Europarecht

Feststellung der fehlenden Berechtigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs, im Inland, Wohnsitzerfordernis, unbestreitbare Informationen aus dem Ausstellungsmitgliedstaat (Polen), Prozesskostenhilfe, Nichtvorlage des Prozesskostenhilfeformulars

Aktenzeichen  11 CS 21.1395, 11 C 21.1396

Datum:
28.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20878
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 28 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 Nr. 2, S. 2
VwGO § 146 Abs. 2, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 117 Abs. 2, § 118 Abs. 2, § 121 Abs. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 19 K 21.653 2021-04-20 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Verfahren 11 CS 21.1395 und 11 C 21.1396 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden
II. Die Beschwerde im Verfahren 11 CS 21.1395 wird zurückgewiesen; die Beschwerde im Verfahren 11 C 21.1396 wird verworfen.
III. Der Antragsteller trägt die Kosten der Beschwerdeverfahren.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 11 CS 21.1395 wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Aberkennung des Rechts, von seiner polnischen Fahrerlaubnis im Bundesgebiet Gebrauch zu machen, und der Verpflichtung, den Führerschein zur Eintragung eines Sperrvermerks vorzulegen.
Mit rechtskräftigem Urteil vom 16. März 2004 entzog das Amtsgericht Bottrop dem Antragsteller die deutsche Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Verkehr (Blutalkoholkonzentration: 2,13 ‰). In den Jahren 2008 bis 2011 nahm er mehrere Anträge auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis zurück, nachdem ihn die Fahrerlaubnisbehörde aufgefordert hatte, ein Fahreignungsgutachten vorzulegen. Am 24. Juni 2014 erwarb er einen gefälschten britischen Führerschein. Mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 23. November 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht München wegen Urkundenfälschung und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe, da er am 27. Juni 2015 nachweislich mit einem Pkw gefahren war.
Vom 16. August 2015 bis 30. März 2017 war der Antragsteller amtlich im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin gemeldet. Nachdem er sich wegen Umzugs nach Polen abgemeldet hatte, erwarb er am 10. April 2017 eine polnische Fahrerlaubnis, in den eine Wohnadresse in Slubice eingetragen ist. Am 12. April 2017 meldete er seinen Wohnsitz wieder unter der vormaligen Wohnung an.
Hiervon erlangte die Fahrerlaubnisbehörde der Antragsgegnerin nach einer Polizeikontrolle am 11. Oktober 2019, bei der der Antragsteller seinen polnischen Führerschein vorgelegt hatte, Kenntnis. In einem Aktenvermerk der Grenzpolizeiinspektion Selb vom selben Tag ist ausgeführt, die in dem polnischen Führerschein eingetragene Wohnanschrift könne nicht überprüft werden, weil das Gemeinsame Deutsch-Polnische Zentrum Swiecko keine rechtliche Befugnis habe, der Grenzpolizeiinspektion eine Auskunft zu erteilen. Allerdings sei bekannt, dass diese Anschrift in Polen bereits in einem Strafverfahren gegen einen anderen Beschuldigten genutzt worden sei, um eine polnische Fahrerlaubnis zu erlangen.
Mit Schreiben vom 17. Juni/19. Oktober 2020 teilten die polnischen Behörden auf Anfrage des Kraftfahrt-Bundesamts mit, dem Antragsteller sei am 10. April 2017 ein Führerschein der Klassen AM, B1 und B ausgestellt worden. In dem verwendeten Formular wurde bejaht, dass es sich um den Wohnsitz handle, an dem sich der Betreffende gewöhnlich für mindestens 185 Tage aufhalte, und eine Unterkunft vorhanden sei. Erkenntnisse zu engen Familienangehörigen und zum Ort, an dem ein Geschäft bzw. Gewerbe betrieben werde, Immobilien vorhanden seien und administrative Beziehungen zu Behörden bestünden und soziale Dienstleistungen erfüllt oder in Anspruch genommen würden, lägen nicht vor. Der Antragsteller sei kein Student.
