Steuerrecht

9 B 19/21

Aktenzeichen  9 B 19/21

Datum:
21.12.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:211221B9B19.21.0
Spruchkörper:
9. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 17. März 2021, Az: 5 A 812/19, Beschlussvorgehend VG Frankfurt, 26. Februar 2019, Az: 6 K 6803/17.F

Tenor

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. März 2021 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands für das Beschwerdeverfahren wird auf 325,68 € festgesetzt.

Gründe

1
Die auf sämtliche Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
2
1. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil dieser Zulassungsgrund nicht in einer den Begründungsanforderungen von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt ist. Soweit der Kläger die grundsätzliche Bedeutung darin sieht, dass das erstinstanzliche Urteil von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 28 GG abweiche, formuliert er schon keine für die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts entscheidungserhebliche konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage, die im Revisionsverfahren geklärt werden könnte.
3
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen, weil das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht.
4
Eine solche Divergenz liegt nur vor, wenn das Berufungsgericht sich in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat. Daran fehlt es.
5
Nach Ansicht des Klägers weicht das Berufungsgericht im Hinblick auf den Maßstab der Fristenkontrolle vom Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Januar 2008 – 6 B 51.07 – (Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 261 Rn. 2 f.) ab.
6
Danach ist der Anwalt gehalten, Fehlerquellen bei der Behandlung von Fristsachen soweit wie möglich auszuschließen. Zur Vermeidung der Fristversäumung aufgrund von Fehlern, die bei der Ermittlung und der Eingabe der zutreffenden Telefaxnummer leicht unterlaufen können, hat der Anwalt die möglichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen zu treffen. Hierzu muss er für eine Büroorganisation sorgen, die eine Überprüfung der per Telefax übermittelten Schriftsätze auch auf die Verwendung einer zutreffenden Empfängernummer gewährleistet (BVerwG, Beschluss vom 9. Januar 2008 – 6 B 51.07 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 261 Rn. 2 f.).
7
Die Abweichung von diesem Rechtssatz stützt der Kläger darauf, dass der Verwaltungsgerichtshof der Sache nach den Rechtssatz aufstelle, der Rechtsanwalt müsse in jedem Einzelfall eine entsprechende konkrete Anweisung gegeben haben, während nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts die Schaffung einer geeigneten Büroorganisation genüge. Ein solcher Rechtssatz ist der Berufungsentscheidung jedoch nicht zu entnehmen. Vielmehr geht das Berufungsgericht offenbar davon aus, dass im vorliegenden Einzelfall einer Vertretung des für die fristgerechte Versendung von Schriftsätzen per Telefax und deren Kontrolle zuständigen Assistenten die zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen einer ordnungsgemäßen Büroorganisation eine konkrete Weisung erfordert hätten, mit der die Vertretung zur Kontrolle der Empfangsnummer angehalten worden wäre. Ein abstrakter Rechtssatz des Berufungsgerichts, nach dem im Widerspruch zu dem vom Kläger genannten Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts für jede Übermittlung von Schriftsätzen per Telefax eine Einzelweisung erforderlich sein soll, lässt sich daraus nicht ableiten.
8
Soweit der Kläger anders als der Verwaltungsgerichtshof die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Büroorganisation als erfüllt ansieht, macht er lediglich eine fehlerhafte Anwendung eines Rechtssatzes geltend; dies kann eine Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht rechtfertigen (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).
9
