Europarecht

Inlandsgültigkeit einer tschechischen Fahrerlaubnis, Hinweise aus dem Ausstellungsmitgliedstaat auf einen Wohnsitzverstoß („unknown“), Obliegenheit des Fahrerlaubnisinhabers zu näheren und belegten Angaben hinsichtlich seines Aufenthalts im Ausstellungsmitgliedstaat

Aktenzeichen  11 CS 21.3215

Datum:
23.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6505
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 7 Abs. 1, § 28 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 Nr. 2, S. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 6 S 21.3852 2021-12-07 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Feststellung der Inlandsungültigkeit seiner tschechischen Fahrerlaubnis der Klassen A und B und der Verpflichtung zur Vorlage seines Führerscheins.
Mit Bescheid vom 14. Januar 1993 hatte das Amtsgericht Ingolstadt dem Antragsteller in einem Strafverfahren die Fahrerlaubnis entzogen. Eine deutsche Fahrerlaubnis wurde ihm seither nicht mehr erteilt.
Am 25. August 2010 erteilte die Fahrerlaubnisbehörde der Stadt Chomutov in der Tschechischen Republik dem Antragsteller eine Fahrerlaubnis der Klassen A und B und stellte ihm einen bis zum 25. August 2020 gültigen Führerschein aus. Bemühungen der Antragsgegnerin in der Folgezeit, die Frage eines Wohnsitzverstoßes des wiederholt in Deutschland durch Trunkenheitsfahrten und andere Delikte verkehrsauffälligen Antragstellers bei Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis zu klären, blieben zunächst erfolglos.
Bei einer Verkehrskontrolle am 31. Mai 2020 legte der durchgehend in Deutschland gemeldete Antragsteller seinen tschechischen Führerschein vor. Die Polizeiinspektion Schwabach holte daraufhin über das gemeinsame Zentrum der deutsch-tschechischen Polizei- und Zollzusammenarbeit eine Auskunft der tschechischen Behörden ein. Danach habe der Antragsteller gemäß Führerscheinregister vom 1. Februar 2010 bis 18. Juli 2010 einen Wohnsitz in Most, vom 19. Juli 2010 bis 24. März 2013 in Chomutov und vom 25. März 2013 bis 31. Dezember 2013 in Bilina gehabt. Sein aktueller Wohnsitz seit 13. August 2019 sei in Jablonec nad Nisou.
Am 11. August 2020 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Umschreibung seiner tschechischen in eine deutsche Fahrerlaubnis. In einem Vermerk der Antragsgegnerin ist festgehalten, er könne keine Belege beibringen, die bestätigen würden, dass er zur fraglichen Zeit in Tschechien gelebt habe.
Einer von der Antragsgegnerin über das Kraftfahrt-Bundesamt eingeholten Auskunft des tschechischen Verkehrsministeriums vom 19. August 2020 zufolge haben die örtlichen Behörden die Existenz der Unterkunft unter der vom Antragsteller angegebenen Anschrift bejaht und die Fragen nach dem gewöhnlichen Wohnsitz des Antragstellers für mindestens 185 Tage im Jahr, nach nahen Angehörigen, nach dem Ort der Berufstätigkeit, dem Ort etwaigen Eigentums und dem Ort administrativer Verbindungen zu öffentlichen Behörden und sozialen Diensten (Steuern, Sozialleistungen, Zulassung eines Fahrzeugs etc.) mit „unknown“ beantwortet.