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Feststellung der fehlenden Inlandsberechtigung ließ der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten mitteilen, die Auskunft der polnischen Behörden, die die Wohnsitznahme für mindestens 185 Tage im Jahr bestätige, liefere gemessen an den Vorgaben der Rechtsprechung keinen Hinweis auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis im Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins.
Mit Bescheid vom 18. Januar 2021 stellte die Antragsgegnerin fest, der Antragsteller sei nicht berechtigt, von seiner polnischen Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen, und verpflichtete ihn unter der Androhung von Zwangsgeld, seinen polnischen Führerschein unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids zur Eintragung eines Sperrvermerks vorzulegen. Ferner ordnete sie die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Der Sperrvermerk wurde am 27. Januar 2021 angebracht.
Gegen den streitgegenständlichen Bescheid ließ der Antragsteller am 5. Februar 2021 Klage zum Verwaltungsgericht München erheben, über die noch nicht entschieden ist, und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten beantragen. Eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers werde nachgereicht.
Den gleichzeitig gestellten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. April 2021 ab. Es legte den Antrag dahin aus, dass der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Feststellung begehre, dass er nicht berechtigt sei, von seiner polnischen Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen, sowie gegen die Verpflichtung zur Vorlage des Führerscheins zwecks Eintragung eines Sperrvermerks. Letztere stelle auch nach Eintragung der fehlenden Fahrberechtigung weiterhin die Rechtsgrundlage für eine entsprechende Duldung dar. Zur Begründung wurde ausgeführt, es lasse sich aufgrund des bislang vorliegenden Sach- und Streitstands nicht vollständig aufklären, ob das Wohnsitzerfordernis bei der Erteilung der polnischen Fahrerlaubnis tatsächlich eingehalten worden sei. Allein durch den Eintrag eines ausländischen Wohnorts im Führerschein werde das tatsächliche Innehaben eines Wohnsitzes an diesem Ort nicht positiv bewiesen. Im Falle berechtigter Zweifel seien die Behörden berechtigt und verpflichtet, den Ausstellungsstaat entsprechend um Auskunft zu ersuchen. Dieser sei verpflichtet, auch tatsächlich einschlägige Informationen zur Verfügung zu stellen. Ergäben sich aus diesen Informationen Hinweise auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis, könne die nationale Behörde alle Umstände des bei ihr anhängigen Verfahrens berücksichtigen. Derzeit lasse sich nicht zweifelsfrei feststellen, ob unbestreitbare Informationen aus dem Ausstellerstaat vorlägen, die belegten, dass das Wohnsitzerfordernis bei Erteilung des polnischen Führerscheins nicht eingehalten worden sei. Jedoch falle die Interessenabwägung zulasten des Antragstellers aus. Die Beantwortung einzelner Fragen zu den näheren persönlichen Umständen des Führerscheininhabers durch die Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats mit „unkown“ lasse nicht zwangsläufig auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis schließen. Aus der Auskunft aus Polen ergebe sich aus Sicht des Gerichts jedoch ein erster Hinweis darauf, dass das Wohnsitzerfordernis nicht eingehalten worden sei. Es sei zwar das Vorhandensein einer Unterkunft bejaht worden, in der der Antragsteller auch mehr als 185 Tage im Jahr gelebt haben solle, alle anderen Fragen, die ebenfalls der Identifizierung von Scheinwohnsitzen dienten, seien jedoch mit „unkown“ beantwortet worden. Ob allein dieser Hinweis bereits die Annahme einer unbestreitbaren Information aus dem Ausstellungsmitgliedstaat begründe, könne offenbleiben. Denn der Sachverhalt biete jedenfalls Anlass zu weiterer Klärung im Hauptsacheverfahren. Bis dahin seien die Parteien berufen, die bestehenden Lücken zu schließen. Insbesondere werde der Antragsgegnerin anheimgestellt, die aus ihrer Sicht nicht nachvollziehbare Auskunft der polnischen Behörden durch eine weitere Anfrage über das Kraftfahrt-Bundesamt zu präzisieren. Dem Antragsteller werde anheimgegeben, das