Europarecht

Kein Zuständigkeitsübergang durch Schweigen der Republik Italien auf zu Unrecht gestelltes Wiederaufnahmeersuchen

Aktenzeichen  Au 3 S 17.50149

Datum:
27.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 3, § 34a Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 18 Abs. 1, Art. 19, Art. 25 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Ein Zuständigkeitsübergang dadurch, dass die Republik Italien auf ein – zu Unrecht gestelltes – Wiederaufnahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland nicht geantwortet hat, findet nicht statt. Selbst die ausdrücklich erklärte Zustimmung des anderen (unzuständigen) Mitgliedsstaates zur Überstellung des Schutzsuchenden ändert an der eigentlichen Zuständigkeit nach der Dublin III-VO nichts. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die rechtswidrige Ablehnung eines (Zweit-) Antrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann wegen der ungünstigeren Rechtsfolgen nicht in eine (Unzulässigkeits-) Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG umgedeutet werden. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziff. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Juni 2017 (Gz: *) verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen seine Abschiebung nach Italien.
Er ist nach eigenen Angaben pakistanischer Staatsangehöriger punjabischer Volkszugehörigkeit und Sunnit, reiste am 19. Oktober 2012 erstmals in das Bundesgebiet ein und stellte am 29. November 2012 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag. Die Überstellung des Antragstellers nach Österreich im Rahmen des Vollzugs der Dublin III-VO scheiterte am Ablauf der Überstellungsfrist am 5. Mai 2014. In der Folge lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers mit Bescheid vom 13. Juni 2016 in der Sache ab. Rechtsmittel gegen diese Ablehnung wurden nicht eingelegt.
Am 3. April 2017 stellte der Antragsteller einen erneuten Asylantrag in Deutschland. Nach einem undatierten Vermerk des Bundesamts erzielte das Bundesamt einen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 für Italien. Danach hatte der Antragsteller am 4. Oktober 2016 in Italien einen Asylantrag gestellt.
Das Bundesamt richtete daraufhin ein Wiederaufnahmeersuchen an die Republik Italien, dessen Eingang von einem automatischen E-Mail-System der italienischen Behörden am 24. April 2017 bestätigt wurde.
Bei seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages am 16. Mai 2017 vor dem Bundesamt gab der Antragsteller an, dass er in Italien einen Asylantrag gestellt hatte, weil er dort weder Wohnung, noch Arbeit noch medizinische Versorgung gehabt habe. Aus den zum Verfahren beigezogenen Akten der zentralen Ausländerbehörde (ZAB) * ergibt sich, dass der Antragsteller gegenüber der Ausländerbehörde des Landratsamts * am 30. Mai 2017 angegeben hat, er sei am 21. September 2016 nach Italien ausgereist. Nachdem er sich vier bis fünf Monate in Italien aufgehalten habe, sei er wieder nach Deutschland gekommen, weil er in Italien keine Perspektive gesehen habe. Er habe dort keine Dokumente erhalten, keine Unterkunft gehabt und keine Arbeit gefunden. Einen Asylantrag habe er in Italien gestellt, weil er aufgrund eines Bandscheibenvorfalls behandlungsbedürftig gewesen sei und die Aufnahme in das Krankenhaus die Stellung des Asylantrages vorausgesetzt habe.
Mit Bescheid vom 1. Juni 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziff. 1 des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht bestehen (Ziff. 2) und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an (Ziff. 3). Weiter befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4). Der Asylantrag des Antragstellers sei unzulässig, da für die Prüfung des Asylantrags aufgrund des in Italien gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. B Dublin III-VO Italien zuständig sei. Die italienischen Behörden hätten auf das Übernahmeersuchen nicht innerhalb der vorgegebenen Frist von 2 Wochen geantwortet, so dass gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO davon auszugehen sei, dass Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags anerkannt habe. Der Antragsteller habe in Italien einen Anspruch auf Unterbringung und medizinische Versorgung. Dem Bundesamt lägen keine Anhaltspunkte vor, dass Italien den Antragsteller zur medizinischen Versorgung verwehre. Insgesamt bestimmten keine außergewöhnlichen humanitären Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben.
Hiergegen erhob der Antragsteller am 6. Juni 2016 Klage (Au 3 K 17.50148), über die noch nicht entschieden ist.
Zugleich beantragte er:
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung wird Bezug genommen auf den Asylantrag vom 19. April 2017.
Das Bundesamt hat die elektronische Verfahrensakten (auch die des Erstverfahrens) vorgelegt. Ein Antrag wurde nicht gestellt.
Zum Verfahren zugezogen wurden auch die Akten der zentralen Ausländerbehörde *.
Zu den weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
Die Klage gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 1. Juni 2017 in Ziffer 3. verfügte Abschiebungsanordnung hat gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht kann jedoch gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des Bescheides vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Bescheides überwiegt. Bedeutsam sind für die vorzunehmende Interessenabwägung in erster Linie die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren. Das Interesse des Antragstellers überwiegt regelmäßig, sofern der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist. Ist er rechtmäßig, überwiegt dem gegenüber das Interesse der Allgemeinheit an seiner Vollziehung. Wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen sind, hat eine weitere Interessenabwägung im Sinne einer Folgenbetrachtung stattzufinden.
