Europarecht

Klagefrist für eine Verpflichtungsklage, ordnungsgemäße Zustellung eines Widerspruchsbescheids, Übergabeeinschreiben, 3-Tages-Fiktion, Ersatzzustellung, Beweiswert eines Sendungsnachweises, Privatkunde, Entgegennahme durch einen Pförtner, Kanzleistempel

Aktenzeichen  AN 18 K 20.02169

Datum:
22.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12630
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 74,
VwGO § 73
VwZG § 4
ZPO §§ 416 ff.

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.  Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund des schriftsätzlich erklärten Verzichts der Beteiligten auf weitere mündliche Verhandlung nach Vertagung der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung am 22. März 2022 im schriftlichen Verfahren entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.
Gegenstand der vorliegenden Klage ist der Widerspruchsbescheid des Bayerischen Landesamts für Finanzen mit dem Geschäftszeichen … vom 9. September 2020, soweit der Beklagte darin dem am 27. Juli 2020 erhobenen Widerspruch gegen den Beihilfebescheid vom 29. Juni 2020 nicht abgeholfen hat. Es handelt sich demnach um eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage, § 42 Abs. 2 Alt. 2 VwGO.
Die am 14. Oktober 2020 erhobene Klage erweist sich jedoch bereits als unzulässig und war daher abzuweisen, da gemäß § 74 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verpflichtungsklage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids erhoben werden muss.
Nach Auffassung der Kammer gilt der streitgegenständliche Widerspruchsbescheid als am 13. September 2020 zugestellt, so dass die Klagefrist durch Erhebung der Klage erst am 14. Oktober 2020 nicht gewahrt wurde.
I. Ein Widerspruchsbescheid ist gemäß § 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO zuzustellen, und zwar gemäß Satz 2 von Amts wegen nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes (VwZG). Dies gilt auch, wenn wie vorliegend eine Landesbehörde Widerspruchsbehörde ist. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 VwZG hat die Behörde dabei die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten. Vorliegend hat sich die Widerspruchsbehörde für die Zustellungsform des Einschreibens durch Übergabe gemäß § 4 Abs. 1 Alt. 1 VwZG entschieden und mit Hilfe des eingesetzten Postdienstleisters (Deutsche Post) ordnungsgemäß durchgeführt, so dass die Zustellung bereits als am 13. September 2020 bewirkt anzusehen ist. Insbesondere enthält die behördliche Akte auf Blatt 45 den handschriftlichen Vermerk darüber, wann die Sendung zur Post gegeben wurde, und entspricht damit der Vorgabe gemäß § 4 Abs. 2 Satz 4 VwZG („vers. 10.09.20“).
II. Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG gilt ein Dokument am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, dass es nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Ausweislich der vorgelegten Behördenakte wurde der Widerspruchsbescheid vom 9. September 2020 mit dem Geschäftszeichen … am 10. September 2020 zur Post aufgegeben. Der Tag der Aufgabe zur Post ist dabei das fristauslösende Ereignis zur Berechnung der 3-Tages-Fiktion im Sinne von § 187 Abs. 1 BGB i.V.m. § 31 Abs. 1 VwVfG und wird bei der Berechnung nicht mitgerechnet (Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 4 – juris Rn. 20 m.w.N.). Die 3-Tages-Fiktion endete somit am 13. September 2020, § 188 Abs. 1 BGB i.V.m.§ 31 Abs. 1 VwVfG.
1. Der 13. September 2020 war zwar ein Sonntag, was jedoch bereits nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG unerheblich ist. Die 3-Tages-Fiktion begründet zudem einen – ggf. fristauslösenden – Zeitpunkt und gerade keine Zeitspanne. Bei einer Zeitspanne, welche eine gesetzliche oder behördliche Frist umfasst, ist in der Regel vorgesehen, dass für den Fall, dass das Fristende auf einen Sonntag fällt, die Frist bis zum nächsten Werktag zu verlängern ist, so beispielsweise § 31 Abs. 3 Satz 1 VwVfG. Dafür besteht im Rahmen der Fiktion eines Zeitpunkts jedoch kein Bedürfnis und ist dementsprechend dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG nach auch nicht vorgesehen. Diese Sichtweise entspricht der überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung (u.a. Sadler/Tillmanns, a.a.O. – juris Rn. 19, unter Hinweis auf VGH München, B.v. 23.7.1990 – GRS 1/90, VGHE 43, 147; BSG, U.v. 19.3.1957 – 10 RV 609/56, BSGE 5, 53 und weitere Nachweise).
2. Die Zustellung eines Übergabeeinschreibens hat grundsätzlich an den Adressaten der Sendung zu erfolgen. Zwar verweist § 4 VwZG anders als beispielsweise § 3 VwZG nicht auf die Vorschriften zur Ersatzzustellung gemäß § 177 ff. ZPO. Dennoch ist allgemein anerkannt, dass auch im Rahmen eines Übergabeeinschreibens, welches nicht mit der Zusatzoption „eigenhändig“ versandt wird, die Zustellung an bestimmte Ersatzempfänger möglich ist. Unabhängig von der Frage, ob sich dies aus den allgemeinen Geschäftsbedingungen des privaten Postdienstleisters (§ 2 Abs. 2 Satz 1 VwZG) ableiten lässt oder aus dem Rechtsgedanken des § 130 Abs. 1 BGB (so beispielsweise BeckOK, VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 54. Edition, Stand: 1.10.2019, § 4 VwZG – Beckonline Rn. 8), ist richtigerweise von der Möglichkeit der Ersatzzustellung auszugehen. Andernfalls wäre eine effektive Verwaltungspraxis im Bereich des Übergabeeinschreibens nicht gewährleistet, und aus dem einfachen Übergabeeinschreiben würde ohne zwingenden gesetzlichen Grund letztlich regelmäßig ein sog. eigenhändiges Übergabeeinschreiben.
3. Nach dem Gesamtergebnis der mündlichen Verhandlung und dem schriftlichen Vorbringen der Beteiligten steht zur Überzeugungsgewissheit der Kammer fest (§ 108 Abs. 1 Satz VwGO), dass der Widerspruchsbescheid vom 9. September 2020 bereits am 12. September 2020 in den Machtbereich des Klägerbevollmächtigten gelangt und die 3-Tages-Fiktion damit nicht widerlegt ist. Das Gericht bezieht sich insoweit maßgeblich auf den in der Behördenakte auf Blatt 47 enthaltenen Sendungsstatus über die Sendungsnummer …, welches die Sendungsnummer für das an die Deutsche Post übergebene Einschreiben des Beklagten darstellt. Ausweislich dessen ist der eingeschriebene Widerspruchsbescheid am 12. September 2020 zugestellt worden. Die seitens des Klägerbevollmächtigten erhobenen Einwände sind nicht geeignet, die 3-Tages-Fiktion zu widerlegen (im Folgenden Buchst. a) bis b)).
a) Soweit der Klägerbevollmächtigte vorträgt, der auf dem Einschreiben angebrachte Stempel belege, dass der Widerspruchsbescheid erst an diesem Tag, also am Montag, den 14. September 2020 eingegangen sei, ist dem Folgendes entgegenzuhalten: Bei dem in der Behördenakte befindlichen Sendungsstatus handelt es sich um eine Privaturkunde im Sinne von § 416 ZPO, welche den vollen Beweis dafür begründet, dass die in ihr enthaltene Erklärung, nämlich, dass Herr W* … die Sendung am 12. September 2020 entgegengenommen hat, von diesem tatsächlich abgegeben worden ist. Der Beweiswert ist damit zwar gegenüber einer öffentlichen Urkunde insoweit geringer, als diese den vollen Beweis ihres Inhalts bzw. der darin bezeugten Tatsachen begründen würde (§§ 417, 418 ZPO), also, dass Herr W* … nicht nur die Erklärung abgegeben hat, sondern auch, dass er die Sendung entgegengenommen hat. Eine solche öffentliche Urkunde mit dem geschilderten Beweiswert liegt gerade nicht vor. Allerdings ist der bloße Vortrag des Klägerbevollmächtigten, ein Herr W* … sei nicht bekannt und am 12. September 2020 habe Frau B* … S* … Dienst an der Pforte gehabt, nicht geeignet den Beweis, dass Herr W* … unterschrieben und die Erklärung abgegeben hat, zu widerlegen. Denn unabhängig von der Frage, wer Herr W* … ist und in welcher Funktion dieser die Erklärung, dass er die Sendung entgegengenommen habe, abgegeben hat, stellt die bewiesene und nicht widerlegte Tatsache der Abgabe der Erklärung ein starkes, durch die Einlassungen des Klägerbevollmächtigten nicht erschüttertes Indiz dafür dar, dass der Widerspruchsbescheid am 12. September 2020 an einen Ersatzbevollmächtigten der Kanzlei des Klägerbevollmächtigten zugestellt worden ist.
Insbesondere der ins Feld geführte Kanzleistempel datierend auf den 14. September 2020 stellt keinen Gegenbeweis für die Tatsache dar, dass Herr W* … die Erklärung abgegeben hat. Hier wäre der volle Gegenbeweis zu führen. Es erscheint zwar wiederum nachvollziehbar, dass nach normalem Geschäftsgang eine an einem Samstag eingegangene Sendung dem jeweiligen Bearbeiter erst am darauffolgenden Arbeitstag vorgelegt wird. Darauf kommt es jedoch vorliegend nicht an. Denn maßgeblich ist im Rahmen von § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG allein, ob die Übergabe an eine im Empfangsbereich befindliche Person dem Kläger zurechenbar ist. Zwar bleibt nach dem Vorbringen der Beteiligten und nach Aktenlage – auch nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und der nachgelassenen Schriftsatzfrist – unklar, wer die Person gewesen ist, welche unter dem Namen W* … die Empfangsbestätigung vom 12. September 2020 unterzeichnet hat. Da an dem Tage nach Angaben des Klägerbevollmächtigten eine (bereits im Ruhestand befindliche) Beschäftigte mit dem Namen