Insolvenzrecht

Antrag eines Dritten auf Einsicht in die Insolvenzakten

Aktenzeichen  102 VA 66/21

Datum:
14.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
NWB – 2021, 3242
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 299 Abs. 2

 

Leitsatz

Gegen einen Dritten gerichtete Ansprüche, die unabhängig vom Insolvenzverfahren in der Person des Insolvenzschuldners entstanden sind und nach Verfahrenseröffnung vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden, begründen in der Regel kein rechtliches Interesse des Dritten i. S. d. § 299 Abs. 2 ZPO an der Einsicht in die Insolvenzakten. (Rn. 28)

Verfahrensgang

1513 IN 219/19 2021-03-30 Bescheid AGMUENCHEN AG München

Tenor

I. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung wird zurückgewiesen.
II. Der Geschäftswert wird auf 656.818,00 € festgesetzt.
III. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Antragstellerin, eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, führte die Prüfung der Jahresabschlüsse für die Jahre 2015 bis 2017 der B.E.gesellschaft mbH (im Folgenden: Schuldnerin) durch, über deren Vermögen mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 16. Oktober 2019 das – noch nicht beendete – Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
Der Insolvenzverwalter macht gegen die Antragstellerin i. H. v. 6.568.180,00 € Ansprüche wegen der Verletzung von Hinweispflichten im Rahmen der Jahresabschlussprüfungen geltend, die sich daraus ergeben hätten, dass die Schuldnerin bereits seit 2015 dauernd insolvenzreif gewesen sei.
Mit Schriftsatz vom 10. März 2021 hat die Antragstellerin beim Amtsgericht München beantragt, ihr gemäß § 4 InsO i. V. m. § 299 Abs. 1 und 2 ZPO eine Kopie des Berichts des vorläufigen Insolvenzverwalters (Gutachten als Sachverständiger im Eröffnungsverfahren) zu übersenden. Sie sei Beteiligte im Insolvenzverfahren; sie werde vom Insolvenzverwalter derzeit außergerichtlich als frühere Abschlussprüferin in Anspruch genommen. Vom vorläufigen Insolvenzverwalter erstattete Gutachten gehörten nach allgemeiner Ansicht zu dem jedenfalls den Gläubigern zugänglichen Akteninhalt; das im Falle der Anwendung des § 299 Abs. 2 ZPO notwendige rechtliche Interesse ergebe sich daraus, dass sie prüfen wolle, ob sie Forderungen im Insolvenzverfahren geltend machen wolle, und zudem daraus, dass sie in Anspruch genommen werde. Mit Schriftsatz vom 25. März 2021 hat die Antragstellerin ergänzend vorgetragen, dass der Insolvenzverwalter ihr zwischenzeitlich den Entwurf einer Klage zugesandt und angekündigt habe, diese demnächst zu erheben, wenn vorab keine vergleichsweise Einigung gefunden werde; für die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Rahmenbedingungen sie vergleichsbereit sei, sei die Frage einer Inanspruchnahme der Geschäftsführung der Insolvenzschuldnerin durch den Insolvenzverwalter von wesentlicher Bedeutung. Im Rahmen eines Schadens wegen etwaiger Pflichtverletzungen seien (werthaltige) Ansprüche aufgrund desselben Interesses aus Organhaftung vorteilsausgleichend und im Hinblick auf Ansprüche auf eventuellen Ausgleich nach § 426 Abs. 1 und 2 BGB bzw. nach § 255 BGB zu berücksichtigen. Weiterhin komme eine Anspruchskürzung aufgrund Mitverschuldens der Geschäftsführer nach § 254 Abs. 1, § 31 BGB in Betracht; einen Anhaltspunkt für diese Kürzung biete die vom Insolvenzverwalter dargelegte verspätete Insolvenzantragstellung. Weiterhin streite das Gebot der Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG für sie – die Antragstellerin -, weil der Geschäftsführer der Schuldnerin als Beteiligter stets Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 1 ZPO verlangen könne. Eine Versagung der Einsicht in das Gutachten des vorläufigen Insolvenzverwalters wäre ermessensfehlerhaft, weil in einem Prozess gemäß § 143 ZPO bzw. § 432 Abs. 1 ZPO eine Beiziehung des Gutachtens beantragt werden könnte.
