Aktenzeichen L 10 AL 254/17 B PKH
Leitsatz
Die Unkenntnis vom Anspruch auf Insolvenzgeld führt dann nicht zu einer unverschuldeten Fristversäumnis, wenn dem Antragsteller das Insolvenzereignis bekannt ist. (Rn. 14 – 16)
Verfahrensgang
S 17 AL 37/17 2017-10-06 Bes SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 06.10.2017 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt Prozesskostenhilfe (PKH) für ein Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG), bei dem die Zahlung von Insolvenzgeld streitig ist.
Der Kläger war vom 21.07.2015 bis zu seiner Kündigung zum 29.09.2015 als Bauhelfer bei der Firma K. B. GmbH (K), F., beschäftigt. Bereits ab Juli 2015 wurde der vereinbarte Lohn nicht vollständig gezahlt. Nachdem K zunächst mit Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 03.11.2015 (Az: …) ua verurteilt worden ist, ausstehenden Arbeitslohn iHv 3.976 € brutto sowie weitere 153,05 € netto an den Kläger zu zahlen, wurde ein Einspruch der K mit Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 10.12.2015 verworfen. Im Rahmen der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil teilte der Gerichtsvollzieher mit Schreiben vom 26.01.2016 mit, es bestehe Vollstreckungsschutz. Mit Beschluss vom 15.03.2016 hat das Amtsgericht F. (Az: …) ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der K eröffnet. Seine Forderung auf Arbeitsentgelt meldete der Kläger am 31.03.2016 beim Insolvenzverwalter an.
Den am 05.07.2016 gestellten Antrag auf Zahlung von Insolvenzgeld lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.12.2016 ab, da der Antrag nicht innerhalb der Ausschlussfrist gestellt worden und eine Nachfrist nicht einzuräumen sei.
Dagegen hat der Kläger Klage beim SG erhoben und die Bewilligung von PKH für das Klageverfahren beantragt. Er sei rumänischer Staatsangehöriger und der deutschen Sprache nicht mächtig sowie völlig unkundig im deutschen Recht. Auf den Hinweis des Arbeitsgerichts habe er seine Forderung beim Insolvenzverwalter angemeldet. Nachdem keinerlei Antwort gekommen sei, habe er Anfang Juli 2016 einem Bekannten davon erzählt. Sie seien zusammen zum Insolvenzverwalter gegangen, der mitgeteilt habe, er werde kein Geld erhalten. Sein Bekannter habe ihn darauf hingewiesen, dass es die Möglichkeit der Zahlung von Insolvenzgeld in Deutschland gebe und ihm zu einer entsprechenden Antragstellung bei der Beklagten geraten, was er dann auch getan habe. Er habe die Ausschlussfrist unverschuldet versäumt, da er keinerlei Kenntnis oder Kenntnisnahmemöglichkeit vom Insolvenzgeld gehabt und sich in ausreichendem Maße um die Verfolgung seiner Rechtsansprüche gegenüber K gekümmert habe. Unverzüglich nach Kenntniserlangung von der Möglichkeit einer Insolvenzgeldzahlung habe er dieses beantragt. Nach den Entscheidungen des Hessischen Landessozialgerichts vom 26.10.2007 (L 7 AL 185/05) und 24.03.2011 (L 1 AL 89/10) und der Kommentierung bei Gagel zum SGB III seien die Voraussetzungen für die Gewährung einer Nachfrist gegeben. Er habe auch keinen Anwalt zur Seite gehabt, der ihn hätte beraten können.
Mit Beschluss vom 06.10.2017 hat das SG den Antrag auf Bewilligung von PKH abgelehnt. Es liege keine hinreichende Aussicht auf Erfolg vor. Der Antrag auf Insolvenzgeld sei außerhalb der Ausschlussfrist gestellt worden. Die Unkenntnis von einem Anspruch auf Insolvenzgeld sei nicht beachtlich.
Dagegen hat der Kläger Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Es gelte ein individueller Verschuldensmaßstab. Er habe keinerlei Kenntnis von der Möglichkeit zur Beantragung von Insolvenzgeld gehabt. Mangels Arbeitslosigkeit im Anschluss an das Beschäftigungsverhältnis bei K habe es auch nicht zu einer Beratung durch die Beklagte kommen können. Er habe sich in ausreichendem Maße um die Durchsetzung seiner Ansprüche gekümmert und mit einem der deutschen Sprache Kundigen beim Insolvenzverwalter nachgehakt. Direkt nach der Auskunft, dass er kein Geld erhalten werde, habe er Insolvenzgeld beantragt.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 SGG), aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht den Antrag auf Bewilligung von PKH abgelehnt.
Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) iVm Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG ist eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes geboten (BVerfG, Beschluss vom 14.02.2017 – 1 BvR 2507/16 – juris). Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen daher die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden, so dass es ausreichend ist, dass der Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (vgl BSG, Urteil vom 17.02.1998 – B 13 RJ 83/97 R – SozR 3-1500 § 62 Nr. 19). Diese gewisse Wahrscheinlichkeit ist in aller Regel dann anzunehmen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Beteiligten aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorgelegten Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit des Obsiegens des PKH-Beantragenden ebenso wahrscheinlich ist wie sein Unterliegen (vgl dazu auch: Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 73a Rn 7 f). Schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen sind nicht im PKH-Verfahren zu entscheiden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (vgl BVerfG, Beschluss vom 14.07.1993 – 1 BvR 1523/92 – NJW 1994, 241f). PKH muss jedoch nicht schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als „schwierig“ erscheint (vgl BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990 – 2 BvR 94/88 – BVerfGE 81, 347ff). Ist dies dagegen nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der unbemittelten Partei wegen der fehlenden Erfolgsaussichten ihres Begehrens PKH vorzuenthalten (vgl BVerfG, Beschluss vom 19.02.2008 – 1 BvR 1807/07 – NJW 2008, 1060ff).
Eine hinreichende Erfolgsaussicht der Klage in diesem Sinne ist nicht gegeben. Ein Anspruch des Klägers auf Zahlung von Insolvenzgeld vermag der Senat nicht zu erkennen. Es fehlt vorliegend an einer rechtzeitigen Antragstellung.
Nach § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III ist Insolvenzgeld innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis zu beantragen. Hat der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt, die er nicht zu vertreten hat, wird Insolvenzgeld geleistet, wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt wird (§ 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III). Ein selbst zu vertretender Grund liegt vor, wenn sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung ihrer Ansprüche bemüht haben (§ 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III).
Ein Insolvenzereignis im Sinne des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III ist durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der K am 15.03.2016 begründet. Ein Antrag auf Zahlung von Insolvenzgeld wäre daher innerhalb der von da an zu rechnenden Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III (zur Europarechtskonformität der Ausschlussfrist: Urteil des Senats vom 28.10.2013 – L 10 AL 183/12 – mwN) zu stellen gewesen. Da es für den Lauf der Frist nicht auf eine Kenntnis des Arbeitnehmers vom Insolvenzereignis ankommt (vgl dazu: BSG, Urteil vom 10.04.1985 – 10 RAr 11/84; Radüge in Hauck/Noftz, SGB III, Stand 05/2012, § 324 Rn 26), lief diese nach § 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) iVm §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) lediglich bis zum 15.05.2016. Der Kläger hat aber seinen Antrag erst am 05.07.2016 und damit nach Ablauf der Ausschlussfrist gestellt.
Es war dem Kläger auch keine weitere Zwei-Monats-Frist iSv § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III zu gewähren. Diese beginnt mit dem Wegfall des Hindernisses für die Beantragung des Insolvenzgeldes, wenn die Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III unvertretbar versäumt worden ist. Fällt allerdings das Hindernis schon während des Laufes der Frist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III Weg, so ist die Nachfrist des § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III nicht eröffnet; maßgeblich bleibt dann die erste Frist (vgl Urteil des Senats vom 28.10.2013 – L 10 AL 183/12 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 18.01.1990 – 10 RAr 14/89 – juris; Urteil vom 10.04.1985 – 10 RAr 11/84 – SozR 4100 § 141e Nr. 8; Urteil vom 16.11.1984 – 10 RAr 17/83; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08.12.2005 – L 28 AL 167/04; BayLSG, Urteil vom 15.10.2002 – L 11 AL 327/01).
Die Voraussetzung einer schuldlos versäumten Einhaltung der Frist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III ist vorliegend nicht gegeben. Dabei sind die Rechtsgrundsätze anzuwenden, die die Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entwickelt hat (vgl dazu auch: BSG, Urteil vom 18.01.1990 – 10 RAr 14/89). Es gilt der Verschuldensmaßstab des § 276 BGB, womit auch einfache Fahrlässigkeit zu vertreten ist. Der Arbeitnehmer hat die ihm zumutbare und den Umständen nach erforderliche Sorgfalt anzuwenden, wobei es auf einen auf den jeweiligen Arbeitnehmer bezogenen individuellen Sorgfaltsmaßstab ankommt (Urteil des Senats vom 28.10.2013, aaO, mwN).
Der Kläger hat unter Berücksichtigung dieses Maßstabes im vorliegenden Fall die Frist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III schuldhaft versäumt. Mit der Anmeldung seiner Forderung beim Insolvenzverwalter ist ihm jedenfalls Ende März 2016 und damit noch innerhalb der Frist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III bekannt geworden, dass das Insolvenzverfahren über das Vermögen der K eröffnet worden war. Eine Beantragung von Insolvenzgeld innerhalb der Ausschlussfrist, die zu diesem Zeitpunkt noch weitere eineinhalb Monate betragen hätte, wäre dem Kläger ohne weiteres möglich gewesen.