Mit Schreiben vom 10. November 2020 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur beabsichtigten Ablehnung der Umschreibung wegen eines Verstoßes gegen das Wohnsitzprinzip an und wies ihn auf die Möglichkeit hin, Nachweise vorzulegen, aus denen ersichtlich sei, dass er trotz der Anmeldung in Deutschland seinen ordentlichen Wohnsitz in Tschechien gehabt habe (Mietvertrag, Bestätigung eines Arbeitgebers etc.). Hierzu gab der Antragsteller mit Schreiben seines (damaligen) Bevollmächtigten vom 4. Januar 2021 an, er habe seinen ordentlichen Wohnsitz zwischen Februar 2010 und Dezember 2013 durchgehend in Tschechien gehabt, wo er sich beruflich und privat habe neu orientieren wollen. Um seine Mobilität zu gewährleisten, habe er dort auch die tschechische Fahrerlaubnis erworben. Im August 2019 habe er erneut einen Wohnsitz in Tschechien angemeldet. Da seine Mutter am 6. August 2020 verstorben sei und er das Wohnhaus geerbt habe, habe er seinen Wohnsitz wieder nach Deutschland verlegt.
Mit Bescheiden vom 29. Juni 2021 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis ab, stellte unter Anordnung des Sofortvollzugs fest, der Antragsteller sei nicht berechtigt, von seiner tschechischen Fahrerlaubnis im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen und verpflichtete ihn zur Vorlage seines tschechischen Führerscheins zur Eintragung eines Sperrvermerks.
Über die hiergegen erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht München, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Feststellung der Inlandsungültigkeit der tschechischen Fahrerlaubnis hat es mit Beschluss vom 7. Dezember 2021 abgelehnt. Die Inlandsungültigkeit ergebe sich aus § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV). Der Antragsteller habe zum Zeitpunkt der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis seinen Wohnsitz im Inland gehabt. Die tschechischen Behörden hätten auf die Anfrage der Antragsgegnerin lediglich das Vorhandensein einer Unterkunft bejaht. Alle anderen im Fragebogen genannten Umstände, insbesondere ein Aufenthalt für mindestens 185 Tage, seien als unbekannt bezeichnet worden. Der durchgehend mit alleinigem Wohnsitz im Inland gemeldete Antragsteller habe trotz wiederholter Aufforderungen keine weiteren Nachweise hinsichtlich seines Aufenthalts in der Tschechischen Republik vorgelegt. Seine vagen und nicht belegten Angaben im Verwaltungsverfahren seien hierfür nicht ausreichend.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde lässt der Antragsteller vortragen, die Antragsgegnerin sei nicht berechtigt, einen Ungültigkeitsvermerk in das tschechische Ausweispapier einzutragen. Außerdem lägen keine unbestreitbaren Informationen aus Tschechien über eine Wohnsitzverletzung vor. Hinzu komme, dass der deutsche Verordnungsgeber – möglicherweise aufgrund eines Versehens – für die Erfüllung des Ausnahmetatbestands verlange, dass der „Ausstellungsmitgliedstaat“ (hier also Tschechien) unbestreitbar darüber informiert haben müsse, dass der Führerscheininhaber zum Zeitpunkt der Erteilung seinen ordentlichen Wohnsitz „im Inland“ (also in der Bundesrepublik Deutschland) gehabt habe. Eine derartige Information gebe es aber unstreitig nicht.
Die Antragsgegnerin tritt der Beschwerde entgegen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Feststellung der Inlandsungültigkeit der tschechischen Fahrerlaubnis wiederherzustellen wäre.
1. a) Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. November 2020 (BGBl I S. 2704), dürfen Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 FeV in der Bundesrepublik Deutschland haben – vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 – im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Nach § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV gilt die Berechtigung nach § 28 Abs. 1 FeV nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Information zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 FeV im Inland hatten, es sei denn, dass sie als Studierende oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 FeV die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben. Der Berechtigungsausschluss folgt bereits aus der Nichtbeachtung der den ordentlichen Wohnsitz betreffenden Vorschriften; eines Verkehrsverstoßes oder sonstiger Voraussetzungen bedarf es nicht. Er gilt unmittelbar kraft Gesetzes, ohne dass hierfür ein konstitutiver Verwaltungsakt im Einzelfall erforderlich wäre (BVerwG, B.v. 24.10.2019 – 3 B 26.19 – BayVBl 2020, 316 Rn. 19). Allerdings kann die Behörde aus Gründen der Rechtssicherheit einen feststellenden Verwaltungsakt über die fehlende Berechtigung erlassen (§ 28 Abs. 4 Satz 2 FeV).