Die Rechtspflegerin beim Amtsgericht München hat das Begehren der Antragstellerin nach Anhörung des Insolvenzverwalters, der sich gegen die Gewährung von Akteneinsicht ausgesprochen hat, mit zwei Entscheidungen vom 30. März 2021 zurückgewiesen:
In einem Beschluss von diesem Tag hat sie dem Antrag auf Akteneinsicht nach § 299 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 4 InsO nicht stattgegeben (Unterstreichungen nur hier), weil es sich bei der Antragstellerin weder um eine Insolvenzgläubigerin noch um eine sonstige Verfahrensbeteiligte handele. Die im Beschluss enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung:weist auf die beim Amtsgericht München einzulegende sofortige Beschwerde hin.
In einem Bescheid vom selben Tag hat die Rechtspflegerin dem Antrag auf Akteneinsicht nach § 299 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 4 InsO nicht stattgegeben (Unterstreichungen nur hier). Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Antragstellerin habe weder eine Forderung zum Verfahren angemeldet noch glaubhaft vorgetragen, Inhaberin einer Forderung zu sein, aus der ihr Teilnahmerechte am Insolvenzverfahren erwachsen könnten. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass sich die Antragstellerin selbst Gegenansprüchen ausgesetzt sehe. Ein besonderes Geheimhaltungsinteresse werde selbst gegenüber Gläubigern anerkannt, wenn aus den Akten ersichtlich sei, dass der Insolvenzverwalter gegen einen Gläubiger einen Anfechtungsprozess vorbereite oder Schriftstücke einen zwischen dem Antragsteller und dem Insolvenzverwalter bereits schwebenden Rechtsstreit beträfen; erst recht müsse dies gegenüber Dritten gelten, deren Interessen denen der Gläubigergemeinschaft gegenüberzustellen seien. Soweit die Antragstellerin vortrage, dass dem Geschäftsführer der Schuldnerin jederzeit Akteneinsicht zustehe und mögliche Organhaftungsansprüche die Forderungen gegen sie selbst mindern könnten, gehe das an der Sachlage im vorliegenden Verfahren weitestgehend vorbei. Der Geschäftsführer sei am 15. Januar 2019 im Handelsregister eingetragen, am 29. Januar 2019 sei Insolvenzantrag gestellt worden; die Antragstellerin werde hingegen für Pflichtverletzungen aus den Jahren 2015 bis 2017 in Anspruch genommen. Würde hingegen ein ehemaliger Geschäftsführer, der vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommen werde, Antrag auf Akteneinsicht stellen, wäre eine auf Ausforschungsinteresse beruhende Akteneinsicht abzulehnen. Ein rechtliches Interesse sei regelmäßig gegeben, wenn die erstrebte Kenntnis vom Akteninhalt zur Abwehr von Ansprüchen erforderlich sei. Die Antragstellerin habe zwar plausibel dargelegt, dass etwaige Pflichtverletzungen eines ehemaligen Geschäftsführers zu einer Minderung der gegen sie geltend gemachten Ansprüche führen könnten, so dass ihr Interessenkreis von der Durchsetzung etwaiger Ansprüche gegen ehemalige Organe der Schuldnerin im Rahmen des Insolvenzverfahrens berührt würde; allerdings müsse mangels entsprechenden Vortrags davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin erst im Wege der Akteneinsicht Anhaltspunkte für pflichtwidriges Verhalten der ehemaligen Geschäftsführer der Schuldnerin und die etwaige Durchsetzbarkeit daraus folgender Ansprüche ermitteln wolle, was für ein Ausforschungsinteresse statt eines konkretisierten, rechtlichen Interesses spreche. Der Sachverständige sei gehalten, das Gericht bei der Erstellung des Insolvenzgutachtens mit möglichst hoher Transparenz über die Höhe und die voraussichtliche Einbringlichkeit aller Aktiva der Schuldnerin zu informieren; es wäre regelmäßig von einem prozesstaktischen Nachteil für die Insolvenzmasse auszugehen, wenn mögliche Prozessgegner von den umfangreichen Auskunftspflichten des Sachverständigen – und später Insolvenzverwalters – profitieren würden; so werde im Insolvenzverfahren die Abwehr einer Forderung des Insolvenzverwalters gerade nicht als hinreichender rechtlicher Bezug für die Gewährung von Akteneinsicht erachtet. Selbst bei Annahme eines rechtlichen Interesses wäre bei Abwägung der Interessen der Gläubigergemeinschaft und der Antragstellerin angesichts der widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen denen der Gläubigergemeinschaft der Vorzug zu geben; das Insolvenzgericht sei auch nicht gehalten, eine etwaige Entscheidung des Zivilgerichts gemäß § 143 ZPO vorwegzunehmen. Die im Bescheid enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung:weist auf den beim Bayerischen Obersten Landesgericht zu stellenden Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG hin.