3. Die Revision kann auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zugelassen werden, der vorliegt und auf dem die Entscheidung beruhen kann.
10
a) Kein Verfahrensmangel liegt darin, dass das Berufungsgericht dem Kläger keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO gewährt hat.
11
Dabei kann dahinstehen, ob der Verwaltungsgerichtshof verfahrensfehlerhaft davon ausgegangen ist, dass der Wiedereinsetzungsantrag bereits nach § 60 Abs. 3 VwGO unzulässig war, weil er erst später als ein Jahr seit dem Ende der versäumten Berufungsbegründungsfrist gestellt wurde und die Antragstellung vor Ablauf der Jahresfrist nicht infolge höherer Gewalt unmöglich war. Insbesondere braucht nicht entschieden zu werden, ob die Wiedereinsetzung deshalb nicht ausgeschlossen war, weil die Ursache für die Versäumung der Jahresfrist in der Sphäre des Gerichts liegt (BVerwG, Beschluss vom 2. April 1992 – 5 B 50.92 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 177 S. 50; Urteil vom 25. April 2012 – 8 C 18.11 – BVerwGE 143, 50 Rn. 20), soweit es den Kläger auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist erst nach 15 Monaten hingewiesen hat, oder ob § 60 Abs. 3 VwGO nach seinem Sinn und Zweck mangels unangemessener Verfahrensverzögerung nicht greift. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat die Möglichkeit der Wiedereinsetzung nicht nur nach § 60 Abs. 3 VwGO, sondern auch nach § 60 Abs. 1 VwGO verneint. Dies ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
12
aa) War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm nach § 60 Abs. 1 VwGO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Verschuldet ist eine Fristversäumung, wenn der Beteiligte nicht die Sorgfalt hat walten lassen, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den gesamten Umständen zuzumuten ist (BVerwG, Beschluss vom 3. Dezember 2001 – 4 BN 32.01 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 241 S. 32 m.w.N.). Nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO steht dabei das Verschulden des Prozessbevollmächtigten dem Verschulden des Beteiligten gleich. Hingegen muss sich ein Beteiligter ein Verschulden von Hilfskräften, derer sich sein Prozessbevollmächtigter bedient, nicht zurechnen lassen (BVerwG, Beschluss vom 4. August 2000 – 3 B 75.00 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 235 S. 23). Von einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten ist daher dann nicht auszugehen, wenn der Prozessbevollmächtigte einfache technische Verrichtungen wie die Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax und die Auswahl der richtigen Telefaxnummer einer zuverlässigen, hinreichend geschulten und überwachten Bürokraft überlässt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Prozessbevollmächtigte Fehlerquellen bei der Behandlung von Fristsachen soweit wie möglich ausschließt. Zur Vermeidung der Fristversäumung aufgrund von Fehlern, die bei der Ermittlung und der Eingabe der zutreffenden Telefaxnummer leicht unterlaufen können, hat der Prozessbevollmächtigte die möglichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen zu treffen. Hierzu muss er durch entsprechende Anweisungen für eine Büroorganisation sorgen, die eine Überprüfung der per Telefax übermittelten Schriftsätze auch auf die Verwendung einer zutreffenden Empfängernummer gewährleistet. Bei der erforderlichen Ausgangskontrolle ist in der Regel ein Sendebericht auszudrucken und auf die Richtigkeit der verwendeten Empfängernummer zu überprüfen, wobei die Überprüfung insbesondere anhand eines Abgleichs mit einem aktuellen Verzeichnis oder einer anderen geeigneten Quelle sicherzustellen hat, dass die Faxnummer zutreffend ermittelt wurde (BVerwG, Beschluss vom 9. Januar 2008 – 6 B 51.07 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 261 Rn. 2 f.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Januar 2000 – II ZB 14/99 – NJW 200o, 1043 ; BFH, Urteil vom 24. April 2003 – VII R 47/02 – BFHE 202, 44 ).