Unerheblich ist es dabei, dass der Kläger nach eigenem Vortrag zunächst keine Kenntnis vom Anspruch auf Insolvenzgeld gehabt haben will. Eine solche Unkenntnis vom Bestehen eines rechtlichen Anspruchs oder dessen Voraussetzungen rechtfertigt ein „Nichtvertretenmüssen“ der Versäumung einer gesetzlichen Ausschlussfrist nicht (BSG, Urteil vom 10.04.1985 – 10 RAr 11/84; Sächsisches LSG, Urteil vom 07.07.2015 – L 3 AL 19/14; Radüge in Hauck/Noftz, SGB III, Stand 05/2012, § 324 Rn 31). Zu den Sorgfaltspflichten, die im Rahmen des § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III zu beachten sind, gehört es für einen rechtsunkundigen Arbeitnehmer, sich rechtzeitig sachkundigen Rechtsrat zu verschaffen. So hätte er sich bereits unmittelbar nach Bekanntwerden der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beraten lassen müssen, ob es Möglichkeiten in Bezug auf den Erhalt von Insolvenzgeld gibt. Auch wenn er sich sonst im Hinblick auf das Erstreiten eines Titels, dem Einleiten von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen und der Forderungsanmeldung beim Insolvenzverwalter im erforderlichen Maße um die Durchsetzung seiner Ansprüche gekümmert haben mag, ändert dies hieran nichts. Dies führt lediglich dazu, dass kein Fall des § 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III mit der Folge vorliegt, dass nicht schon deshalb die Ausschlussfrist schuldhaft versäumt worden ist. Damit sind aber andere Fälle der schuldhaften Fristversäumnis nicht ausgeschlossen (vgl BSG, Urteil vom 10.04.1985 – 10 RAr 11/84). Deshalb geht auch der Verweis des Klägers auf die Entscheidungen des Hessischen Landessozialgerichts vom 26.10.2007 (L 7 AL 185/05) und 24.03.2011 (L 1 AL 89/10) ins Leere. Dort ging es um Fälle, in denen die Frist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III deshalb versäumt worden war, weil zunächst bei den dortigen Kläger keine Kenntnis vom Insolvenzereignis bestanden hatte, sie sich aber um die Durchsetzung ihrer Ansprüche zuvor hinreichend bemüht hatten. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um die fehlende Kenntnis vom Insolvenzereignis, die nach dem bislang unbestrittenen Vortrag der Beklagten beim Kläger Ende März 2016 nach der Anmeldung seiner Forderung beim Insolvenzverwalter vorgelegen hat, sondern um eine zunächst unterlassene Antragstellung infolge angeblicher Unkenntnis von der Existenz eines Anspruchs auf Insolvenzgeld. Sofern in der Kommentierung von Peters-Lange (in Gagel, SGB II/SGB III, Stand: 06/2017, § 165 SGB III Rn 4c) darauf verwiesen wird, dass eine europarechtskonforme Auslegung der Fristenregelung dazu führen müsse, dass insbesondere die Unkenntnis von der Möglichkeit, Insolvenzgeld für das ausgefallenen Arbeitsentgelt zu beantragen, nicht zu Lasten des Arbeitnehmers gehen dürfe, wird dies nicht hinreichend begründet. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass mit diesem Ergebnis die Anforderungen des EuGH (Urteil vom 18.09.2003 – C-125/01 – Celex-Nr. 62001CJ0125), dass die Frist nicht weniger günstig ist als bei gleichartigen innerstaatlichen Anträgen (Grundsatz der Gleichwertigkeit) und nicht so ausgestaltet ist, dass sie die Ausübung der von der Gemeinschaftsrechtsordnung eingeräumten Rechte praktisch unmöglich macht (Grundsatz der Effektivität), nicht eingehalten wären. Es besteht das Bedürfnis, dass eine Rechtssicherheit eintritt und zeitlich naheliegend zum Insolvenzereignis klar ist, welche Insolvenzgeldansprüche geltend gemacht werden. Durch die Zwei-Monats-Frist war die Durchsetzung der Ansprüche des Klägers auch nicht praktisch unmöglich. Nach Kenntniserlangung von der Insolvenz der K bestanden noch eineinhalb Monate Zeit, den Antrag bei der Beklagten zu stellen. In dieser Zeit hätte ohne weiteres der Rat eines Rechtskundigen eingeholt werden können (vgl dazu auch Sächsisches LSG, Urteil vom 07.07.2015 – L 3 AL 19/14), wie es offenbar auch im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung geschehen ist.
Eine Erfolgsaussicht der Klage vor dem SG ist mithin nicht erkennbar. Dem Kläger ist deshalb keine PKH für das erstinstanzliche Verfahren zu bewilligen.
Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar (§ 177 SGG).