Mit Schriftsatz vom 12. April 2021, bei Gericht am selben Tag eingegangen, beantragt die Antragstellerin,
die gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Beschlusses [sic!] des Amtsgerichts München vom 30.03.2021 (Az.: 1513 IN 219/19), mit dem dem Antrag der Antragstellerin vom 10./23.03.2021 auf Akteneinsicht in die Akte des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Antragsgegnerin/Schuldnerin nach § 299 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 4 InsO nicht stattgegeben wurde.
Insbesondere werde beantragt, dem Amtsgericht München aufzugeben, die erbetene Akteneinsicht zu gewähren und ihr das Gutachten des Sachverständigen im Insolvenzeröffnungsverfahren in Kopie zu übersenden,
hilfsweise das Amtsgericht München zu verpflichten, sie unter Beachtung einer dem Hauptantrag entsprechenden Rechtsauffassung des Senats zu bescheiden.
Zur Begründung führt sie in diesem Schriftsatz Folgendes aus:
Die Ablehnung der Akteneinsicht für einen am Insolvenzverfahren nicht als Insolvenzgläubiger beteiligten Dritten stelle einen Justizverwaltungsakt i. S. d. §§ 23 ff. EGGVG dar; hiergegen sei ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung statthaft, der entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung:der Rechtspflegerin an das Bayerische Oberste Landesgericht zu richten gewesen sei.
Nach § 299 Abs. 2 ZPO sei Akteneinsicht zu gewähren, wenn ein rechtliches Interesse an den gewährten Informationen glaubhaft gemacht werde. Der Bundesgerichtshof habe anerkannt, dass selbst für einen Gläubiger eines Insolvenzschuldners nach Abweisung eines Antrags auf Insolvenzeröffnung ein (insoweit vorrangiges) rechtliches Interesse an der Einsicht in die Insolvenzakten bestehe, wenn die Akteneinsicht begehrt werde um festzustellen, ob dem Antragsteller Durchgriffs- und/oder Schadensersatzansprüche gegen Dritte zustünden (unter Bezugnahme auf BGH, Beschluss vom 5. April 2006, IV AR [VZ] 1/06). Es sei insbesondere anerkannt, dass sich ein rechtliches Interesse daraus ergeben könne, dass es einen Anspruch gegen Organe der schuldnerischen Gesellschaft gebe oder dieser zumindest naheliege. Ein entsprechender Fall liege hier vor. Sollte der Insolvenzverwalter die früheren Geschäftsführer nicht in Anspruch genommen haben, obwohl diese – wie er in seiner Klage gegen sie, die Antragstellerin, vortragen lasse – nicht rechtzeitig einen Insolvenzantrag gestellt hätten, so hafteten diese (fahrlässiges Verhalten vorausgesetzt) sowohl den Alt- als auch den Neugläubigern für den diesen hierdurch entstandenen Schaden. Diese Haftung wäre gegenüber ihrer – der Antragstellerin – eventuellen Haftung wegen der Verletzung von Hinweispflichten jedenfalls im Innenverhältnis vorrangig; ihr stünden jedenfalls interne Ausgleichsansprüche nach § 426 Abs. 1 und 2 bzw. § 255 BGB gegen die jeweils verantwortlichen Geschäftsführer zu. Sie habe deshalb ein berechtigtes rechtliches Interesse an der Einsicht in die Akten des Insolvenzgerichts. Zwar stelle die Entscheidung über die Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 2 ZPO grundsätzlich eine Ermessensentscheidung dar; die von der Rechtspflegerin insoweit angestellten Erwägungen seien aber unrichtig bzw. ermessensfehlerhaft und offensichtlich durch einseitige rechtliche Ausführungen in der Stellungnahme des Insolvenzverwalters beeinflusst.
Dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung sind weder Kopien des „Antrags vom 10./23. 03. 2021“ noch der angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts München beigefügt gewesen. Auf Aufforderung haben die Antragstellervertreter Kopien ihres Akteneinsichtsgesuchs vom 10. März 2021 und ihres weiteren Schriftsatzes vom 25. März 2021 sowie des Beschlusses des Amtsgerichts München vom 30. März 2021 Zurückweisung des Antrags auf Akteneinsicht nach § 299 Abs. 1 ZPO (Unterstreichungen nur hier) vorgelegt.
Der Antragsgegner beantragt, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zu verwerfen. Zur Begründung nimmt er Bezug auf eine Stellungnahme der Leiterin der Abteilung für Vollstreckungs-, Insolvenz- und Restrukturierungsmaßnahmen des Amtsgerichts München, die diese nach Anhörung des Insolvenzverwalters abgegeben hat. Darin ist ausgeführt, dass es sich bei der Versagung der Akteneinsicht um eine Maßnahme einer Justizbehörde auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts handele; eine Gläubigerstellung der Antragstellerin sei nicht ersichtlich. Die ablehnende Entscheidung sei durch die funktionell zuständige Stelle getroffen worden; nach dem Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts München 2021 (Abschnitt B, Fachabteilung, Verwaltungsaufgaben S. 20 Nr. 16) oblägen in nicht abgeschlossenen Verfahren Entscheidungen über Akteneinsichtsgesuche nach § 299 Abs. 2 ZPO dem zuständigen Rechtspfleger. Ein rechtliches Interesse der Antragstellerin an der Akteneinsicht sei nicht gegeben. Es sei nicht ersichtlich, welches konkrete Recht im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren verletzt sein und worin der rechtliche Bezug zum Streitstoff des Insolvenzverfahrens bestehen solle. Vielmehr gehe es der Antragstellerin wohl hauptsächlich darum herauszufinden, wie die Erfolgsaussichten der Verfolgung von Ansprüchen des Insolvenzverwalters gegenüber den Prozessgegnern einzustufen seien; die Akteneinsicht werde zur Anspruchsabwehr bzw. zum Nachweis eines etwaigen Mitverschuldens benötigt. Das könne aber nicht im Sinne der Insolvenzgläubiger liegen und widerspreche den Verfahrenszielen des Insolvenzverfahrens. Die Gewährung von Akteneinsicht verstieße gegen die Grundsätze der Waffengleichheit; der Antragstellerin würde ein erheblicher Vorteil gegenüber dem Insolvenzverwalter verschafft, der keine Möglichkeit habe, in die Handakten der Antragstellerin Einsicht zu nehmen. Bei Ausübung des Ermessens sei auch zu berücksichtigen, dass nach § 1 InsO das Insolvenzverfahren der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger diene; dieses Prinzip würde konterkariert, wenn es Dritten ermöglicht würde, über die Einsicht in die Insolvenzakte Informationen zu ihrer Verteidigung gegen eine Klage des Insolvenzverwalters zu erhalten. Selbst wenn das von der Antragstellerin verfolgte Ziel als ein rechtliches Interesse i. S. d. § 299 Abs. 2 ZPO angesehen würde, träte dieses hinter das Geheimhaltungsinteresse der Insolvenzgläubiger und des Insolvenzverwalters zurück.
II.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat keinen Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Er richtet sich gegen den Bescheid der Rechtspflegerin des Amtsgerichts München vom 30. März 2021 zum Akteneinsichtsgesuch der Antragstellerin als Dritter gemäß § 299 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 4 InsO.
Zwar hat die Antragstellerin die Entscheidung, gegen die sich ihr Antrag richtet, mehrfach als Beschluss bezeichnet und damit scheinbar auf die andere Entscheidung der Rechtspflegerin vom selben Tag Bezug genommen; zudem hat sie nach Aufforderung zur Vorlage der angegriffenen Entscheidung eine Abschrift des Beschlusses des Amtsgerichts München zu ihrem Akteneinsichtsgesuch als Verfahrensbeteiligte gemäß § 299 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 4 InsO übersandt. Gleichwohl richtet sich der Rechtsbehelf nicht gegen diesen Beschluss, sondern gegen den Bescheid der Rechtspflegerin des Amtsgerichts München zum Akteneinsichtsgesuch der Antragstellerin als Dritte gemäß § 299 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 4 InsO.
Das ergibt die – auch bei Prozesshandlungen gebotene – Auslegung der Antragsschrift. So zielt die darin enthaltene Begründung ausschließlich darauf, dass der Antragstellerin zu Unrecht die Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 4 InsO verweigert worden sei, weil ein rechtliches Interesse bestehe und die Ablehnung ermessensfehlerhaft erfolgt sei; sowohl das Erfordernis des rechtlichen Interesses als auch die Eröffnung eines Ermessens sind nur Gegenstand der Regelung des § 299 Abs. 2 ZPO, nicht auch derjenigen des § 299 Abs. 1 ZPO. Zudem wird die angegriffene Entscheidung in der Antragsbegründung als Justizverwaltungsakt bezeichnet und es wird darin ausdrücklich auf die Rechtsbehelfsbelehrung:in der angegriffenen Entscheidung Bezug genommen, nach der gegen die Entscheidung Antrag auf gerichtliche Entscheidung zum Bayerischen Obersten Landesgericht gestellt werden könne; diese Belehrung ist im Bescheid, nicht aber im Beschluss enthalten. Diese Anhaltspunkte zeigen unzweifelhaft, dass der Antrag trotz des entgegenstehenden Wortlauts gegen den Bescheid der Rechtspflegerin des Amtsgerichts München vom 30. März 2021 gerichtet ist. Bestätigt wird diese Auslegung durch die Klarstellung der Antragstellerin in deren Schriftsatz vom 25. Juni 2021.
b) Der Antrag ist nach § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG statthaft, denn bei der angefochtenen Ablehnung der beantragten Akteneinsicht für die Antragstellerin als Dritte nach § 4 InsO 1. V. m. § 299 Abs. 2 ZPO handelt es sich um eine Maßnahme einer Justizbehörde auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts im Sinne der genannten Vorschrift (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2015, XII ZB 214/14, NJW 2015, 1827 Rn. 10; BayObLG, Beschluss vom 2. September 2021, 101 VA 100/21, juris Rn. 16; Lückemann in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 23 EGGVG Rn. 12 m. w. N.). Er ist auch im Übrigen zulässig, denn die Antragstellerin rügt mit dem Antrag, der form- und fristgerecht (§ 26 Abs. 1 EGGVG) bei dem gemäß § 25 Abs. 2 EGGVG i. V. m. Art. 12 Nr. 3 AGGVG zuständigen Bayerischen Obersten Landesgericht angebracht worden ist, eine Verletzung ihres subjektiven Rechts auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, § 24 EGGVG.
2. Der Antrag ist unbegründet, weil die Rechtspflegerin zu Recht die Einsicht in den Teil der Insolvenzakte „Gutachten und Bericht über die vorläufige Insolvenzverwaltung“ verweigert hat.
a) Die Gewährung von Einsicht in die vom Insolvenzgericht geführte Verfahrensakte richtet sich, soweit nicht Spezialvorschriften wie § 66 Abs. 2, § 150 Satz 2, §§ 154, 175 Abs. 1 Satz 2, § 188 Satz 2, § 194 Abs. 3 Satz 1, § 234 InsO zur Anwendung kommen, über die Verweisungsnorm des § 4 InsO nach der allgemeinen Vorschrift des § 299 ZPO. Am Verfahren nicht beteiligten Dritten kann ohne Einwilligung der Beteiligten nach § 4 InsO i. V. m. § 299 Abs. 2 ZPO nach pflichtgemäßem Ermessen Einsicht gewährt werden, wenn ein rechtliches Interesse dargetan und glaubhaft gemacht ist. Zutreffend ist das Einsichtsgesuch auf der Grundlage dieser Vorschriften verbeschieden worden.
Der Streitfall bedarf nicht der Entscheidung darüber, ob im eröffneten Verfahren jeder Insolvenzgläubiger (§§ 38, 39 InsO) kraft seiner materiellrechtlich qualifizierten Stellung und den daraus folgenden Teilnahmerechten im Verfahren die Rolle einer „Partei“, also eines Verfahrensbeteiligten, einnimmt oder (nur bzw. jedenfalls) diejenigen Gläubiger, die ihre Forderung gemäß §§ 174 ff. InsO zur Insolvenztabelle angemeldet und dadurch auf die gerichtliche Aufforderung zur Forderungsanmeldung (§ 28 Abs. 1 InsO) mit einer Verfahrenshandlung reagiert haben, sofern deren Forderung unbestritten geblieben ist oder die in § 189 InsO genannten Voraussetzungen für die Berücksichtigung bestrittener Forderungen gegeben sind (vgl. zum Streitstand BayObLG, Beschluss vom 24. Oktober 2019, 1 VA 92/19, NZI 2020, 44 Rn. 26 [juris Rn. 34]). Denn das Vorbringen der Antragstellerin ist jedenfalls nicht geeignet, die behauptete Stellung einer Insolvenzgläubigerin in tatsächlicher Hinsicht zu untermauern.