Vorhandensein eines echten Wohnsitzes im damaligen Zeitraum durch entsprechende Unterlagen zu belegen. Im Rahmen der Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, dass mit der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids ein erheblicher und letztlich nicht wiedergutzumachender Verlust an persönlicher Mobilität für den Antragsteller verbunden sei und die verfassungsrechtlich geschützte allgemeine Handlungsfreiheit tangiert werde. Demgegenüber stünden die Rechtsgüter, zu deren Schutz die Entziehung der Fahrerlaubnis erfolge, insbesondere Leib und Leben der übrigen Verkehrsteilnehmer, die Verkehrssicherheit an sich und bedeutende Sachwerte der Allgemeinheit. Der möglicherweise eintretende, ggf. nicht mehr wiedergutzumachende Schaden für diese Rechtsgüter lasse es nicht verantworten, dass der Antragsteller bis zu einer endgültigen Klärung seiner Fahreignung vorerst am Verkehr teilnehme. In seinem Fall gehe das Gericht von einem im Vergleich zum Durchschnitt aller anderen Fahrzeugführer gesteigerten Gefährdungspotenzial aus. Der Antragsteller habe bereits in der Vergangenheit ein Fahrzeug trotz erheblicher Alkoholisierung im Straßenverkehr geführt. Auch wenn dies einige Jahre zurückliege, könne angesichts des damals erreichten Promillewertes auf eine jedenfalls seinerzeit bestehende Alkoholproblematik geschlossen werden. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass diese mittlerweile überwunden sei. Die Rücknahme der Neuerteilungsanträge nach der behördlichen Aufforderung, ein Fahreignungsgutachten beizubringen, und die Verkehrsteilnahme mit einem gefälschten Führerschein sprächen dagegen, dass sich das Gefährdungspotenzial seitdem verringert habe. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sei ungeachtet der Erfolgsaussichten der Klage abzulehnen, weil der Antragsteller seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO) dargelegt und nachgewiesen habe. Fehle das vorgesehene Formular, sei es unvollständig oder seien die erforderlichen Belege nicht beigefügt, sei der Antrag unbegründet.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, der der Antragsgegner entgegentritt, mit der Begründung, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts widerspre-che der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Oktober 2019 (3 B 26.19). Der zu Unrecht erlassene Bescheid beruhe auf Spekulationen und Mutmaßungen zum Wohnsitz des Antragstellers. Im Führerschein des Antragstellers sei ein polnischer Wohnsitz eingetragen. Die Informationen aus Polen hätten einen ordnungsgemäßen Aufenthalt/ Wohnsitz über einen Zeitraum von 185 Tagen bestätigt. Nach der Rechtsprechung des EuGH obliege die Prüfung, ob ein ordentlicher Wohnsitz gegeben sei, allein dem Ausstellungsmitgliedstaat. Andere Mitgliedstaaten seien hierzu nicht befugt. Der Besitz eines von einem Mitgliedsstaat ausgestellten Führerschein sei als Beweis dafür anzusehen, dass sein Inhaber am Tag der Ausstellungen die Voraussetzungen hierfür erfüllt habe. Nur wenn sich aus vom Ausstellungsmitglied herrührenden Informationen die begründete Annahme herleiten lasse, das Wohnsitzerfordernis sei nicht erfüllt gewesen, könnten auch andere Erkenntnisquellen des Aufnahmemitgliedstaats herangezogen werden. Diese Vorgaben der obergerichtlichen Rechtsprechung als auch die Entscheidung des Ausstellungsmitgliedstaats habe die Antragsgegnerin missachtet. Die behördliche Mitteilung, die Wohnsitzvoraussetzungen seien nicht geprüft worden, reiche nicht aus, um entsprechende Zweifel zu begründen. Die bloße Nichtprüfung schaffe kein positives Indiz. Im Fall des Antragstellers lägen keinerlei unbestreitbare Informationen aus dem Ausstellungsmitgliedstaat vor. Dieser habe die von ihm erteilte Fahrerlaubnis bis heute nicht widerrufen. Er allein sei dazu berechtigt, eine von ihm erteilte Fahrerlaubnis für ungültig zu erklären. Die von der Antragsgegnerin bemühten Vermutungen reichten nicht aus, um die massiven Eingriffe in die Freiheitsrechte des Antragstellers zu rechtfertigen. Aufgrund der Rechtswidrigkeit des Bescheids und der daraus resultierenden Erfolgsaussichten dieses Rechtsmittels sei dem Antragsteller auch die begehrte Prozesskostenhilfe für die beiden Verfahren zu gewähren.
Mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 24. Juni 2021 erklärte sich der Antragsteller zu seinen Beweggründen für die Verlegung des Wohnsitzes nach Polen.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die Beschwerde gegen die Ablehnung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig, jedoch unbegründet.
Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig wäre.
Die Einwände des Antragstellers richten sich gegen die Annahme der Antragsgegnerin, die von den polnischen Behörden erhaltenen Informationen begründeten Zweifel an seinem Recht, von seiner polnischen Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen. Er hält den streitgegenständlichen Bescheid für rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht ist demgegenüber davon ausgegangen, es lasse sich im Eilverfahren nicht zweifelsfrei feststellen, ob unbestreitbare Informationen aus dem Ausstellungsmitgliedstaat auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis hinwiesen und damit die Antragsgegnerin berechtigt sei, ihre eigenen Erkenntnisse zum Wohnsitz des Antragstellers im fraglichen Zeitraum zu nutzen. Da der angegriffene Bescheid damit aus Sicht des Gerichts nicht offensichtlich rechtmäßig ist, hat es seine Entscheidung wegen offener Erfolgsaussichten der Klage aufgrund einer reinen Interessenabwägung getroffen. Diese Abwägung hat der Antragsteller mit seiner Beschwerdebegründung nicht angegriffen. Allerdings käme eine Entscheidung auf der Grundlage einer reinen Interessenabwägung dann nicht in Betracht, wenn – wovon der Antragsteller wohl ausgeht – der streitgegenständliche Bescheid offensichtlich rechtswidrig wäre und somit an dessen sofortiger Vollziehung bis zur Entscheidung in der Hauptsache kein öffentliches Interesse bestehen könnte (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2021, § 80 Rn. 371 ff. zum Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab). Dies ergibt sich aus dem Vortrag des Antragstellers jedoch nicht.
Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) vom 13. Dezember 2010 (BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2018 – 3 C 9.17 – BVerwGE 162, 308 = juris Rn. 13; U.v. 25.2.2010 – 3 C 15.09 – BVerwGE 136, 149 = juris Rn. 10) zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. November 2020 (BGBl I S. 2704), in Kraft getreten zum 1. April 2021, in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 FeV – vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 – im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Nach § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV gilt die Berechtigung nach § 28 Abs. 1 FeV nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Information zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 FeV im Inland hatten. Ein ordentlicher Wohnsitz im Inland wird nach § 7 Abs. 1 Satz 2 FeV angenommen, wenn der Betroffene wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – bei fehlenden beruflichen Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen ihm und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d.h. während mindestens 185 Tagen im Jahr, im Inland wohnt. Eine Person, deren persönliche Bindungen im Inland liegen, die sich aber aus beruflichen Gründen in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten der EU (oder EWR) aufhält, hat ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland, sofern sie regelmäßig dorthin zurückkehrt (§ 7 Abs. 1 Satz 3 FeV). Die Voraussetzung entfällt, wenn sie sich zur Ausführung eines Auftrags von bestimmter Dauer in einem solchen Staat aufhält (§ 7 Abs. 1 Satz 4 FeV). Über die fehlende Berechtigung kann die Behörde einen feststellenden Verwaltungsakt erlassen (§ 28 Abs. 4 Satz 2 FeV).
