Europarecht

Fristbeginn bei Doppelzustellung eines Abwesenheitsurteils

Aktenzeichen  202 ObOWi 366/22

Datum:
6.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 11546
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 37 Abs. 2
StPO § 45 Abs. 2 Satz 3
StPO § 145a Abs. 1
StPO § 145a Abs. 3
StPO § 341 Abs. 1
StPO § 341 Abs. 2
StPO § 349 Abs. 1
StPO § 473 Abs. 1 Satz 1
OWiG § 46 Abs. 1
OWiG § 71 Abs. 1
OWiG § 74 Abs. 2
OWiG § 74 Abs. 4
OWiG § 79 Abs. 3 Satz 1
OWiG § 80 Abs. 3 Satz 1
OWiG § 80 Abs. 3 Satz 3

 

Leitsatz

1. Die Zustellung einer Entscheidung an einen Verteidiger ist auch dann wirksam, wenn zwar keine schriftliche Vollmacht zu den Akten gelangt ist, er aber das Empfangsbekenntnis unterzeichnet hat, auf das die Bestätigung des Verteidigers aufgedruckt war, dass er „zur Empfangnahme legitimiert“ ist.
2. Zwar ist im Falle einer sog. Doppelzustellung sowohl an den Betroffenen als auch an den Verteidiger eines in Abwesenheit verkündeten Urteils für den Beginn der Frist zur Anbringung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 341 Abs. 2 StPO i.V.m. §§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG nach § 37 Abs. 2 StPO grundsätzlich die zuletzt bewirkte Zustellung maßgeblich. Dies gilt aber dann nicht, wenn die zweite Zustellung erst zu einem Zeitpunkt ausgeführt wird, als die durch die erste Zustellung in Lauf gesetzte Frist bereits abgelaufen war, weil durch die Zustellung an einen weiteren Empfangsberechtigten nicht eine neue Frist eröffnet wird.
3. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels setzt voraus, dass der Betroffene seinen Verteidiger rechtzeitig, d.h. vor Ablauf der Rechtsmittelfrist mit der Einlegung des Rechtsmittels beauftragt hat.

Tenor

I. Der Antrag des Betroffenen, gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 07.12.2021 die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wird als unzulässig verworfen.
II. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
Das Amtsgericht verwarf am 07.12.2021 gemäß § 74 Abs. 2 OWiG den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt vom 12.07.2021, mit dem gegen den Betroffenen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit ein Bußgeld von 35 Euro verhängt worden war. Das Amtsgericht ordnete – entgegen § 145a Abs. 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG (vgl. hierzu nur Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 37 Rn. 29) – die Zustellung des Urteils sowohl an den Betroffenen als auch an seinen Wahlverteidiger an. Ausweislich der Postzustellungsurkunde erfolgte die Zustellung an den Betroffenen am 09.12.2021. Das Empfangsbekenntnis, das den Zusatz enthielt, dass er zur Entgegennahme legitimiert sei, unterzeichnete der Verteidiger am 28.12.2021. Mit Schriftsatz vom 28.12.2021 beantragte der Verteidiger die Bewilligung von Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Hauptverhandlung und legte vorsorglich Rechtsbeschwerde ein, deren Zulassung beantragt wurde. Über das Wiedereinsetzungsgesuch wurde mittlerweile rechtskräftig entschieden. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuleitungsschrift vom 09.03.2022 beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, weil er nicht fristgerecht eingereicht worden sei.
II.
1. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gemäß § 349 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG als unzulässig zu verwerfen, weil er entgegen § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i.V.m. § 341 Abs. 1 und 2 StPO nicht innerhalb der Wochenfrist beim Amtsgericht eingereicht wurde.
a) Die Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG begann, nachdem die Verkündung des Urteils in Abwesenheit des Betroffenen erfolgt war, gemäß § 341 Abs. 2 StPO i.V.m. §§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG mit der Zustellung des Urteils an den Betroffenen am 09.12.2021 und lief daher am 16.12.2021 ab mit der Folge, dass der erst am 28.12.2021 eingegangene Zulassungsantrag verspätet ist.
b) Auf die Zustellung des Urteils an den Verteidiger, die ausweislich des Empfangsbekenntnisses erst am 28.12.2021 bewirkt wurde, kommt es für die Fristberechnung nicht an.
aa) Allerdings folgt dies – entgegen der Annahme der Generalstaatsanwaltschaft – nicht bereits daraus, dass der Verteidiger keine Vollmacht zu den Akten gereicht hatte.
(1) Zwar setzt die gesetzliche Zustellungsvollmacht nach der insoweit einschlägigen Bestimmung des § 145a Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG voraus, dass sich eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers bei den Akten befindet, was hier nicht der Fall war.
(2) Da aber auf dem Empfangsbekenntnis, das der Urteilszustellung an den Verteidiger beigefügt war, die Bestätigung des Verteidigers aufgedruckt war, dass er „zur Empfangnahme legitimiert“ ist, und der Verteidiger dies unterzeichnet hat, ist von einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht auszugehen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 14.01.2004 – 2St RR 188/2003 = BayObLGSt 2004, 1 = NJW 2004, 1263 = wistra 2004, 198 = VRS 106, 292 (2004) = ZfSch 2004, 282 = NZV 2004, 315 = DAR 2004, 405).
bb) Gleichwohl kommt es – trotz der Bestimmung des § 37 Abs. 2 StPO, wonach sich die Fristberechnung bei Zustellungen an mehrere Empfangsberechtigte nach der zuletzt bewirken Zustellung richtet (vgl. hierzu nur BGH, Beschluss vom 02.03.2021 – 2 StR 267/20 bei juris; 01.06.2015 – 4 StR 21/15 = NStZ 2015, 540 = wistra 2015, 356) – für den Fristbeginn nach § 341 Abs. 2 StPO dann auf die erste Zustellung an, wenn die zweite Zustellung erst bewirkt wird, wenn die durch die erste Zustellung in Lauf gesetzte Frist bereits abgelaufen war, weil durch die Zustellung an einen weiteren Empfangsberechtigten nicht eine neue Frist eröffnet wird (vgl. nur BGH, Beschluss vom 12.09.2017 – 4 StR 233/17 = NStZ 2018, 153; 27.06.2017 – 2 StR 129/17 = NStZ-RR 2017, 285 = BGHR StPO § 44 Anwendungsbereich 4; 01.06.2015 – 4 StR 21/15 = NStZ 2015, 540 = wistra 2015, 356). Dies gilt selbst dann, wenn die weitere Zustellung noch vor Fristablauf angeordnet worden war (BGH, Beschluss vom 30.07.1968 – 1 StR 77/68 = BGHSt 22, 221; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 37 Rn. 29 m.w.N.). So lag die Verfahrenssituation aber hier: Die mit der Zustellung an den Betroffenen am 09.12.2021 in Lauf gesetzte Frist des § 341 StPO endete am 16.12.2021, sodass die erst am 28.12.2021 erfolgte Zustellung an den Verteidiger keine neue Frist mehr in Lauf setzen konnte.
2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nach § 45 Abs. 2 Satz 3 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG scheidet bereits deshalb aus, weil nach dem bisherigen Vortrag ein Verschulden des Betroffenen an der Versäumung der Frist nicht ausgeschlossen werden kann. Erforderlich für ein fehlendes Verschulden wäre es, dass der Betroffene seinen Verteidiger rechtzeitig, d.h. vor Ablauf der Rechtsmittelfrist, die am 16.12.2021 endete, mit der Einlegung des Rechtsmittels beauftragt hätte (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 20.12.2021 – 4 StR 439/21; 11.07.2019 – 1 StR 233/19; 02.07.2019 – 2 StR 570/18; 12.12.2018 – 3 StR 519/18; 12.07.2017 – 1 StR 240/17, bei juris; 14.01.2015 – 1 StR 573/14 = NStZ-RR 2015, 145; 23.09.2015 – 4 StR 364/15 = NStZ 2017, 172 = AnwBl 2016, 73; OLG Bamberg, Beschluss vom 23.03.2017 – 3 Ss OWi 330/17 bei juris und 24.10.2017 – 3 Ss OWi 1254/17 = OLGSt StPO § 45 Nr. 20, jeweils m.w.N.). Der Verteidiger hat zwar mit dem Zulassungsantrag vom 28.12.2021 erklärt, dass dieser „namens und im Auftrag“ des Betroffenen gestellt werde. Dabei bleibt aber offen, wann der Auftrag erteilt wurde, sodass der Senat nicht prüfen kann, ob dies rechtzeitig vor Ablauf der Frist zur Anbringung des Zulassungsantrags geschah.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.


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