Die Antragstellerin hat lediglich angeführt, prüfen zu wollen, ob sie Forderungen im Insolvenzverfahren geltend machen wolle, ohne Tatsachen vorzutragen oder gar glaubhaft zu machen, aus denen sich Forderungen gegen die Schuldnerin ergeben könnten. Damit ist sie nicht einmal ansatzweise der Obliegenheit nachgekommen, den Sachverhalt und die daraus hergeleitete Insolvenzforderung nachvollziehbar darzustellen, die denjenigen trifft, der Akteneinsicht unter Berufung auf seine Gläubigerstellung begehrt (vgl. BayObLG NZI 2020, 44 Rn. 32 [juris Rn. 40]).
b) Gemäß § 299 Abs. 2 ZPO entscheidet über Akteneinsichtsgesuche dritter Personen der Vorstand des Gerichts. Hier hat die Präsidentin des Amtsgerichts München diese Befugnis auf die für das Insolvenzverfahren selbst zuständige Rechtspflegerin delegiert. Diese war daher zur Entscheidung berufen.
c) Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 2 ZPO ist nur zu gewähren, wenn die Beteiligten zustimmen oder sich der Antragsteller auf ein rechtliches Interesse berufen kann. Daran fehlt es vorliegend.
aa) Die Annahme eines rechtlichen Interesses setzt voraus, dass persönliche Rechte des Antragstellers durch den Gegenstand des Verfahrens, in dessen Akten Einsicht begehrt wird, berührt werden. Dabei muss sich das rechtliche Interesse aus der Rechtsordnung selbst ergeben und verlangt als Mindestbedingung ein auf Rechtsnormen beruhendes oder durch solche geregeltes gegenwärtiges Verhältnis einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache. Danach muss das vom Einsichtsgesuch betroffene Verfahren selbst oder zumindest dessen Gegenstand für die rechtlichen Belange des Antragstellers von konkreter rechtlicher Bedeutung sein (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020, IX AR [VZ] 2/19, NZI 2021, 123 Rn. 14; BayObLG NZI 2020, 491 Rn. 22 [juris Rn. 27] jeweils m. w. N.).
Zwar kann die Inanspruchnahme eines Antragstellers durch den Insolvenzverwalter unmittelbar auf dem Insolvenzverfahren beruhen und begründet dann ein rechtliches Interesse des Antragstellers an der Einsicht in die Insolvenzakten, etwa wenn Ansprüche aus Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO (vgl. BayObLG, Beschluss vom 2. September 2021, 101 VA 100/21, juris Rn. 21; Beschluss vom 3. Dezember 2019, 1 VA 70/19, juris Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 11. Januar 2021, 14 VA 15/20, NZI 2021, 274 Rn. 21) oder Ansprüche von Gesellschaftsgläubigern gegen einen Kommanditisten gemäß § 171 Abs. 2 HGB durch den Insolvenzverwalter geltend gemacht werden (vgl. BGH NZI 2021, 123 Rn. 18). Davon zu unterscheiden sind indes Ansprüche, die unabhängig vom Insolvenzverfahren in der Person des Insolvenzschuldners entstanden sind und nunmehr vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden; diese begründen kein rechtliches Interesse i. S. d. § 299 Abs. 2 ZPO (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 19. Mai 2008, 2 Va 3/08, juris Rn. 16; vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Februar 2021, 3 VA 14/19, NZI 2021, 508 Rn. 24; OLG Stuttgart, Beschluss vom 11. Januar 2021, 14 VA 15/20, NZI 2021, 274 Rn. 20 [juris Rn. 21] a. E.).
bb) Die Ansprüche, die vorliegend der Insolvenzverwalter gegen die Antragstellerin geltend macht, berühren das Insolvenzverfahren nur insoweit, als sie damit begründet werden, der im Tatsächlichen wurzelnde Anlass für jenes Verfahren, die Insolvenzreife, habe nicht erst im Jahr 2019, sondern bereits mindestens seit 2016 vorgelegen. Nur der frühere Eintritt der Insolvenzreife ist Voraussetzung für diese Ansprüche, nicht auch das Insolvenzverfahren selbst. Die Ansprüche sind – ihr Bestehen dem Grunde nach unterstellt (vgl. etwa BGH, Urt. v. 26. Januar 2017, IX ZR 285/14, BGHZ 213, 374; Gessner ZIP 2020, 544 ff.) – unabhängig vom Insolvenzverfahren entstanden und könnten grundsätzlich von der durch die Verletzung des Prüfungsauftrags geschädigten Gesellschaft auch dann geltend gemacht werden – wenngleich nicht von einem Insolvenzverwalter, sondern von der Geschäftsführung -, wenn (noch) kein Insolvenzverfahren eingeleitet worden wäre. Deshalb hat das Insolvenzverfahren selbst keinen rechtlichen, sondern nur einen tatsächlichen Bezug zu den Ansprüchen, zu deren Abwehr die Antragstellerin die Akteneinsicht begehrt. Das vermag ein rechtliches Interesse der Antragstellerin nicht zu begründen.
Ohne Erfolg beruft sich die Antragstellerin auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15. Oktober 2020, IX AR (VZ) 2/19 (NZI 2021, 123). Der dort in der Randnummer 18 angesprochene Fall ist mit der vorliegenden Gestaltung nicht vergleichbar, denn er betraf nicht Ansprüche des Insolvenzschuldners gegen einen Dritten, sondern solche der Gesellschaftsgläubiger gegen den Kommanditisten der Insolvenzschuldnerin, die nach der Sondervorschrift des § 171 Abs. 2 HGB vom Insolvenzverwalter geltend zu machen waren, wobei das rechtliche Interesse durch die Regelungen der §§ 171 f HGB und die insolvenzrechtlichen Beschränkungen, denen ein daraus hergeleiteter Anspruch unterworfen ist (vgl. BGH, Urt. v. 3. August 2021, II ZR 194/20, NJW-RR 2021, 1199 Rn. 8 m. w. N.), vermittelt wird. Die aus der Schlechterfüllung eines mit der späteren Insolvenzschuldnerin geschlossenen Vertrags resultierende Schuldnerstellung vermittelt keinen solchen rechtlichen Bezug zum Gegenstand des Insolvenzverfahrens.
Dass die Antragstellerin die Einsicht auch zur Feststellung begehrt, ob ihr Delikts- oder Gesamtschuldnerausgleichsansprüche gegen die Organe oder Gesellschafter der Schuldnerin zustehen, vermag ein rechtliches Interesse ebenfalls nicht zu begründen, sondern stünde lediglich einem anderweitig begründeten rechtlichen Interesse nicht entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2006, IV AR [VZ] 1/06, NZI 2006, 472 Rn. 19).
d) Da es bereits an einem rechtlichen Interesse fehlt, kann dahinstehen, ob die von der Rechtspflegerin hilfsweise vorgenommene Ermessensausübung fehlerfrei erfolgt ist.
III.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil die Antragstellerin die gerichtlichen Kosten des Verfahrens bereits nach den gesetzlichen Bestimmungen zu tragen hat (§ 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 19 GNotKG i. V. m. § 22 Abs. 1 GNotKG).
Die nach § 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 19, § 3 Abs. 1 und 2 GNotKG i. V. m. Nr. 15300 KV GNotKG erforderliche Geschäftswertfestsetzung beruht auf § 36 Abs. 1 GNotKG. Der Senat bemisst den Geschäftswert auf ein Zehntel des Werts der Ansprüche, zu deren Abwehr die Antragstellerin die Akteneinsicht begehrt (vgl. BayObLG, Beschluss vom 27. Januar 2021, 101 VA 168/20, juris Rn. 10, 17), der sich auf 6.568.180,00 € beläuft.
Die Voraussetzungen, unter denen gemäß § 29 Abs. 2 EGGVG die Rechtsbeschwerde zuzulassen ist, liegen nicht vor. Insbesondere besteht der Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 29 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EGGVG) auch nicht in Ansehung des von der Antragstellerin angeführten Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. Juni 2016, 20 VA 20/15. In jenem Verfahren leitete die dortige Antragstellerin ihr rechtliches Interesse daraus her, dass sie vom Insolvenzverwalter aufgrund einer Insolvenzanfechtung in Anspruch genommen wurde; eine vergleichbare Gestaltung liegt hier nicht vor.


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