Europarecht

Fortgeltung der Bußgeldkatalog-Verordnung auch nach Erlass der StVO-Novelle vom 20.04.2020

Aktenzeichen  201 ObOWi 1043/20

Datum:
11.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
VRS – 2020, 242
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 80 Abs. 1 S. 3
StVG § 24, § 24a, § 25 Abs. 1 S. 1, § 25 Abs. 2a, § 26a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2
BKatV § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
OWiG § 4 Abs. 3, § 17, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Nr. 2
StPO § 349 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Bei einer vor Inkrafttreten der 54. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.4.2020 [BGBl. I, 814] begangenen, jedoch erst nach deren Inkrafttreten am 28.04.2020 erfolgten Verurteilung wegen einer Abstandsunterschreitung kann bei unverändert vorgesehener Sanktionsfolge dahinstehen, ob aufgrund des fehlenden Zitats der Ermächtigungsgrundlage des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG in der vorgenannten Verordnung ein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG zu erblicken ist und ob dieser gegebenenfalls die (Teil-) Nichtigkeit der Bußgeldkatalog-Verordnung zur Folge hätte. Denn selbst bei einer Nichtigkeit der 54. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.4.2020 bleibt die Bußgeldkatalog-Verordnung in ihrer bisherigen Fassung weiterhin Grundlage für die Ahndung. (Rn. 7)
2. Die Bußgeldkatalog-Verordnung ist lediglich ein Instrument zur Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung. Die Rechtsgrundlage für die Verhängung von Geldbußen bzw. die Anordnung von Fahrverboten folgt aber weiterhin unmittelbar aus §§ 24, 24a, 25 StVG i.V.m. § 49 StVO, § 17 OWiG (u.a. Anschluss an BGH, Beschluss vom 28.11.1991 – 4 StR 366/91 = BGHSt 38, 125 = ZfSch 1992, 30 = NJW 1992, 446 = VerkMitt 1992, Nr. 11 = NStZ 1992, 135 = DAR 1992, 69 = NZV 1992, 117 = BGHR StVG § 25 Fahrverbot 1 = VRS 82 [1992], 216; OLG Karlsruhe NZV 1991, 278; OLG Düsseldorf NZV 1991, 398, 399; OLG Saarbrücken NZV 1991, 399, 400; KG, Beschluss vom 27.04.2020 – 3 Ws (B) 49/20 – 122 Ss 19/20 = BeckRS 2020, 18279). (Rn. 11)