Diese Bestimmungen stehen mit Art. 2 Abs. 1, Art. 7 und Art. 12 der – hier zeitlich anwendbaren (vgl. deren Art. 18 Abs. 2) – RL 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (Neufassung, ABl L 403 S.18 – RL 2006/126/EG), insbesondere mit der Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine (mit der Folge der Anerkennung der dem Dokument zugrundeliegenden Fahrerlaubnis, vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2018 a.a.O. Rn. 28), in Einklang. Voraussetzung für die Ausstellung eines Führerscheins und für dessen Erneuerung bei Ablauf der Gültigkeitsdauer ist ein ordentlicher Wohnsitz im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats im Sinne des Art. 12 der RL 2006/126/EG oder der Nachweis eines dortigen Studiums während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten (Art. 7 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b der RL 2006/126/EG). Die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von durch EU-Mitgliedstaaten erteilten Fahrerlaubnissen gemäß Art. 2 Abs. 1 der RL 2006/126/EG gilt nicht, wenn entweder Angaben im zugehörigen Führerschein oder andere vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührende unbestreitbare Informationen vorliegen, nach denen das Wohnsitzerfordernis nicht eingehalten wurde (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012 – C-467/10, Akyüz – NJW 2012, 1341 Rn. 62; B.v. 9.7.2009 – C-445/08, Wierer – NJW 2010, 217 Rn. 51). Solche Informationen können insbesondere Angaben einer Einwohnermeldebehörde des Ausstellungsmitgliedstaats sein (EuGH, B.v. 9.7.2009 a.a.O. Rn. 61).
Die Prüfung, ob Informationen über den Wohnsitz des Fahrerlaubnisinhabers zum Zeitpunkt der Erteilung des Führerscheins als vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührend und unbestreitbar eingestuft werden können, obliegt den Behörden und Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012 a.a.O. Rn. 73 f.; BVerwG, B.v. 24.10.2019 – 3 B 26.19 – NJW 2020, 1600 = juris Rn. 25). Dabei muss die Begründung eines Scheinwohnsitzes aufgrund der vom Ausstellungsmitgliedstaat stammenden Informationen nicht bereits abschließend erwiesen sein (vgl. BayVGH, B.v. 4.3.2019 – 11 B 18.34 – juris Rn. 21 m.w.N.). Vielmehr reicht es aus, wenn diese Informationen darauf „hinweisen“, dass der Inhaber des Führerscheins im Gebiet des Ausstellungsmitgliedstaats einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck begründet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins im Mitgliedstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012 a.a.O. Rn. 75). Dann können die Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats auch inländische Umstände wie Einlassungen des Führerscheininhabers, Erkenntnisse der Meldebehörde oder der Polizei etc. zur Beurteilung der Frage, ob die Wohnsitzvoraussetzung eingehalten ist, heranziehen (vgl. BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 25; BayVGH, B.v. 4.3.2019 a.a.O. Rn. 22).