13
Dies zugrunde gelegt, hat der Kläger die Berufungsbegründungsfrist nicht ohne Verschulden versäumt. Zwar hatte die Bürokraft, die die Berufungsbegründungsschrift versandt hat, nach der anwaltlichen Versicherung des Prozessbevollmächtigten im Wiedereinsetzungsantrag vom 30. Oktober 2020 bisher zuverlässig gearbeitet. Regelmäßige Kontrollen hatten keinen Anlass zu Beanstandungen ergeben. Der anwaltlichen Versicherung lässt sich jedoch mangels Angaben zur Qualifikation dieser Mitarbeiterin schon nicht entnehmen, dass sie hinreichend geschult war. Außerdem wird nicht ersichtlich, dass der Prozessbevollmächtigte alle möglichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen getroffen hatte, um für eine Büroorganisation zu sorgen, die den vorgenannten Anforderungen genügt.
14
Die gelebte Praxis im Referat des Prozessbevollmächtigten, wonach der dort angestellte Assistent vor der Versendung von Schriftsätzen die Adresse und die Faxnummer des Gerichts prüft und sich die Kontrolle der Faxnummer auf die Vollständigkeit der Übermittlung, die Richtigkeit der dafür maßgeblichen Faxnummer und einen Abgleich zwischen den ermittelten, übertragenen und eingegebenen Faxnummern erstreckt sowie das Vertrautsein der den Assistenten vertretenden Büroangestellten mit diesen Gepflogenheiten gewährleisten nicht, dass im Vertretungsfall auch eine weitere Bürokraft, die wie hier zur Unterstützung herangezogen wird, die der gelebten Praxis entsprechenden Überprüfungen vornimmt. Organisatorische Vorkehrungen, die dies sicherstellen könnten, etwa eine verbindliche Anleitung für den Versand fristgebundener Schriftsätze per Telefax, die vertretungshalber im Referat des Prozessbevollmächtigten eingesetzten Mitarbeitern zugänglich gemacht wird, nennt die anwaltliche Versicherung nicht.
15
Ausreichende organisatorische Vorkehrungen sind auch nicht dargelegt, soweit der Prozessbevollmächtigte in seinem Schriftsatz vom 10. Dezember 2020 klargestellt hat, dass auch die weitere Assistentin, die die Berufungsbegründungsschrift versandt hat, mit dem Procedere vertraut gewesen sei, weil sie bereits zuvor im Referat des Prozessbevollmächtigten gearbeitet habe und dabei Mahnschreiben versandt und Schriftsätze an den Europäischen Gerichtshof vorbereitet habe. Denn aus diesen Ausführungen geht nicht hervor, dass die Assistentin mit der Versendung fristgebundener Schreiben per Telefax befasst war und daher auch genügende Kenntnis von der Notwendigkeit einer sorgfältigen Kontrolle der Faxnummern hatte.
16
Ebenso wenig zeigt der Vortrag im Schriftsatz vom 16. Februar 2021, die gelebte Prüfungspraxis beruhe auch darauf, dass den Assistenten im Lauf der Zeit in verschiedenen Fällen die Anweisung erteilt worden sei, die Richtigkeit der Faxnummern zu prüfen, eine Büroorganisation auf, die die Verwendung der richtigen Faxnummer hinreichend gewährleistet. Denn die mündliche Anweisung einzelner Mitarbeiter im Einzelfall stellt nicht sicher, dass sich die darauf beruhende gelebte Praxis auch einer wie hier nur vertretungsweise im Referat des Prozessbevollmächtigten tätigen Büroangestellten erschließt und von ihr beachtet wird. Dass der Mitarbeiterin, die die Berufungsbegründungsschrift versandt hat, selbst eine solche Weisung erteilt worden wäre, trägt der Kläger nicht vor.
17
bb) Der Kläger hat die Berufungsbegründungsfrist auch nicht deshalb unverschuldet versäumt, weil das Verwaltungsgericht die bei ihm fristgerecht eingegangene Berufungsbegründung nicht rechtzeitig an den Verwaltungsgerichtshof weitergeleitet hat.
18