Tenor

I. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 25.05.2020 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 25.05.2020 wegen einer als Führer eines Pkw am 26.08.2019 fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit des Nichteinhaltens des erforderlichen Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von 139 km/h, wobei der Abstand 12 m betrug und damit weniger als 2/10 des halben Tachowertes, zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt und gegen ihn wegen des groben Pflichtenverstoßes nach den §§ 24, 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., 26a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKatV i.V.m. lfd.Nr. 12.7.4 der Tabelle 2 zum BKat (in der zur Tatzeit geltenden Fassung) ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG verbundenes Regelfahrverbot für die Dauer von zwei Monaten angeordnet. Die Messung der Geschwindigkeit und des Abstands erfolgte mit einer geeichten Messanlage VKS 3.0. Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts und macht insbesondere geltend, dass infolge der am 28.04.2020 in Kraft getretenen StVO-Novelle, durch die auch die Bußgeldkatalog-Verordnung neu gefasst werden sollte, keine Rechtsgrundlage mehr für die Verhängung eines Fahrverbotes bestehe. In der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.04.2020 fehle der erforderliche Hinweis auf die Ermächtigungsgrundlage des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG, sodass wegen des Verstoßes gegen das Zitiergebot nach Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG die Neufassung der BKatV die Verhängung von Fahrverboten nicht mehr gestatte. Im Hinblick auf § 4 Abs. 3 OWiG verbiete sich die weitere Anwendung der BKatV in ihrer bisherigen Fassung, da sich die neue – nichtige – Regelung für den Betroffenen als günstiger darstelle. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 11.08.2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Der Einzelrichter hat die Sache mit Beschluss vom 10.11.2020 gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
II.
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 OWiG statthaften und auch sonst zulässigen Rechtsbeschwerde deckt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf (§ 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).
1. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch. Insbesondere handelt es sich bei der Abstandsmessung mit dem Verfahren VKS 3.0 um ein standardisiertes Messverfahren, bei dem es grundsätzlich ausreicht, dass im Urteil das angewendete Messverfahren und das Messergebnis – also die gemessene Geschwindigkeit nebst Toleranzabzug sowie der ermittelte vorwerfbare Abstandswert – mitgeteilt werden. Erst bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte dafür, dass Verfahrensbestimmungen nicht eingehalten wurden oder – substantiiert – Messfehler behauptet werden, müssen im Urteil hierzu Ausführungen gemacht werden (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 03.11.2017 – 6 Ss 681/17 bei juris). Für derartige Fehler geben die im Rahmen der Sachrüge allein maßgeblichen Urteilsfeststellungen keine Anhaltspunkte.
2. Auch die Rechtsfolgenentscheidung lässt keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen erkennen.
a) Zur Begründung kann zunächst auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 11.08.2020 Bezug genommen werden.
b) Der ergänzenden Erörterung bedarf allerdings die von der Rechtsbeschwerde unter Berufung auf die Nichtigkeit der am 28.4.2020 in Kraft getretenen 54. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.4.20 [BGBl. I, 814] eingewandte „Ahndungslücke“. Eine solche Ahndungslücke, welche über die Regelung des § 4 Abs. 3 OWiG zur Sanktionslosigkeit der im vorliegenden Fall führen könnte oder zumindest die Verhängung eines Fahrverbotes verbietet, besteht nicht.
aa) Der Senat kann in der hier inmitten stehenden Fallkonstellation (Zeitpunkt der Tat vor Inkrafttreten der StVO-Novelle und Zeitpunkt der Urteilsfindung nach Inkrafttreten der StVO-Novelle; keine Änderung der Sanktion durch die Neufassung der BKatV) dahin stehen lassen, ob aufgrund des fehlenden Zitats der Ermächtigungsgrundlage des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG in der genannten Verordnung ein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG vorliegt und ob ein solcher mutmaßlich auf einem redaktionellen Versehen beruhender Verstoß zur Nichtigkeit der Regelung führt (vgl. hierzu grundlegend BVerfG NJW 1999, 3253, 3256; jüngst auch OLG Oldenburg, Beschluss vom 08.10.2020 – 2 Ss [OWi] 230/20 bei juris). Damit kann auch die Frage offen bleiben, ob der genannte Verstoß zur vollständigen Nichtigkeit der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.04.2020 (vgl. Deutscher VRR 2020 Nr. 7, S. 4 – 6) oder nur zur Nichtigkeit der Neuregelung der BKatV oder gar nur von Teilen derselben führt, was insbesondere für Fallkonstellationen der hier vorliegenden Art, die von der StVO-Novelle gar nicht betroffen sind, von Bedeutung wäre (vgl. Grube in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, § 4 BKatV (Stand: 09.07.2020) Rn. 12.4; grundlegend zur Problematik der Teilnichtigkeit beim Zitat einer unzutreffenden Ermächtigungsgrundlage Schubert NZV 2011, 369, 372 f.).
bb) Selbst wenn anzunehmen wäre, dass sich die Änderung der BKatV in der zuletzt gültigen Fassung vom 06.06.2019 (BGBl. I, 756) durch die 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.04.2020 als nichtig erweist, führt dies nicht dazu, dass die BKatV in ihrer bisherigen Form keine Grundlage mehr für die Ahndung darstellt. Die Rechtsbeschwerde verkennt, dass durch Art. 3 der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften die BKatV „wie folgt geändert“ werden sollte. Damit ist die BKatV in ihrer bisherigen Fassung nicht aufgehoben worden, sondern sollte lediglich abgeändert werden. Für Änderungsgesetze ist anerkannt, dass bei deren Verfassungswidrigkeit die ursprüngliche Gesetzesfassung in Kraft bleibt, da eine nichtige Regelung nicht in der Lage ist, ein Gesetz zu ändern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.07.2000 – 1 BvR 539/96 = BeckRS 2000, 22589 Rn. 53, 88; Hömig in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, 59. EL April 2020, BVerfGG § 95 Rn. 39; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. Rn. 457 f.). Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn sich aus dem Reformgesetz ergibt, dass der Gesetzgeber die alte Regelung auf jeden Fall abschaffen wollte (vgl. Schlaich/Korioth a.a.O. Rn. 459).
cc) Diese Grundsätze, die im Falle der Nichtigkeit eines Änderungsgesetzes anzuwenden sind, haben auch im Falle der Nichtigkeit der Änderung einer Rechtsverordnung Geltung zu beanspruchen. Bezogen auf die beabsichtigte Neuregelung der BKatV kann keine Rede davon sein, dass die bisherige BKatV auf jeden Fall oder gar ersatzlos aufgehoben werden sollte. Zum einen ließ der Verordnungsgeber große Teile der bisherigen Regelung unverändert, zum anderen wollte er die Verkehrssicherheit durch die teilweise Erhöhung von Regelgeldbußen und die erleichterte Einführung von Regelfahrverboten erkennbar erhöhen.
c) Folglich steht auch § 4 Abs. 3 OWiG, dessen Regelungsinhalt auf die BKatV einschließlich deren Anlagen anzuwenden ist (vgl. Göhler/Gürtler OWiG 17. Aufl. § 4 Rn. 2a; KK/Rogall OWiG 5. Aufl. § 4 Rn. 8), der hier ausgesprochenen Ahndung nicht entgegen. Anders als in der Fallgestaltung, die dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 23.07.1992 zugrunde lag (vgl. BGH, Urt. v. 23.07.1992 – 4 StR 194/92 = NStZ 1992, 535 = wistra 1992, 344 = BGHR StGB § 2 Abs. 3 Gesetzesänderung 8), bestand hier zu keinem Zeitpunkt eine nicht gewollte Ahndungslücke, zumal die gesetzliche Grundlage für die Ahndung von Verkehrsverstößen keine Änderung erfahren hat.
d) Die BKatV verfolgt nämlich gemäß § 26a Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3, Abs. 2 StVG nur den Zweck, unter Berücksichtigung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit zu bestimmen, in welchen Fällen, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Höhe die Geldbuße festgesetzt und für welche Dauer das Fahrverbot angeordnet werden soll. Sie ist damit lediglich ein Instrument zur Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung. Die Rechtsgrundlage für die Verhängung von Geldbußen bzw. die Anordnung von Fahrverboten folgt aber weiterhin unmittelbar aus §§ 24, 24a, 25 StVG i.V.m. § 49 StVO, § 17 OWiG. Die Vorschrift des § 25 StVG ist auch nach Inkrafttreten der BKatV alleinige Rechtsgrundlage für die Verhängung des Fahrverbots; sie hat durch die Ermächtigungsnorm des § 26a StVG vom 28.12.1982 und durch die Regelungen der BKatV keine Änderung erfahren. Insbesondere haben § 26a StVG und die BKatV auch die besonderen Voraussetzungen unberührt gelassen, unter denen nach § 25 StVG im Rechtsfolgensystem des Ordnungswidrigkeitenbereichs ein Fahrverbot neben der Geldbuße ausgesprochen werden kann (BGH, Beschluss vom 28.11.1991 – 4 StR 366/91 = BGHSt 38, 125 = ZfSch 1992, 30 = NJW 1992, 446 = VerkMitt 1992, Nr. 11 = NStZ 1992, 135 = DAR 1992, 69 = NZV 1992, 117 = BGHR StVG § 25 Fahrverbot 1 = VRS 82 [1992], 216; OLG Karlsruhe NZV 1991, 278; OLG Düsseldorf NZV 1991, 398 [399]; OLG Saarbrücken NZV 1991, 399 [400]). Grundlage für die Bußgeldbemessung bleiben auch unter dem Regime der BKatV die Kriterien des § 17 Abs. 3 OWiG (KG, Beschluss vom 27.04.2020 – 3 Ws [B] 49/20 – 122 Ss 19/20 = BeckRS 2020, 18279 = NZV 2020, 597 [Ls]). Selbst wenn die BKatV unanwendbar wäre, führte dies nicht dazu, dass keine Rechtsgrundlage mehr für die Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten und insbesondere für die Verhängung von Farbverboten bestünde.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.
Die Entscheidung ergeht nach § 80a Abs. 1, 2. Halbsatz i.V.m. Abs. 3 Satz 1 OWiG durch den Bußgeldsenat mit drei Richtern.


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