Vorliegend überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller. Denn die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes vom 1. Juni 2017 erweist sich bei der gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig.
1. Rechtsgrundlage für die angefochtene Abschiebungsanordnung ist § 34a AsylG. Danach ordnet das Bundesamt dann, wenn ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, ohne vorherige Androhung und Fristsetzung die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Sätze 1 und 3 AsylG).
2. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG liegen hier jedoch nicht vor.
a) Ein Asylantrag ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO), zuständig ist.
b) Für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Antragsstellers ist nicht die Republik Italien, sondern (noch immer) die Bundesrepublik Deutschland zuständig. Insbesondere ist die Zuständigkeit nicht durch Asylantragstellung am 4. Oktober 2016 in Italien auf die Republik Italien übergangen.
Die Zuständigkeit für die Prüfung des ersten Asylantrags des Antragsstellers war nach Ablauf der Frist zur Überstellung nach Österreich gem. Art. 29 Abs. 3 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Diese hat folgerichtig den ersten Asylantrag des Antragsstellers sachlich geprüft und mit Bescheid vom 13. Juni 2016 in der Sache entschieden.
Die durch Art. 29 Abs. 3 Dublin-III-VO begründete Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist auch durch die bestandskräftige Entscheidung über den ersten Asylantrag und/oder die Ausreise nach Italien nicht erloschen. Vielmehr bestimmt Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin-III-VO, dass der zuständige Mitgliedstaat auch nach Ablehnung des Asylantrags verpflichtet bleibt, einen Drittstaatsangehörigen wieder aufzunehmen, der in einem andern Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat oder sich dort aufhält. Diese Verpflichtung erlischt erst, wenn der Asylbewerber nachweislich das Hoheitsgebiet der (d.h. aller) Mitgliedsstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat (Art. 19 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO), das Hoheitsgebiet der (d.h. aller) Mitgliedsstaaten aufgrund eines Rückführungsbeschlusses oder einer Abschiebungsandrohung verlassen hat (Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin-III-VO) oder abgeschoben wurde (Art. 19 Abs. 3 Satz 2 Dublin-III-VO). Nur in diesen drei Fällen – die im Falle des Antragstellers ersichtlich nicht vorliegen – wird ein erneutes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates ausgelöst. In allen anderen Fällen bleibt es – wie hier – bei der Zuständigkeit des Mitgliedsstaates, der das erste Asylverfahren durchgeführt hat, im vorliegenden Fall also der Bundesrepublik Deutschland.
c) An diesem Ergebnis ändert sich auch nichts dadurch, dass die Republik Italien auf das – zu Unrecht gestellte – Wiederaufnahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland nicht geantwortet hat. Die Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-VO sind grundsätzlich individualschützend und vermitteln dem Asylbewerber damit einen Anspruch auf die Prüfung des Asylantrags durch den zuständigen Mitgliedsstaat (BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 1 C-6/16 – BVerwGE 156, 9 – juris Rn. 22 unter Verweis auf EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 – Ghezelbash und C-155/15 – Karim). Daraus folgt, dass selbst die ausdrücklich erklärte Zustimmung des anderen (unzuständigen) Mitgliedsstaates zur Überstellung des Schutzsuchenden nichts an der eigentlichen Zuständigkeit nach der Dublin-III-VO ändert (vgl. VG München, B.v. 22.12.2016 – M 26 S. 16.51164 – juris Rn. 15; VG Düsseldorf, B.v. 21.3.2017 – 12 L 39/17.A – juris Rn. 12; VG Hannover, B.v. 9.1.2017 – 13 B 6976/16 – juris, Rn. 19 ff.). Dies gilt erst recht, wenn die Zustimmung des für sich genommen unzuständigen Mitgliedsstaates – wie hier – lediglich aufgrund einer unterbliebenen Antwort auf ein Wiederaufnahmeersuchen nach Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO vermutet wird. Insofern kann auch dahinstehen, ob das Wiederaufnahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland die formellen Anforderungen erfüllte, die notwendig sind, um die Fiktion nach Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO auszulösen (vgl. VG Bayreuth, B.v. 23.5.2017 – B 3 S. 17.50616 – juris Rn. 26).
Ob etwas anders gilt, wenn der unständige Mitgliedsstaat förmlich sein Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin-III-VO ausübt, kann vorliegend dahinstehen, denn die fehlende Reaktion auf das Wiederaufnahmeersuchen innerhalb der Frist und die damit verbundene Zustimmungsfiktion (Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO) löst jedenfalls einen Zuständigkeitsübergang im Wege des Selbsteintritts nicht aus (NRW OVG, U.v. 10.03.2016 – 13 A 1657/15.A – juris Rn. 89).
3. Die rechtswidrige Ablehnung eines (Zweit-)Antrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann wegen der ungünstigeren Rechtsfolgen nicht in eine (Unzulässigkeits-)Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG umgedeutet werden (BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 1 C-6/16 – BVerwGE 156, 9 Leitsatz 3).
4. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes vom 1. Juni 2016 erweist sich mithin bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, weshalb das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt und der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg hat.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen