Europarecht

Kein Anspruch auf Arbeitslosengeld bei ausschließlicher Vorbeschäftigung im Ausland

Aktenzeichen  S 12 AL 265/16

Datum:
5.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 20703
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 61 Abs. 2, Art. 65 Abs. 2 S. 3 u. Abs. 5
SGB IV § 3
SGB I § 30

 

Leitsatz

Kein Anspruch auf Arbeitslosengeld in der Bundesrepublik Deutschland bei ausschließlicher Vorbeschäftigung in der Schweiz.
1 Aus Art. 61 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 regelt ein Zusammenrechnung von Versicherungszeiten in unterschiedlichen Mitgliedstaaten zur Begründung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld I nur, wenn zuletzt in Deutschland Anwartschaftszeiten zurückgelegt wurden. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Zu den Rechtsfiguren des echten und unechten Grenzgängers. (Rn. 17 – 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die insbesondere form- und fristgerecht erhobene Klage ist zwar zulässig, sachlich jedoch nicht begründet. Der Kläger hat ab dem 04.05.2016 keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, zumal die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit hat, wer 1. arbeitslos ist, 2. sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und 3. die Anwartschaftszeit erfüllt hat (§ 137 Abs. 1 SGB III). Die Anwartschaftszeit hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs. 1 S. 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt dabei zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 143 Abs. 1 SGB III).
Die Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt der Kläger deshalb nicht, weil er die notwendige Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Die Anwartschaftszeit wäre erfüllt, wenn der Kläger in den letzten beiden Jahren vor dem 04.05.2016 mindestens zwölf Monate in einem berücksichtigungsfähigen Versicherungspflichtverhältnis gestanden hätte. Zwar ist zuzugestehen, dass der Kläger vom 25.08.2014 bis 03.05.2016 versicherungspflichtig beschäftigt war, allerdings erfolgte diese Beschäftigung in der Schweiz. Gemäß § 3 SGB IV gelten die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung, soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit voraussetzen, für alle Personen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs beschäftigt oder selbständig sind. Soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit nicht voraussetzen, gelten die Vorschriften für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben (§ 3 SGB IV). Gemäß § 30 Abs. 1 SGB I gelten die Vorschriften dieses Gesetzbuches für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben dabei unberührt (vgl. § 30 Abs. 1, Abs. 2 SGB I). Mit diesen Vorschriften bringt der Gesetzgeber das sogenannte Territorialitätsprinzip zum Ausdruck, d. h., dass grundsätzlich Leistungen aus deutschen Sozialversicherungs- oder sonstigen Sozialleistungssystemen an einen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gebunden sein sollen. Im Übrigen gilt, wie § 3 SGB IV dies zum Ausdruck bringt, diese gesetzgeberische Grundwertung auch für die Berücksichtigung von Versicherungszeiten. Grundsätzlich wäre von daher eine Begründung eines Anspruches auf Arbeitslosengeld innerhalb der Bundesrepublik Deutschland durch ausländische Versicherungszeiten nicht möglich.
Ausnahmen hiervon sieht allerdings die Europäische Gesetzgebung vor. So regelt Art. 61 Abs. 1 der EG-Verordnung Nr. 883/2004 die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und einer Zeit der selbständigen Erwerbstätigkeit für die Begründung eines Anspruches auf Sozialleistungen. Art. 61 Abs. 1 der genannten EG-Verordnung führt dabei aus, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaates, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung, das Wiederaufleben oder die Dauer eines Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit abhängig ist, soweit erforderlich, die Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als ob sie nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären. Diese Regelung ist allerdings für den vorliegenden Rechtsstreit nicht einschlägig, da sie gemäß Art. 61 Abs. 2 EG-Verordnung Nr. 883/2004 voraussetzen würde, dass der Kläger nach den in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten auch in der Bundesrepublik vor Eintritt der Arbeitslosigkeit noch Versicherungszeiten zurückgelegt hätte. Zwar ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld eine Sozialleistung, die von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängig ist, allerdings fehlt für den Kläger das Erfordernis, dass er auch in der Bundesrepublik vor Eintritt der Arbeitslosigkeit noch Versicherungszeiten zurückgelegt hätte. Eine Zusammenrechnung der Schweizer Versicherungszeiten mit etwaigen Versicherungszeiten in der Bundesrepublik scheidet daher infolge des Fehlens inländischer Versicherungszeiten wegen Art. 61 Abs. 2 EG-Verordnung 883/2004 aus. Mithin kann ein Anspruch auf Arbeitslosengeld im Hinblick auf die Erfüllung der Anwartschaftszeit jedenfalls auch nicht aus Artikel 61 Abs. 1 EG-Verordnung Nr. 883/2004 abgeleitet werden.
Auch die Rechtsfigur des Grenzgängers kann den Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht begründen, zumal auch über diese Rechtsfigur letztendlich die Anwartschaftszeit nicht erfüllt wurde. Dies deshalb, weil der Kläger nicht als Grenzgänger angesehen werden kann. Der Begriff des Grenzgängers ist in Art. 1 Buchstabe f der EG-Verordnung Nr. 883/2004 legal definiert. Dort wird ausgeführt, dass Grenzgänger eine Person ist, die in einem Mitgliedsstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedsstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger nicht gegeben, da er zwar in der Schweiz gearbeitet hat, allerdings nicht in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Art. 1 Buchstabe f EG-Verordnung Nr. 883/2004 gewohnt hat. Der Kläger ist weder täglich in die Bundesrepublik zurückgekehrt noch hat er die Mindestanforderung einer einmal wöchentlichen Rückkehr erfüllt. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den eigenen Angaben des Klägers, der in dem Fragebogen angegeben hat, dass er allenfalls zwei- bis dreimal monatlich seine Eltern in Deutschland besucht habe. Hiermit ist auch die Mindestanforderung an einen Grenzgänger, nämlich die mindestens einmal wöchentliche Rückkehr an den Wohnort, offensichtlich nicht erfüllt. Im Übrigen handelt es sich bei der einmal wöchentlichen Rückkehr um eine Mindestanforderung, bei der besondere Sachverhaltskonstellationen berücksichtigt werden könnten, die eine tägliche Rückkehr an den Wohnort in der Bundesrepublik verhindern. Auch hiervon ist beim Kläger nicht auszugehen. Die Einschätzung des Klägers als Grenzgänger kann somit nicht erfolgen. Damit ist auch die Erfüllung der Anwartschaftszeit über Art. 65 Abs. 5 Buchstabe a der EG-Verordnung Nr. 883/2004 nicht möglich.
Schließlich hilft auch die Figur des sogenannten unechten Grenzgängers bei der Prüfung der Erfüllung der Anwartschaftszeit nicht weiter. Der Begriff des unechten Grenzgängers ist in der genannten EG-Verordnung nicht legal definiert. Allerdings setzt Art. 65 Abs. 2 S. 3, Abs. 5 Buchstabe b der EG-Verordnung Nr. 883/2004 die Figur des unechten Grenzgängers voraus. Die Figur des unechten Grenzgängers ist dadurch gekennzeichnet, dass der jeweils Betroffene auf dem Gebiet eines anderen Staates wohnt, dessen Rechtsvorschriften während seiner letzten Beschäftigung für ihn galten. Grundsätzlich wäre dies beim Kläger der Fall. Der Kläger war zuletzt versicherungspflichtig in der Schweiz beschäftigt und wohnt zwischenzeitlich wieder in der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings wollte der Europäische Gesetzgeber mit den Regelungen des Art. 65 Abs. 2 S. 3, Abs. 5 Buchstabe b EG-Verordnung Nr. 883/2004 keine schrankenlose Leistungsgewährung für sämtliche Wanderarbeitnehmer zulassen. Maßgeblich für die Auslegung dieser Vorschriften ist dabei die grundlegende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der Sache Di Paolo. Dort hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die Vorschriften über den unechten Grenzgänger grundsätzlich eng auszulegen seien, weil es sich dabei um Ausnahmevorschriften handeln würde. Maßgeblich sei letztendlich, dass die Regelungen über den unechten Grenzgänger insbesondere auf Arbeitnehmer Anwendung finden können, die, obwohl sie in einem anderen Mitgliedsstaat beschäftigt waren, weiterhin normalerweise gewöhnlich im Herkunftsland wohnen, in dem sich auch der gewöhnliche Mittelpunkt ihres Lebens und ihrer Interessen befindet. In diesem Zusammenhang sei auch der Umstand zu sehen, dass der Arbeitnehmer seine Familie in dem genannten Staat zurückgelassen habe. Hierin könne ein Indiz für eine unechte Grenzgängereigenschaft liegen. Dies alleine könne allerdings die Festlegung als unechten Grenzgänger nicht rechtfertigen. Vielmehr seien neben den familiären Verhältnissen auch die Gründe zu berücksichtigen, die den jeweiligen Arbeitnehmer zur Abwanderung bewogen haben. Hierbei ist insbesondere die Art seiner Tätigkeit zu berücksichtigen. Maßgebliche Gesichtspunkte seien dabei die Dauer, der Zweck und die Kontinuität der Abwesenheit, die Art der in einem anderen Mitgliedsstaat aufgenommenen Beschäftigung, sowie die Einschätzung der gesamten Umstände, aus denen sich die Zweckrichtung der Beschäftigung im ursprünglichen Beschäftigungsland ableiten lässt. Insbesondere wäre eine Einschätzung als unechter Grenzgänger daher zum Beispiel geboten, wenn nur eine vorübergehende, befristete Beschäftigung im Ausland ausgeübt wird (etwa Saisonarbeit) oder eine Beschäftigung im Ausland für eine Ausbildung notwendig wäre, die im Inland so nicht möglich wäre. Dies alles ist beim Kläger nicht zutreffend, der Kläger hat die Beschäftigung in der Schweiz in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis grundsätzlich auf Dauer aufgenommen, weil in der Schweiz die Verdienstmöglichkeiten deutlich günstiger waren als dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Dies ergibt sich zum einen aus den Angaben des Klägers in dem von ihm ausgefüllten Fragebogen, aber auch aus den Gesprächsvermerken, die in der Akte der Beklagten abgeheftet sind. Schließlich spricht auch die Einschätzung des Klägers, dass er auch zukünftig eine Beschäftigung wieder in Schweiz suchen werde, dafür, dass ein unechter Grenzgänger nicht angenommen werden kann. Letztendlich hat auch der Vater des Klägers in der Schweiz versicherungspflichtig gearbeitet, sodass bei dem im Übrigen ledigen Kläger auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass seine gesamte Familie in der Bundesrepublik verblieben wäre. Insgesamt überwiegt bei weitem der Aspekt, dass der Kläger beabsichtigt hatte, seinen Lebensmittelpunkt dauerhaft in der Schweiz einzurichten. Damit ist die Einschätzung als unechter Grenzgänger jedenfalls nicht mehr möglich. Die Erfüllung der Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld scheidet unter Berücksichtigung dieser angegebenen Gründe damit ebenfalls aus.
Weitere Möglichkeiten, die die Erfüllung der Anwartschaftszeit für den Kläger als denkbar erscheinen lassen, sind von den Beteiligten weder vorgetragen, noch sind sie für das Gericht ansonsten erkennbar. Da der Kläger somit die Anwartschaftszeit tatsächlich nicht erfüllt hat, war die Klage insgesamt als unbegründet abzulehnen.
Die Kostenentscheidung entspricht §§ 183, 193 SGG und entspricht dem Unterliegen des Klägers.


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