Ein ordentlicher Wohnsitz im Inland wird nach § 7 Abs. 1 Satz 2 FeV angenommen, wenn der Betroffene wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – bei fehlenden beruflichen Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen ihm und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, das heißt während mindestens 185 Tagen im Jahr, im Inland wohnt. Liegen die persönlichen Bindungen im Inland, hält sich der Betroffene aber aus beruflichen Gründen in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten der EU (oder EWR) auf, hat er seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland, sofern er regelmäßig dorthin zurückkehrt (§ 7 Abs. 1 Satz 3 FeV). Die Voraussetzung der regelmäßigen Rückkehr entfällt, wenn sich der Betroffene zur Ausführung eines Auftrags von bestimmter Dauer in einem solchen Staat aufhält (§ 7 Abs. 1 Satz 4 FeV).
Diese Bestimmungen stehen mit Art. 2 Abs. 1, Art. 7 und Art. 12 der RL 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (Neufassung, ABl EG Nr. L 403 S.18 – RL 2006/126/EG), insbesondere mit der Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine (mit der Folge der Anerkennung der dem Dokument zugrundeliegenden Fahrerlaubnis, vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2018 – 3 C 9.17 – BVerwGE 162, 308 Rn. 28), in Einklang. Voraussetzung für die Ausstellung eines Führerscheins und für dessen Erneuerung bei Ablauf der Gültigkeitsdauer ist ein ordentlicher Wohnsitz im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats im Sinne des Art. 12 der RL 2006/126/EG oder der Nachweis eines dortigen Studiums während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten (Art. 7 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b der RL 2006/126/EG). Die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von durch EU-Mitgliedstaaten erteilten Fahrerlaubnissen gemäß Art. 2 Abs. 1 der RL 2006/126/EG gilt nicht, wenn entweder Angaben im zugehörigen Führerschein oder andere vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührende unbestreitbare Informationen vorliegen, nach denen das Wohnsitzerfordernis nicht eingehalten wurde (vgl. EuGH, U.v. 1.3.2012 – C-467/10, Akyüz – NJW 2012, 1341 Rn. 62; B.v. 9.7.2009 – C-445/08, Wierer – NJW 2010, 217 Rn. 51). Solche Informationen können insbesondere Angaben einer Einwohnermeldebehörde des Ausstellungsmitgliedstaats sein (EuGH, B.v. 9.7.2009 a.a.O. Rn. 61).
Zwar ist grundsätzlich nur der Ausstellungsmitgliedstaat für die Überprüfung zuständig, ob die im Unionsrecht aufgestellten Mindestanforderungen, insbesondere die Voraussetzungen hinsichtlich des ordentlichen Wohnsitzes und der Fahreignung, erfüllt sind und ob somit die Erteilung einer Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist. Hat ein Aufnahmemitgliedstaat triftige Gründe, die Ordnungsgemäßheit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins zu bezweifeln, so hat er dies dem Ausstellungsmitgliedstaat mitzuteilen. Es ist allein Sache dieses Mitgliedstaates, geeignete Maßnahmen in Bezug auf diejenigen Führerscheine zu ergreifen, bei denen sich nachträglich herausstellt, dass ihre Inhaber die vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht erfüllten (BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 21 f. m.w.N.). Zu einer eigenständigen Entscheidung, dem in einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein in seinem Hoheitsgebiet die Anerkennung zu versagen, ist ein Aufnahmemitgliedstaat jedoch befugt, wenn aufgrund von Angaben im Führerschein selbst oder anderen vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen feststeht, dass die unionsrechtlich vorgesehene Voraussetzung eines ordentlichen Wohnsitzes zum Zeitpunkt der Führerscheinausstellung nicht beachtet wurde (BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 23). Dabei muss ein Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis aufgrund der vom Ausstellungsmitgliedstaat stammenden Informationen nicht bereits von vornherein abschließend erwiesen sein (vgl. BayVGH, U.v. 4.3.2019 – 11 B 18.34 – juris Rn. 21 m.w.N.; B.v. 12.1.2018 – 11 CS 17.1257 – juris Rn. 10; B.v. 23.1.2017 – 11 ZB 16.2458 – juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 9.1.2018 -16 B 534/17 – juris Rn. 14 ff. m.w.N). Vielmehr reicht es aus, wenn diese Informationen darauf „hinweisen“, dass ein Wohnsitzverstoß vorliegt. Dann können die Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats auch inländische Umstände zur Beurteilung der Frage heranziehen, ob die Wohnsitzvoraussetzung eingehalten ist (stRspr vgl. BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 25; BayVGH, U.v. 4.3.2019 a.a.O. Rn. 20; B.v. 12.1.2018 a.a.O. Rn. 10). Es obliegt dann dem Inhaber der Fahrerlaubnis, substantiierte und verifizierbare Angaben zu Beginn und Ende seines Aufenthalts im Ausstellungsmitgliedstaat sowie zu den persönlichen und beruflichen Bindungen zu machen, die im maßgeblichen Zeitraum zu dem im Führerschein angegebenen Wohnort bestanden. Dies gilt in besonderer Weise, wenn der Inhaber des Führerscheins gleichzeitig einen Wohnsitz in Deutschland beibehalten hat (BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 28).
b) Hieraus folgt zunächst, dass es der Antragsgegnerin nicht verwehrt war, der Frage nachzugehen, ob der Antragsteller bei der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis am 25. August 2010 tatsächlich einen ordentlichen Wohnsitz von mindestens 185 Tagen im Jahr in der Tschechischen Republik hatte (vgl. EuGH, U.v. 26.4.2012 – C-419/10, Hofmann – juris Rn. 90).
Die Erfüllung des Wohnsitzerfordernisses setzt insbesondere voraus, dass die aufgestellten Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Erteilung bzw. Verlängerung der Fahrerlaubnis im Ausstellungsmitgliedstaat bestehen (vgl. EuGH B.v. 9.7.2009 – C-445/08 – Wierer – EuZW 2009, 735 Rn. 51; BVerwG, U.v. 25.2.2010 – 3 C 15.09 – BVerwGE 136, 149 Rn. 22). Durch den Eintrag eines im Gebiet des Ausstellungsmitgliedstaats liegenden Wohnorts im Führerschein wird das tatsächliche Innehaben eines Wohnsitzes an diesem Ort nicht positiv und in einer Weise bewiesen, dass die Behörden und Gerichte anderer EU-Mitgliedstaaten dies als nicht zu hinterfragende Tatsache hinzunehmen hätten (vgl. BayVGH, U.v. 25.9.2012 – 11 B 10.2427 – NZV 2013, 259). Die Verpflichtung zu gegenseitiger Amtshilfe nach Art. 15 Satz 1 der RL 2006/126/EG vermittelt dem Aufnahmemitgliedstaat vielmehr das Recht, sich im Zweifelsfall bei den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats über das tatsächliche Bestehen eines ordentlichen Wohnsitzes zu erkundigen. Dem steht die Verpflichtung dieses Staats gegenüber, einschlägige Informationen zur Verfügung zu stellen (vgl. BayVGH, U.v. 7.5.2015 – 11 B 14.654 – juris Rn. 33).
Der Antragsteller ist seit seiner Geburt durchgehend mit Wohnsitz in Deutschland gemeldet. Bei seiner Befragung durch die Polizeibediensteten am 10. September 2010, also in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Erteilung einer tschechischen Fahrerlaubnis am 25. August 2010 durch die Stadt Chomutov, gab er an, nach der Entziehung der deutschen Fahrerlaubnis bislang keine medizinisch-psychologische Untersuchung absolviert und „aus diesem Grund“ die tschechische Fahrerlaubnis erworben zu haben. Bei der Verkehrskontrolle am 31. Mai 2020 gab er gegenüber den Polizeibediensteten an, er halte sich ca. 50 Tage im Jahr in der Tschechischen Republik auf. Dies steht im Widerspruch zur Einlassung seines damaligen Bevollmächtigten vom 4. Januar 2021, er habe sich dauerhaft in Tschechien aufgehalten und seinen ordentlichen Wohnsitz zwischen Februar 2010 und Dezember 2013 durchgehend in Tschechien gehabt.
Daraus ergeben sich berechtigte Zweifel hinsichtlich der Einhaltung des Wohnsitzerfordernisses im Zeitpunkt der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis, denen die Antragsgegnerin nachgehen durfte. Dem steht nicht entgegen dass sie im Jahr 2011 nach Bekanntwerden erster Zweifel zunächst keine weiteren Ermittlungen hinsichtlich eines Wohnsitzverstoßes durchgeführt und diese erst aufgrund der polizeilichen Mitteilung vom 22. Juni 2020 wieder aufgenommen hat. Es kann dahinstehen, ob Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes im Rahmen sicherheitsrechtlicher Befugnisse, die nicht im Ermessen der Behörde stehen, überhaupt in Betracht kommen (vgl. zur Rechtsfigur der Verwirkung BayVGH, B.v. 19.8.2019 – 11 ZB 19.1256 – juris Rn. 15; B.v. 30.3.2020 – 11 CS 20.123 – juris Rn. 32 m.w.N.). Weder der Zeitablauf noch sonstige Umstände wie etwa seine weitere Teilnahme am Straßenverkehr begründen ein schutzwürdiges Vertrauen des Antragstellers darauf, die Antragsgegnerin werde keine weiteren Ermittlungen hinsichtlich einer etwaigen Verletzung des Wohnsitzprinzips durchführen und bei neu gewonnenen Erkenntnissen darauf keine Maßnahmen stützen. Ein „Gewohnheitsrecht“ dergestalt, dass eine langjährige unauffällige Verkehrsteilnahme oder eine Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Anerkennungspflicht führen könnte, gibt es nicht (vgl. BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 34).
c) Die Zweifel der Antragsgegnerin hinsichtlich des erforderlichen Wohnsitzes des Antragstellers in der Tschechischen Republik bei Erteilung der Fahrerlaubnis haben sich durch die über das Kraftfahrt-Bundesamt eingeholte Auskunft des tschechischen Verkehrsministeriums vom 2. September 2020 erhärtet. Es handelt sich dabei um vom Ausstellungsmitgliedstaat stammende Informationen, die darauf hinweisen, dass ein Wohnsitzverstoß vorliegt. Dabei ist trotz des Wortlauts des § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV nicht erforderlich, dass sich die Informationen des Ausstellungsmitgliedstaats (hier: Tschechische Republik) auf einen ordentlichen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaubnis beziehen. Hierzu können die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats keine Informationen liefern. In der Rechtsprechung wird es daher im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als ausreichend angesehen, dass sich die Informationen auf den Wohnsitz im Ausstellungsmitgliedstaat beziehen (vgl. BVerwG, B.v. 24.10.2019 a.a.O. Rn. 23, 25).
Das tschechische Verkehrsministerium bestätigt in dem rückgesandten Fragebogen lediglich die Existenz der vom Antragsteller angegebenen Unterkunft. Dies besagt allerdings trotz der Anmeldung eines Wohnsitzes nichts darüber, dass er dort tatsächlich auch gewohnt hat. Alle weiteren relevanten Fragen nach einem gewöhnlichen Wohnort des Antragstellers in der Tschechischen Republik während mindestens 185 Tagen im Jahr, nach familiären, beruflichen oder eigentumsbezogenen Bindungen in der Tschechischen Republik oder nach Kontakten zu dortigen Behörden oder sonstigen öffentlichen Stellen hat das Ministerium mit ‚unbekannt‘ („unknown“) beantwortet. Dies durfte die Antragsgegnerin unter den gegebenen Umständen als ausreichenden Hinweis auf einen Scheinwohnsitz werten. Ohne besonderen Anhalt kann nicht unterstellt werden, dass die Behörde eines EU-Mitgliedsstaats die Fragen in einem auf europäischer Ebene abgestimmten Formular jeweils ohne Ermittlungen mit „unknown“ beantwortet und damit der Sache nach keine Auskünfte erteilt (str, wie hier BayVGH, B.v. 4.3.2019 – 11 B 18.34 – juris Rn. 24; B.v. 7.7.2020 – 11 ZB 19.2112 – juris Rn. 18; B.v. 10.2.2022 – 11 CE 21.2489 – juris Rn. 21 f.; NdsOVG, B.v. 20.3.2018 – 12 ME 15/18 – NJW 2018, 1769 Rn. 16 f.); zumal wenn der betreffende EU-Mitgliedstaat wie die Tschechische Republik ein Ausländer-, Einwohnermelde- und Gewerberegister führt (wikipedia zu „Melderegister“; Offizielle Webseiten des Innenministeriums der Tschechischen Republik [www.mvcr.cz] in englischer Sprache; Offizielle Website der EU `european-justice´ zur Tschechischen Republik).
d) Es hätte daher dem Antragsteller oblegen, vor Erlass des Bescheids nähere Angaben zu seinem Aufenthalt in der Tschechischen Republik zu machen und dies in der gebotenen Weise zu belegen. Hierfür ist die bloße Behauptung, er habe sich dort beruflich und privat neu orientieren wollen und sei auch eine amouröse Beziehung eingegangen, nicht ausreichend. Abgesehen davon, dass die Angaben des Antragstellers zu seinem angeblichen Aufenthalt in der Tschechischen Republik und zu den Gründen für den Erwerb der dortigen Fahrerlaubnis – wie bereits ausgeführt – widersprüchlich sind, hat er hierfür keine Belege vorgelegt. Damit durfte die Antragsgegnerin aufgrund der vom Antragsteller nicht entkräfteten Zweifel von einer Verletzung des Wohnsitzprinzips und damit von der Inlandsungültigkeit der tschechischen Fahrerlaubnis ausgehen und dies in dem angefochtenen Bescheid gemäß § 28 Abs. 4 Satz 2 FeV feststellen.
2. Soweit der Antragsteller zur Begründung seiner Beschwerde vortragen lässt, die Antragsgegnerin sei nicht berechtigt, einen Ungültigkeitsvermerk in das tschechische Ausweispapier einzutragen, übersieht er, dass die Antragsgegnerin hinsichtlich der Verpflichtung, den Führerschein zur Eintragung eines Sperrvermerks vorzulegen (§ 47 Abs. 2 Satz 1 FeV), von einer Anordnung des Sofortvollzugs gemäß § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV im Hinblick darauf abgesehen hat, dass die Gültigkeit des Führerscheins bereits abgelaufen ist (vgl. S. 5/6 des Bescheids). Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2021 (C-56/20 – NJW 2021, 1805) bezieht sich im Übrigen auf Fahrerlaubnisinhaber, die sich im Unterschied zum Antragsteller lediglich vorübergehend im Bundesgebiet unter Beibehaltung ihres Wohnsitzes im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten (vgl. Rn. 34, 36, 39, 41), und steht daher einer Verpflichtung zur Vorlage des Führerscheins zur Eintragung eines Sperrvermerks nicht entgegen.
3. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5, 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben