Arbeitsrecht

Vertragsauslegung – Verweisung auf Tarifvertrag

Aktenzeichen  4 AZR 371/15

Datum:
20.6.2018
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BAG:2018:200618.U.4AZR371.15.0
Normen:
§ 133 BGB
§ 151 BGB
§ 611 BGB
§ 157 BGB
Spruchkörper:
4. Senat

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Paderborn, 26. November 2014, Az: 4 Ca 1050/14, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen), 20. Mai 2015, Az: 17 Sa 1746/14, Urteil

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 20. Mai 2015 – 17 Sa 1746/14 – wird zurückgewiesen.
2. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 20. Mai 2015 – 17 Sa 1746/14 – aufgehoben, als es die Klage in Höhe von 756,24 Euro und die Feststellung bezgl. Lohngruppe II, Lohnstaffel b abgewiesen hat. Insoweit wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – einschließlich der Kosten der Revision und der Nebenintervention – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Anwendung des Lohntarifvertrags für den Einzelhandel Nordrhein-Westfalen (LTV) auf ihr Arbeitsverhältnis sowie daraus resultierende Entgeltdifferenzansprüche für den Zeitraum von Januar 2014 bis Februar 2015 gegen die Beklagte.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten, die Möbelhäuser betreibt, aufgrund eines Arbeitsvertrags vom 17. März 1989 seit dem 1. Juli 1989 als Auslieferungsfahrer beschäftigt.
3
Der Arbeitsvertrag lautet auszugsweise wie folgt (die unterstrichenen Passagen sind maschinenschriftlich in das Formular eingefügt):
        
„§ 1   
Einstellung
        
        
1.    
Der/Die Arbeitnehmer/in wird ab 01. July 1989 als Auslieferungsfahrer eingestellt.
        
        
2.    
Der/Die Arbeitnehmer/in wird als Vollzeitkraft/Teilzeitkraft mit       Std. wöchentlich eingestellt. …
        
        
3.    
Die Tarifverträge für die Beschäftigten im Einzelhandel des Landes Nordrhein-Westfalen in ihrer jeweils geltenden Fassung und deren Nachfolgeverträge sind Bestandteil dieses Vertrages.
        
        
        
…       
        
§ 4     
Lohn   
        
        
1.    
Gemäß der in § 1 Absatz 1 genannten Tätigkeit wird der/die Arbeitnehmer/in in die Lohngruppe _______ [nicht ausgefüllt] des derzeit geltenden Lohntarifvertrages für den Einzelhandel eingestuft.
        
        
2.    
Der vereinbarte Lohn beträgt 14,96 brutto DM je Stunde.
        
        
        
…       
        
        
4.    
Die über den Tariflohn hinausgehenden Lohnbestandteile … können jederzeit unter Einhaltung einer Frist von einem Monat gekürzt oder widerrufen werden. Sie können bei einer Erhöhung der Lohntarife, beim Aufrücken in eine höhere Lohngruppe/-stufe und bei Höhergruppierungen angerechnet werden.“
4
Die Beklagte ist Mitglied des Einzelhandelsverbandes Ostwestfalen-Lippe e.V., der wiederum Mitglied im Einzelhandelsverband Nordrhein-Westfalen e.V. ist. Sie war zunächst Mitglied mit Tarifgebundenheit. Auf ihren Antrag hin führt sie der Verband seit dem 1. November 2004 als Mitglied ohne Tarifgebundenheit („OT-Mitglied“). Die Verbandssatzung sieht eine derartige OT-Mitgliedschaft vor.
5
Bis zum Wechsel in die OT-Mitgliedschaft wurde der Lohn des Klägers regelmäßig entsprechend den Tarifabschlüssen im Einzelhandel Nordrhein-Westfalen erhöht. Der zu dieser Zeit gültige LTV war zum 31. März 2005 gekündigt.
6
Am 1. März 2005 schlossen die Parteien eine „Vereinbarung zur Änderung des Arbeitsvertrages“, die auszugsweise wie folgt lautet:
        
„Die Parteien sind sich darüber einig, dass der zwischen Ihnen bestehende Arbeitsvertrag mit Wirkung ab dem 01.04.2005 wie folgt geändert wird. Die dabei nicht genannten Regelungen gelten weiter. …
        
Arbeitszeit
        
Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt 40,0 Stunden.
        
Zuschläge
        
Auf Spätöffnungs- und Mehrarbeitszuschläge besteht kein Anspruch.
        
Sonderzahlungen
        
…       
        
Urlaub
        
…“    
7
Jedenfalls nach Abschluss dieser Vereinbarung gab die Beklagte Tariflohnerhöhungen im Einzelhandel Nordrhein-Westfalen nicht mehr an den Kläger weiter.
8
Am 12. Mai 2010, 19. Dezember 2012, 13. Januar 2014 und am 12. Januar 2015 unterzeichnete der Kläger jeweils ein Formular mit der Überschrift „Personalveränderung“. Diese Dokumente haben jeweils auszugsweise folgenden Wortlaut:
9
Personalveränderung vom 12. Mai 2010 (Personalveränderung 2010):
         
„Veränderung gültig ab
        
        
        
01.05.2010
        
        
        
        
        
        
        
        
bisher
künftig
        
Abteilung
Mitnahmelager
Mitnahmelager
        
        
        
        
        
Standort
        
        
        
        
        
        
        
Kostenstelle
        
        
        
        
        
        
        
Tätigkeit
        
        
        
        
        
        
        
Arbeitszeit
        
        
        
        
        
        
        
Fixum 
        
        
        
        
        
        
        
Lohn/ Gehalt/ Garantiegehalt
        
        
        
        
        
        
        
Zulagen
        
100,00
        
        
        
        
        
Summe Vergütung
        
        
        
        
        
        
        
Die Funktionszulage in Höhe von 100,00 € ist befristet bis zum 31.12.2010
        
        
        
        
        
Der / die Mitarbeiter(in) wurde über die Sach- und Rechtslage aufgeklärt, aus der sich die vorläufige Massnahme ergibt
        
X       
Die Zustimmung des Betriebsrates liegt vor
        
☐       
Die Zustimmung des Betriebsrates ist nicht erforderlich
        
☐       
Notwendige Informationen an die Controlling-Abteilung zwecks Aktualisierung der Stunden-Umsatzliste wurden weitergeleitet
        
☐       
Notwendige Informationen an das Call-Center zwecks Aktualisierung der Telefon-Liste wurden weitergeleitet
        
        
        
        
        
Datum 
        
        
        
12.05.2010
        
        
        
        
        
        
        
Unterschrift Mitarbeiter(in)
Unterschrift bisheriger Vorgesetzter
Unterschrift künftiger Vorgesetzter“
        
(unleserlich)
(unleserlich)
10
Personalveränderung vom 19. Dezember 2012 (Personalveränderung 2012):
         
„Veränderung gültig ab
        
        
        
01.01.2013
        
        
        
        
        
        
        
        
bisher
künftig
        
Abteilung
Mitnahmelager
Mitnahmelager
        
        
        
        
        
Standort
Paderborn
Paderborn
        
        
        
        
        
Kostenstelle
        
        
        
        
        
        
        
Tätigkeit
Lagerarbeiter
Lagerarbeiter
        
        
        
        
        
Arbeitszeit
40 Std./Wo
40 Std./Wo
        
        
        
        
        
Fixum 
        
        
        
        
        
        
        
Lohn/ Gehalt/ Garantiegehalt
1916,88 Vergütungsgruppe III
1916,88 Vergütungsgruppe III
        
        
        
        
        
Zulagen
100,00
100,00
        
        
        
        
        
Summe Vergütung
2016,88
2016,88
        
        
        
        
        
Die Funktionszulage in Höhe von 100,00€ ist befristet bis zum 31.12.2013
(handschriftlich:) à also ab 2014 keine Zulage mehr!
        
        
        
        
        
Der / die Mitarbeiter(in) wurde über die Sach- und Rechtslage aufgeklärt, aus der sich die vorläufige Massnahme ergibt
        
☐       
Die Zustimmung des Betriebsrates liegt vor
        
☐       
Die Zustimmung des Betriebsrates ist nicht erforderlich
        
☐       
Notwendige Informationen an die Controlling-Abteilung zwecks Aktualisierung der Stunden-Umsatzliste wurden weitergeleitet
        
☐       
Notwendige Informationen an das Call-Center zwecks Aktualisierung der Telefon-Liste wurden weitergeleitet
        
        
        
        
        
Datum 
        
        
        
19.12.2012
        
        
        
        
        
        
        
Unterschrift Mitarbeiter(in)
Unterschrift bisheriger Vorgesetzter
Unterschrift künftiger Vorgesetzter
        
(unleserlich)
(unleserlich, identisch mit rechts)
(unleserlich, identisch mit links)“
11
Personalveränderung vom 13. Januar 2014 (Personalveränderung 2014):
         
„Veränderung gültig ab
        
        
        
01.01.2014
        
        
        
        
        
        
        
        
bisher
künftig
        
Abteilung
Mitnahmelager
Mitnahmelager
        
        
        
        
        
Standort
Paderborn
Paderborn
        
        
        
        
        
Kostenstelle
        
        
        
        
        
        
        
Tätigkeit
Lagerarbeiter
Lagerarbeiter
        
        
        
        
        
Arbeitszeit
40 Std./Wo
40 Std./Wo
        
        
        
        
        
Fixum 
        
        
        
        
        
        
        
Lohn/ Gehalt/ Garantiegehalt
1916,88 Vergütungsgruppe III
1916,88 Vergütungsgruppe III
        
        
        
        
        
Zulagen
100,00
100,00
        
        
        
        
        
Summe Vergütung
2016,88
2016,88
        
        
        
        
        
Die Funktionszulage in Höhe von 100,00€ ist befristet bis zum 31.12.2014
        
        
        
        
        
Der / die Mitarbeiter(in) wurde über die Sach- und Rechtslage aufgeklärt, aus der sich die vorläufige Massnahme ergibt
        
☐       
Die Zustimmung des Betriebsrates liegt vor
        
☐       
Die Zustimmung des Betriebsrates ist nicht erforderlich
        
☐       
Notwendige Informationen an die Controlling-Abteilung zwecks Aktualisierung der Stunden-Umsatzliste wurden weitergeleitet
        
☐       
Notwendige Informationen an das Call-Center zwecks Aktualisierung der Telefon-Liste wurden weitergeleitet
        
        
        
        
        
Datum 
        
        
        
13.01.2014
        
        
        
        
        
        
        
Unterschrift Mitarbeiter(in)
Unterschrift bisheriger Vorgesetzter
Unterschrift künftiger Vorgesetzter
        
R       
(unleserlich, identisch mit rechts)
(unleserlich, identisch mit links)“
12
Personalveränderung vom 12. Januar 2015 (Personalveränderung 2015):
         
„Veränderung gültig ab
        
        
        
01.01.2015
        
        
        
        
        
        
        
        
bisher
künftig
        
Abteilung
Mitnahmelager
Mitnahmelager
        
        
        
        
        
Standort
Paderborn
Paderborn
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
        
Kostenstelle
        
        
        
        
        
        
        
Tätigkeit
Lagerarbeiter
Lagerarbeiter
        
        
        
        
        
Vergütungsgruppe
VGO/Anl.-2/L 2
VGO/Anl.-2/L 2
        
        
        
        
        
Arbeitszeit
40 Std./Wo
40 Std./Wo
        
        
        
        
        
Fixum 
        
        
        
        
        
        
        
Lohn/ Gehalt/ Garantiegehalt
1.959,77
2.059,77
        
        
        
        
        
Zulagen
100,00
        
        
        
        
        
        
Summe Vergütung
2059,77
2.059,77
        
        
        
        
        
Die Funktionszulage in Höhe von 100,00 € entfällt zukünftig.
        
        
        
        
        
Der / die Mitarbeiter(in) wurde über die Sach- und Rechtslage aufgeklärt, aus der sich die vorläufige Massnahme ergibt
        
☐       
Die Zustimmung des Betriebsrates liegt vor
        
☐       
Die Zustimmung des Betriebsrates ist nicht erforderlich
        
☐       
Notwendige Informationen an die Controlling-Abteilung zwecks Aktualisierung der Stunden-Umsatzliste wurden weitergeleitet
        
☐       
Notwendige Informationen an das Call-Center zwecks Aktualisierung der Telefon-Liste wurden weitergeleitet
        
        
        
        
        
Datum 
        
Unterschrift Geschäftsleitung
        
12.01.2015
        
        
        
        
        
        
        
Unterschrift Mitarbeiter(in)
Unterschrift bisheriger Vorgesetzter
Unterschrift künftiger Vorgesetzter
        
R       
(unleserlich, identisch mit rechts)
(unleserlich, identisch mit links)“
13
Mit seiner am 14. Juli 2014 zugestellten Klage und den in der Berufungsinstanz vorgenommenen Klageerweiterungen hat der Kläger für die Monate Januar 2014 bis Februar 2015 Ansprüche auf Differenzentgelt zwischen der ihm gezahlten monatlichen Vergütung und dem ihm seiner Auffassung nach zustehenden Tariflohn entsprechend der Lohngruppe II LTV geltend gemacht, da er die Anforderungen des dort geregelten Tätigkeitsmerkmals erfülle. Er hat die Ansicht vertreten, der LTV sei in seiner jeweiligen Fassung auf sein Arbeitsverhältnis aufgrund der zeitdynamischen Klausel in § 1 Nr. 3 des Arbeitsvertrags anzuwenden. Diese sei im Änderungsvertrag vom März 2005 erneut vereinbart worden, weshalb sie nicht mehr als Gleichstellungsabrede ausgelegt werden könne. Eine nachfolgende, von § 1 Nr. 3 des Arbeitsvertrags abweichende Lohnvereinbarung gebe es nicht, auch nicht aufgrund der „Personalveränderungen“. Diese dokumentierten lediglich die befristete Zahlung einer jeweiligen Funktionszulage bzw. deren Deklaration als Gehalt.
14
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,
        
1.    
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.097,44 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 972,72 Euro seit dem 14. Juli 2014 und aus 1.134,72 Euro seit dem 7. März 2015 zu zahlen;
        
2.    
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ein Entgelt nach der Lohngruppe II Lohnstaffel b des Lohntarifvertrags für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen zwischen dem Handelsverband NRW und der Gewerkschaft ver.di zu zahlen;
        
3.    
die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 756,24 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. März 2015 zu zahlen.
15
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags die Auffassung vertreten, schon der Arbeitsvertrag verweise hinsichtlich der Lohnhöhe nicht auf die Tarifverträge des Einzelhandels, es sei vielmehr unter § 4 Nr. 2 des Arbeitsvertrags ausdrücklich ein konkreter Stundenlohn vereinbart worden. Jedenfalls liege eine Gleichstellungsabrede vor, die nicht geändert worden sei. In der Änderungsvereinbarung aus März 2005 liege kein Neuabschluss der Klausel aus § 1 Nr. 3 des Arbeitsvertrags. Ihr sei es bei Verwendung des Einleitungssatzes hinsichtlich der Weitergeltung von in der Änderungsvereinbarung nicht aufgeführten Regelungsgegenständen erkennbar nur darauf angekommen, keinen redaktionell ganz neuen Arbeitsvertrag zu verfassen. Zudem sei zu diesem Zeitpunkt klar erkennbar gewesen, dass sie sich von den tarifvertraglichen Regelungen zumindest hinsichtlich der Hauptleistungspflichten – wozu neben der ausdrücklich geänderten Arbeitszeit auch das Entgelt gehöre – habe lösen wollen. In den „Personalveränderungen“ seien deshalb die dort genannten und tatsächlich gezahlten Vergütungen als künftig arbeitsvertraglich geschuldet jeweils neu vereinbart worden. Letztlich seien Ansprüche des Klägers aufgrund der jahrelang unterbliebenen Geltendmachung und der insoweit anstandslosen Weiterarbeit zumindest verwirkt.
16
Das Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich des in der Revision noch gestellten Feststellungsantrags und – in der Sache – dem Zahlungsantrag zu 1. stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufungen beider Parteien den Feststellungsantrag abgewiesen und dem in der Berufung erweiterten Zahlungsantrag weitgehend stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Parteien ihre bisherigen Prozessziele weiter.


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