüfung der Frage, ob die gesamte Bereitschaftszeit der betroffenen Mitarbeiter der Klägerin als „Arbeitszeit“ i.S.d. Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88/EG anzusehen ist, sind objektiv überprüfbare, aktuelle Daten dazu, wie viele Arbeitnehmer die Klägerin beschäftigt, wie viele Arbeitnehmer von der Rufbereitschaft betroffen sind, wie viele Bereitschaftszeiten im Jahr auf den einzelnen betroffenen Arbeitnehmer entfallen, wie lange die einzelnen Bereitschaftszeiten sind, ob es eine vertragliche Regelung einer Pflicht des Arbeitnehmers gibt, innerhalb einer bestimmten Zeit am Arbeitsplatz zu sein und wie lange die tatsächliche Arbeitsleistung dauert.
Das Gewerbeaufsichtsamt hat in der Begründung seines Bescheides hierzu lediglich ausgeführt, anlässlich einer Besprechung am 12. März 2019 hätten Vertreter der Klägerin angegeben, dass es im Jahr 2018 zu 42 Einsätzen im Rufbereitschaftsdienst gekommen sei. Ohne Einbeziehung der Wegezeiten seien bereits in fünf Fällen durch die Einsätze vor Ort im Rufbereitschaftsdienst Überschreitungen der täglichen Höchstarbeitszeiten von zehn Stunden zu verzeichnen gewesen. Die meisten Mitarbeiter wohnten zwar in der Nähe der Betriebsstätte, bei einzelnen Mitarbeitern könne aber die einfache Wegezeit bis zu einer Stunde betragen. Damit sei durch die Wegezeiten durchaus von relevanten Zusatzbelastungen der Mitarbeiter auszugehen.
Aus den vom Gewerbeaufsichtsamt gemachten Angaben, die sich auf den Zeitraum 2018 beziehen, lässt sich nicht entnehmen, wie viele Mitarbeiter die Klägerin aktuell beschäftigt und wie viele Mitarbeiter von der Rufbereitschaft tatsächlich betroffen sind. Dem Bescheid lässt sich darüber hinaus nicht entnehmen, in welchem Umfang die betroffenen Mitarbeiter Bereitschaftsdienst leisten, insbesondere an wie vielen Tagen des Jahres der einzelne Mitarbeiter von einem solchen Bereitschaftsdienst betroffen ist. In der Begründung des Bescheides wird lediglich pauschal darauf hingewiesen, dass es im Jahr 2018 zu 42 Einsätzen im Rufbereitschaftsdienst gekommen sei. Es wird aber weder dargelegt, wie viele Mitarbeiter von der Rufbereitschaft betroffen sind, noch, in welchem Umfang die von der Rufbereitschaft betroffenen Mitarbeiter tatsächlich während ihres Bereitschaftsdienstes in Anspruch genommen worden sind. Für die Beurteilung, ob die Bereitschaftszeiten des einzelnen Mitarbeiters als „Ruhezeit“ oder als „Arbeitszeit“ i.S.d. RL 2003/88/EG einzustufen sind, ist es aber von entscheidender Bedeutung, an wie vielen Tagen der einzelne Mitarbeiter Rufbereitschaft hat und an wie vielen Tagen der Rufbereitschaft es dann auch tatsächlich zu einem Einsatz während der Rufbereitschaft gekommen ist und wie lange dieser gedauert hat.
Anhaltspunkte dafür, dass die von der Rufbereitschaft betroffenen Mitarbeiter vertraglich verpflichtet sind, während der Bereitschaftszeiten ab Abruf innerhalb einer bestimmten Frist am Arbeitsplatz zur Erbringung der tatsächlichen Arbeitsleistung zur Verfügung stehen, haben sich für das Gericht nicht ergeben. Weder das Gewerbeaufsichtsamt noch die Klägerin haben hierzu etwas vorgetragen. Soweit sich das Gewerbeaufsichtsamt zur Begründung der Anordnungen in Nr. 1.1 und Nr. 1.2 des Bescheides darüber hinaus darauf beruft, dass bei einzelnen Mitarbeitern die einzelne Wegezeit bis zu einer Stunde betrage, ist dies für die Beurteilung der Frage, ob die Bereitschaftszeit als „Ruhezeit“ oder „Arbeitszeit“ einzustufen ist, nach dem Urteil des EuGH vom 9.3.2021, Az. C580/19, kein geeignetes Kriterium. Es ist auch weder vorgetragen, noch ersichtlich, dass die abgerufene Arbeitsleistung nicht am Betriebssitz der Klägerin zu erbringen sind.
Auf der Grundlage der vom Gewerbeaufsichtsamt vorgelegten Unterlagen und der Begründung des Bescheides lässt sich danach nicht die Feststellung treffen, dass die Bereitschaftszeiten der Mitarbeiter der Klägerin insgesamt als „Arbeitszeit“ i.S.d. RL 2003/88/EG anzusehen sind und die Anordnungen in Nr. 1.1 und Nr. 1.2, nach der die Wegezeiten als „Arbeitszeit“ i.S.d. § 2 Abs. 1 ArbZG zu werten sind, lediglich als die Klägerin als weniger belastendes Minus anzusehen sind.
Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass es für die in Nr. 1.1 und Nr. 1.2 des Bescheides vom 17. März 2020 getroffenen Anordnungen an der erforderlichen Rechtsgrundlage fehlt. Die die Klägerin belastenden Anordnungen sind rechtswidrig und verletzen diese in ihren Rechten. Sie sind deshalb aufzuheben.
In der Folge ist auch die Nr. 2 des Bescheides vom 17. März 2020 in der Fassung der Nr. 1.2 des Änderungsbescheides vom 4. Mai 2020, nach der die Klägerin dem Gewerbeaufsichtsamt bis spätestens einen Monat nach Bestandskraft des Bescheides durch Vorlage geeigneter Unterlagen zu bestätigen hat, dass die Wegezeiten bei Inanspruchnahmen im Rufbereitschaftsdienst als arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeiten gewertet und aufgezeichnet werden, aufzuheben.
Fehlt es an der Rechtsgrundlage für die getroffenen Anordnungen selbst, können auch die Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten, sowie sie in Nr. 1.2 des Änderungsbescheides vom 4. Mai 2020 angeordnet werden, nicht auf § 17 Abs. 4 ArbZG gestützt werden und keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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