Europarecht

1 C 2/20

Aktenzeichen  1 C 2/20

Datum:
25.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:250521U1C2.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Dublin III-VO, wonach die Situation von Kindern eines Asylantragstellers, die nach dessen Ankunft im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, untrennbar mit der Situation dieses Elternteils verbunden ist und in die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats fällt, der für die Prüfung des Antrags des Elternteils auf internationalen Schutz zuständig ist, kann auf den Asylantrag eines im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes, dessen Eltern zuvor bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz erhalten haben, jedenfalls nicht in der Weise analog angewendet werden, dass es in dieser Fallkonstellation auch nicht der Einleitung eines eigenen Zuständigkeitsverfahrens für das Kind gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 2 letzter Halbsatz Dublin III-VO bedarf (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 – 1 C 37.19 – NVwZ 2021, 251).
2. Der Mitgliedstaat, in dem ein nachgeborenes Kind seinen Asylantrag gestellt hat, ist deshalb jedenfalls dann für dessen Prüfung zuständig, wenn er den Mitgliedstaat, der den Eltern internationalen Schutz gewährt hat, nicht binnen der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen um die Aufnahme des Kindes ersucht hat (vgl. Art. 21 Abs. 3 Dublin III-VO); die bloße Unterrichtung über die Geburt des Kindes reicht dazu nicht aus (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 – 1 C 37.19 -).

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 27. Januar 2020, Az: 1 LB 9/19, Beschlussvorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, 9. August 2019, Az: 10 A 424/19, Gerichtsbescheid

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. Januar 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Die Klägerin, eine eritreische Staatsangehörige, wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Italien.
2
Die Klägerin wurde im Februar 2019 im Bundesgebiet geboren. Ihren Eltern war zuvor in Italien im Rahmen eines dort durchgeführten Asylverfahrens internationaler Schutz gewährt worden. Sie stellten im März 2015 in der Bundesrepublik Deutschland erneut Asylanträge. Am 10. April 2019 wurde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Geburt der Klägerin angezeigt.
3
Das Bundesamt erachtete aufgrund dessen einen Asylantrag für die Klägerin gemäß § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG als gestellt. Mit Bescheid vom 3. Juli 2019 lehnte es diesen Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss eines etwaigen Klageverfahrens zu verlassen, und drohte für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Italien bzw. in einen anderen Staat an, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist (Ziffer 3). Das Bundesamt befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig, da nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei. Es bedürfe nicht der Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens für das nachgeborene Kind, weil Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO über eine erweiternde Auslegung bzw. analog Anwendung finde. Hiernach sei die Situation des Kindes untrennbar mit der Situation seiner Eltern verbunden und die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats gegeben, der für die Prüfung des Asylantrags der Eltern zuständig sei.
4
Mit Gerichtsbescheid vom 9. August 2019 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts auf.
5
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten mit Beschluss vom 27. Januar 2020 zurückgewiesen. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei rechtswidrig. Aus der Dublin III-VO folge nicht die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin als eines nachgeborenen, also in der Bundesrepublik Deutschland nach Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat der EU durchgeführten Asylverfahrens seiner Eltern geborenen Kindes. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO begründe weder in direkter noch in erweiternder Auslegung bzw. analoger Anwendung eine Zuständigkeit Italiens. Im Übrigen wäre die Zuständigkeit selbst bei analoger Anwendung nach Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen, weil die Beklagte es versäumt habe, binnen drei Monaten nach der Asylantragstellung der Klägerin ein Aufnahmegesuch an Italien zu richten.
6
Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend, dass in analoger bzw. erweiternder Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin als zuständig anzusehen sei, der bereits ihren Eltern internationalen Schutz zuerkannt habe. Die Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO habe zur Folge, dass von der Beklagten kein neues Zuständigkeitsverfahren für das Kind eingeleitet werden müsse und folglich auch die Aufnahmegesuchfristen des (insoweit teleologisch reduzierten) Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO nicht anwendbar seien. Aber selbst wenn man dies – wie der Senat in seinem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom 23. Juni 2020 – BVerwG 1 C 37.19 – anders beurteile, unterscheide sich der Streitfall von dem dem genannten Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt dadurch, dass das Bundesamt vorliegend den als zuständig bestimmten Mitgliedstaat Italien über die Geburt der Klägerin unter dem 26. Juni 2019 unterrichtet habe. Eine gegenteilige Feststellung der Vorinstanz sei ersichtlich aktenwidrig. Dies sei zwar nicht als Verfahrensfehler gerügt worden; da es sich bei den entsprechenden Erwägungen des Berufungsgerichts nur um ein obiter dictum gehandelt habe, habe hierzu aber auch keine Veranlassung bestanden. Eine Frist entsprechend Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO, die schon nicht zwingend abgewartet werden müsse, wäre aber jedenfalls in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz verstrichen gewesen.
7
Die Klägerin verteidigt den angegriffenen Beschluss.
8
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und unterstützt die Rechtsauffassung der Beklagten.


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