Vorliegend ist dem streitgegenständlichen Führerschein und dem Schreiben der polnischen Behörde vom 17. Juni/19. Oktober 2020 lediglich zu entnehmen, dass der Antragsteller am 10. April 2017 einen Führerschein der Klassen AM, B1 und B ohne Umschreibung eines Nicht EU-Führerscheins erworben und in Polen einen Wohnsitz und eine Unterkunft habe, wo er sich gewöhnlich für mindestens 185 Tage aufhalte. Angaben zu den Meldedaten und insbesondere zum Beginn und einem etwaigen Ende des Aufenthalts in Polen, die weitere Indizien zur Einhaltung des Wohnsitzerfordernisses liefern könnten, wurden nicht gemacht. Ungereimt bleibt allerdings, weshalb den Behörden trotz angeblichen Bestehens eines Hauptwohnsitzes keinerlei Erkenntnisse zu den persönlichen, wirtschaftlichen oder beruflichen Verhältnissen des Antragstellers, zur Anmeldung eines Kraftfahrzeugs, zu Steuerzahlungen oder zur Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen vorliegen. Nach der Rechtsprechung des Senats kann ohne besonderen Anhalt nicht unterstellt werden, dass eine europäische Behörde die in einem auf europäischer Ebene abgestimmten Formular gestellten Fragen jeweils ohne Ermittlungen mit „unknown“ beantwortet und damit der Sache nach keine Auskünfte erteilt (BayVGH, B.v. 10.7.2020 – 11 ZB 20.88 – juris Rn. 22; B.v. 4.3.2019 a.a.O. Rn. 24 m.w.N.); zumal wenn der betreffende EU-Mitgliedstaat wie die Republik Polen ein Melde-, Handels- und Gewerberegister führt (Konsularinformationen und Merkblatt zur Anschriftenermittlung [Privatpersonen] des Auswärtigen Amts; wikipedia zu „Centralna Ewidencja i Informacja o Działalności Gospodarczej“). Somit ist nicht davon auszugehen, dass die polnischen Behörden die vom Kraffahrt-Bundesamt abgefragten Informationen nicht geprüft haben, sondern vielmehr davon, dass trotz Abfrage der einschlägigen Register und Datenbanken keine Erkenntnisse bzw. Informationen zum Antragsteller vorliegen, obwohl sein Wohnsitz in Polen nach den übermittelten Angaben noch gegenwärtig und damit seit Erteilung der Fahrerlaubnis schon mehrere Jahre besteht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht offensichtlich rechtswidrig, wenn die Antragsgegnerin dieser Sachlage einen Hinweis darauf entnimmt, dass der Antragsteller lediglich einen Scheinwohnsitz begründet hat, und dies sodann durch ihre eigenen Erkenntnisse über seine Meldeverhältnisse, insbesondere die wenige Tage vor dem Erwerb der polnischen Fahrerlaubnis erfolgte Abmeldung nach Polen und die kurz danach erfolgte Wiederanmeldung unter der vormaligen Anschrift (vgl. BayVGH, B.v. 5.2.2021 – 11 CS 20.2160 – juris Rn. 22 m.w.N.), und die Erkenntnisse der Polizei zu der von ihm angegebenen Adresse in Polen für belegt hält. Ob die neueren Angaben des Antragstellers im Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 24. Juni 2021 an der Einschätzung etwas ändern, wird im Klageverfahren zu prüfen sein. Der Umstand, dass allein polnische Behörden dazu berechtigt sind, eine polnische Fahrerlaubnis für ungültig zu erklären, besagt noch nichts darüber, ob die Antragsgegnerin dem Antragsteller das Recht aberkennen darf, hiervon im Bundesgebiet Gebrauch zu machen.
2. Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe ist nicht statthaft und damit unzulässig.
Nach § 146 Abs. 2 VwGO können Beschlüsse über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe nicht mit der Beschwerde angefochten werden, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe verneint. Dies gilt auch dann, wenn das Verwaltungsgericht – wie hier – die Prozesskostenhilfe ausschließlich deshalb abgelehnt hat, weil der Antragsteller die zur Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen die erforderlichen Unterlagen und Nachweise nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2, § 118 Abs. 2 ZPO nicht (fristgerecht) vorgelegt hat (vgl. BayVGH, B.v. 27.4.2021 – 5 C 20.2891 – juris Rn. 3; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.701 – juris Rn. 8; VGH BW, B.v. 17.4.2020 – 2 S 768/20 – ESVGH 70, 256 = juris Rn. 2; SächsOVG, B.v. 7.1.2020 – 6 D 70/19 – juris Rn. 4; OVG LSA, B.v. 14.11.2018 – 2 O 129/18 – FA 2019, 95 = juris Rn. 2; NdsOVG, B.v. 5.9.2017 – 13 PA 235/17 – DÖV 2017, 968 = juris Rn. 2; OVG NW, B.v. 22.3.2017 – 12 E 249/17 – juris Rn. 2 ff.; OVG Bremen, B.v. 23.9.2016 – 1 PA 248/16 – NVwZ-RR 2017, 262 = juris Rn. 9; OVG Berlin-Bbg, B.v. 21.6.2016 – 3 M 55.16 – juris Rn. 2; Happ in Eyermann, VwGO 15. Aufl. 2019, § 146 Rn. 11; Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2021, § 146 Rn. 11 jeweils m.w.N.). Dieser Regelung liegt auch die Erwägung zugrunde, dass der Betreffende bei einer nur auf die Verneinung der wirtschaftlichen Voraussetzungen gestützten Versagung einen erneuten Prozesskostenhilfeantrag stellen und damit die Darlegung seiner Bedürftigkeit nachholen kann (vgl. BayVGH, B.v. 27.4.2021 a.a.O.; BAG, B.v. 3.12.2003 – 2 AZB 19/03 – MDR 2004, 415 = BeckRS 2003, 30800029; Fischer in Musielak/Voit, ZPO, 18. Aufl. 2021, § 118 Rn. 10; Wache, MK zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 118 Rn. 18).
An der Unzulässigkeit der Beschwerde ändert weder der fehlende Hinweis auf § 146 Abs. 2 VwGO in der Rechtsmittelbelehrungdes angefochtenen Gerichtsbeschlusses (vgl. BayVGH, B.v. 5.5.2014 – 1 C 14.517 – juris Rn. 1) noch der Umstand etwas, dass das Verwaltungsgericht nicht auf die fehlenden Prozesskostenhilfeformulare hingewiesen bzw. eine Frist zu deren Vorlage gesetzt hat, bevor es den Prozesskostenhilfeantrag wegen der mangelnden Mitwirkung bei der Glaubhaftmachung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abgelehnt hat (vgl. hierzu § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO; BGH, B.v. 27.8.2019 – VI ZB 32/18 – NJW 2019, 3727 = juris Rn. 16 f. m.w.N.; OVG Hamburg, B.v. 22.1.2020 – 1 Bf 3/20.Z – DÖV 2020, 496 = juris Rn. 23 f.; SächsOVG, B.v. 20.1.2015 – 3 D 116/14 – juris Rn. 2; Fischer, a.a.O. § 117 Rn. 19; Wache, a.a.O. § 117 Rn. 24; Reichling in BeckOK ZPO, Stand 1.3.2021, § 117 Rn. 37; Riese in Schoch/Schneider, VwGO, § 166 Rn. 46; Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 199).
3. Die Beschwerden waren daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
Im Beschwerdeverfahren gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe fallen – anders als im Prozesskostenhilfeverfahren erster Instanz – Gerichtskosten an, wobei eine Kostenerstattung nicht stattfindet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO).
4. Die Streitwertfestsetzung im Verfahren 11 CS 21.1395 beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Die in Deutschland nicht gesondert vergebene Fahrerlaubnisklasse B1 und die Klasse AM wirken sich nicht streitwerterhöhend aus, sondern sind in der Klasse B enthalten (Art. 4 Nr. 4 lit. a RL 2006/126/EG; § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV; BayVGH, B.v. 13.6.2017 – 11 CS 17.894 – juris Rn. 17).
Einer Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren 11 C 21.1396 bedarf es nicht, weil nach § 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG eine Festgebühr von 60,- EUR anfällt.
5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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