Europarecht

Ablauf der Überstellungsfrist nach Dublin-III-VO

Aktenzeichen  M 1 K 15.50681

Datum:
23.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 31 Abs. 2, § 34a
Dublin-III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1. Nach Ablauf der Überstellungsfrist wird die Bundesrepublik Deutschland für die Entscheidung über das Asylgesuch zuständig. Die Bundesrepublik ist kraft Gesetzes verpflichtet, das Asylverfahren durchzuführen. (redaktioneller Leitsatz)
2. Die 6-monatige Überstellungsfrist ist auch nicht aufgrund des Aufenthalts des Klägers im Kirchenasyl zu verlängern. Die Situation ist nicht mit der eines Flüchtigen vergleichbar. (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Bundesrepublik Deutschland war weder rechtlich noch tatsächlich gehindert, die Abschiebung des Klägers aus dem Kirchenasyl heraus durchzuführen. Der Verzicht auf die Rücküberstellung in solchen Fällen liegt in der Sphäre des Staates. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Juli 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gem. § 101 Abs. 2 VwGO konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da beide Parteien auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2015 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung betreffend den zunächst zuständigen Mitgliedstaat auf der Grundlage des § 34a i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen nicht mehr vor.
Der streitgegenständliche Bescheid ist aufgrund des Ablaufs der sog. Überstellungsfrist und des hierdurch bedingten Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO rechtswidrig geworden.
Die sechsmonatige Frist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO begann mit Zustellung des Beschlusses des Gerichts im Verfahren gem. § 80 Abs. 5 VwGO (BVerwG, U. v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris) am 21. August 2015 zu laufen. Diese Frist ist mit Ende des 21. Februar 2016 (d. h. 24:00 Uhr) abgelaufen.
Diese sechsmonatige Überstellungsfrist ist auch nicht nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO verlängert worden. Die Überstellungsfrist kann nach dieser Vorschrift höchstens auf achtzehn Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Der Kläger war jedoch nicht flüchtig im Sinne dieser Vorschrift. Flüchtig ist eine Person dann, wenn sie über einen erheblichen Zeitraum hinweg aus von ihr zu vertretenden Gründen nicht auffindbar ist (VG München, Urt. v. 29.10.2015 – M 2 K 15.50211 – juris Rn. 25; VGH Baden-Württemberg, B. v. 6.8.2013 – 12 S 675/13 – juris). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben, da sich der Kläger lediglich im sogenannten Kirchenasyl befand und sein Aufenthaltsort den Behörden durchgehend bekannt war (VG München, U. v. 2.3.2016 – M 7 K 15.50392 – juris Rn. 21; VG München U. v. 11.11.2015 – M 16 K 15.50306 – juris Rn. 21; VG Würzburg, U. v. 31.8.2015 – W 3 K 14.50040 – juris Rn. 25). Bereits mit Email vom 14. Januar 2016 hat die Ausländerbehörde beim Landratsamt … dem Bundesamt die Mitteilung des Evang.-Luth. Pfarramts … übersandt, wonach der Kläger sich dort im Kirchenasyl befindet. Auf telefonische Nachfrage des Berichterstatters beim Bundesamt am 13. Oktober 2016 hat dieses bestätigt, es gehe weiter davon aus, dass der Kläger im Kirchenasyl sei.
Die Sachlage bei einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person ist nicht mit jener vergleichbar, die bei einer inhaftierten oder flüchtigen Person vorliegt. Ist eine Person inhaftiert oder flüchtig, so ist eine Überstellung unmöglich. Die Möglichkeit der Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO soll als Ausnahme von dem den Fristen des Dublin-Systems zugrunde liegenden Beschleunigungsgrundsatz ein längeres Zuwarten bei der Rücküberstellung ermöglichen, weil ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis die Einhaltung der Frist vereitelt. Ein solches Hindernis, das einen vergleichbaren Ausnahmefall rechtfertigen könnte, besteht beim sogenannten Kirchenasyl nicht (diese Auffassung hat offenbar auch das Bundesamt in der Vergangenheit vertreten: vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Bundestags-Anfrage vom 25.6.2013: BT-Drs. 17/13724, S.11). Der Staat ist weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet vielmehr bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. Der Umstand, dass die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden wohl davor zurückschrecken, die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei Personen im Kirchenasyl auszuschöpfen, also insbesondere auch unmittelbaren Zwang in kirchlichen Räumen anzuwenden, macht die Überstellung nicht unmöglich. Der freiwillige Verzicht auf eine Rücküberstellung im Fall des Kirchenasyls ist nicht anders zu bewerten, als die Fälle, in denen eine Rücküberstellung mangels entsprechender Vollzugskapazitäten oder anderer in der Sphäre des Staates liegender Umstände nicht möglich ist. Eine in der Sphäre des Klägers liegendes Hindernis für den Vollzug der Rücküberstellung, wie im Fall der Flucht, ist nicht gegeben.
Der Fristablauf begründet gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens auf die Beklagte. Der Asylantrag ist damit nicht mehr nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig. Eine Umdeutung der Entscheidung in die Ablehnung eines Zweitantrages gem. § 71a AsylG ist nicht möglich (BayVGH, B. v. 29.7.2015 – 13a ZB 15.50096 – juris Rn. 13; BVerwG, U. v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 19).
Mit dieser zunächst objektiven Rechtswidrigkeit geht auch eine subjektive Rechtsverletzung der Klagepartei i. S. von § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO einher, da eine Rückübernahmebereitschaft Italiens nicht ersichtlich ist (BVerwG, U. v. 9. 8. 2016 – 1 C 6/16 – juris Rn. 23). Der nach den Dublin-Bestimmungen infolge des Fristablaufs zuständige Mitgliedsstaat darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf eine Prüfung durch einen anderen Mitgliedsstaat verweisen, wenn dessen (Wieder-) Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht (BVerwG, U. v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20).Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass Italien trotz des Ablaufs der Überstellungsfrist zur Rückübernahme des Klägers bereit wäre. Hierfür bestehen auch keine Anhaltspunkte. Eine Antwort Italiens auf das Schreiben des Bundesamts, mit dem die Fristverlängerung bis zum 10. Februar 2017 mitgeteilt wurde, ist nicht in den übersandten Akten. Damit kann sich der Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen, da Italien jedenfalls nicht verpflichtet ist, das Asylverfahren durchzuführen und der Anspruch des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens verletzt wäre.
Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes (vgl. § 31 Abs. 2 AsylG) verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22).
Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.


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