S* … Dienst an der Pforte gehabt habe, liegt aufgrund der Namensähnlichkeit die Vermutung nahe, dass der Postzusteller den Namen und das Geschlecht des oder der Empfangsberechtigten wohl versehentlich falsch notiert hat. Auf der anderen Seite erinnert die Unterschrift auf dem Sendungsstatus deutlicher an den Namen W* … als an den Namen S* … Darauf kommt es vorliegend jedoch nicht an. Denn in Ermangelung hinreichend konkreten und substantiierten Sachvortrages seitens des Klägerbevollmächtigten steht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts fest, dass das Einschreiben am 12. September 2020 im Machtbereich des Empfängers an eine Person, welche sich im Bereich der Pforte aufgehalten hat, gelangt ist. Diese Person hat das Einschreiben offenbar dem üblichen Geschäftsablauf entsprechend an die Kanzlei des Klägerbevollmächtigten weitergeleitet, so dass die Kanzleiangestellte das Schreiben am nächsten Arbeitstag öffnen und an den zuständigen Sachbearbeiter weiterleiten konnte. Der verwendete Stempel mit dem Datum 14. September 2020 entspricht nicht dem tatsächlichen Tag des Zugangs und weicht auch von dem Datum unter Anwendung der 3-Tages-Fiktion ab. Diese Abweichung muss sich der Kläger jedoch zurechnen lassen.
b) Doch auch der Inhalt der Urkunde, dass jemand, der nicht zwingend den Namen W* … tragen muss, die Sendung am 12. September 2020 im Machtbereich der Kanzlei des Klägerbevollmächtigten entgegengenommen hat, steht zur Überzeugung der Kammer fest. Denn nach den Schilderungen des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 22. März 2022 entspricht es dem in der Kanzlei üblichen bzw. ihr zurechenbaren Geschäftsgang, dass Postzusteller zunächst in den Eingangsbereich des Geschäftsgebäudes gelangen. In diesem Eingangsbereich sitzt nach den Angaben des Klägerbevollmächtigten werktags in der Regel ein Pförtner an einem ihm zugewiesenen Tisch, der sich wohl im Bereich der Briefkästen befindet. An einem Samstag, an dem die Kanzlei üblicherweise nicht besetzt sein soll, erhält ein Postzusteller durch Klingeln nach Öffnen durch den Pförtner Zutritt zu dem Gebäude. Ein Pförtner ist bereits nach allgemeinem Sprachgebrauch dafür zuständig, alle Angelegenheiten, welche mit dem Zugang zu einem Gebäude („Pforte“) zu tun haben, abzuwickeln. Eingangs- und Empfangsbereich fallen in der Regel, aber auch im vorliegend Fall, funktional und räumlich zusammen. Dass ein Pförtner, der zudem seinen Arbeitsplatz direkt neben den Briefkästen hat, nicht auch für die Entgegennahme von Postsendungen befugt sein soll, wie dies seitens des Klägerbevollmächtigten behauptet, aber nicht hinreichend konkret und substantiiert dargelegt wurde, widerspricht bereits allgemeiner Lebenserfahrung und den in einem Geschäftshaus üblichen Gepflogenheiten. Der Klägerbevollmächtigte hat seine Darstellung nicht etwa mit einer schriftlichen Anweisung der Kanzleiinhaber oder durch Vorlage einer entsprechenden vertraglichen Regelung belegt, so dass auch diese Darstellung nicht geeignet ist, die 3-Tages-Fiktion zu entkräften.
Nach alledem steht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts fest, dass das Einschreiben am 12. September 2020 in den Machtbereich des Empfangsberechtigten, also des Klägerbevollmächtigten, gelangt ist.
4. Zwar tritt die Zustellfiktion gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG nicht ein, wenn das eingeschriebene Dokument nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Ein früherer Zugang wie vorliegend schadet indes nicht; vielmehr ist auch in einem Fall, wenn wie vorliegend ein früherer Zugang dokumentiert ist, vom Eintritt des fristauslösenden Ereignisses erst mit Ablauf des dritten Tages nach der Aufgabe zur Post auszugehen.
III. Die Zustellung gilt damit als am 13. September 2020 bewirkt. Der Widerspruchsbescheid ist zudem mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrungversehen, insbesondere ist richtigerweise von der Zustellung des Widerspruchsbescheids und nicht nur von dessen Zugang die Rede. Ausgehend von dem fristauslösenden Ereignis, der Zustellung des Widerspruchsbescheids am 13. September 2020, begann die einmonatige Klagefrist am 14. September 2020 zu laufen und endete am 13. Oktober 2020. Mithin erfolgte die Klageerhebung erst am 14. Oktober 2020 einen Tag zu spät und damit außerhalb der Klagefrist des § 74 VwGO.
IV. Nach alledem erweist sich die erhobene Verpflichtungsklage bereits als unzulässig und war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO, die Streitwertfestsetzung aus§ 52 Abs. 3 GKG.


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