Aus der auf dem Gebot eines fairen Verfahrens beruhenden Fürsorgepflicht des erstinstanzlichen Gerichts für die Prozessbeteiligten folgt, dass es fristgebundene Schriftsätze des Rechtsmittelverfahrens, die bei ihm eingereicht werden, im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterleiten muss. Die Weiterleitung hat ohne schuldhaftes Zögern zu erfolgen. Allerdings braucht das unzuständige Gericht den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten nicht die Verantwortung für die Einhaltung der Formalien abzunehmen. Mit der Formulierung “ordentlicher Geschäftsgang” ist deshalb gemeint, dass die Vorinstanz zu Eilmaßnahmen rechtlich nicht verpflichtet ist. So muss sie weder den Beteiligten, der seinen Schriftsatz irrtümlich bei ihr eingereicht hat, durch Telefonat oder Telefax auf diesen Irrtum hinweisen, noch muss sie den Schriftsatz selbst per Telefax an das Rechtsmittelgericht weiterleiten (BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 2003 – 4 B 83.02 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 248 S. 46 f. m.w.N.).
19
Danach scheidet eine Wiedereinsetzung wegen verzögerter Weiterleitung der Berufungsbegründung aus. Selbst wenn das Verwaltungsgericht den am 1. Juli 2019, dem letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist, um 16.10 Uhr per Telefax eingegangenen Schriftsatz noch am selben Tag per Post weitergeleitet hätte, wäre er nicht mehr fristgerecht beim Berufungsgericht eingegangen. Die Frist hätte vielmehr nur durch eine Weiterleitung per Telefax gewahrt werden können. Dazu war das Verwaltungsgericht jedoch nicht verpflichtet.
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b) Verfahrensfehlerhaft ist es auch nicht, dass das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag nicht im Tenor der Berufungsentscheidung abgelehnt hat. Denn über die Wiedereinsetzung kann nicht nur im Tenor, sondern auch in den Entscheidungsgründen entschieden werden, soweit diese deutlich machen, dass und warum die Wiedereinsetzung gewährt oder abgelehnt wird (vgl. etwa VGH Mannheim, Urteil vom 28. Mai 1980 – 9 S 114/80 – DÖV 1981, 228 ; Bier/Steinbeiß, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Juli 2021, § 60 Rn. 74; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 60 Rn. 43; Peters, in: Posser/Wolff, VwGO, Stand Oktober 2021, § 6o Rn. 41; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 60 Rn. 38). Diesen Anforderungen genügt die Berufungsentscheidung.
21
c) Die Revision ist auch nicht wegen einer Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zuzulassen, nach dem jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren verhandelt wird.
22
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist hier nicht anwendbar. Denn um Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen handelt es sich nicht bei Streitigkeiten aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts, zu denen insbesondere Steuerstreitigkeiten und damit auch Klagen gehören, die sich wie im vorliegenden Fall gegen einen Grundsteuerbescheid richten (EGMR, Urteile vom 12. Juli 2001 – 44759/98, Ferrazini – juris Rn. 48 und vom 13. Juli 2006 – 38033/02, Stork – NVwZ 2007, 1035 Rn. 27; BFH, Urteil vom 27. April 2016 – X R 1/15 – BFHE 253, 306 Rn. 31).
23
d) Soweit der Kläger einen Verfahrensmangel aus einer Vorfestlegung der Berichterstatterin ableitet, liegt auch eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vor.
24
Danach haben die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens nicht nur Anspruch auf den gesetzlichen Richter, der sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergibt, sondern auch darauf, dass sie nicht vor einem Richter stehen, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt. Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines Richters sprechen, berührt daher die den Verfahrensbeteiligten durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eingeräumte prozessuale Rechtsstellung (BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. April 2011 – 1 BvR 2411/10 – NJW 2011, 2191 ). Dem Schutz dieses verfassungsrechtlich geschützten Anspruchs dienen die Vorschriften der §§ 41 bis 49 ZPO über die Ausschließung und Ablehnung von Richtern, die im Verwaltungsprozess ergänzt durch § 54 Abs. 2 und 3 VwGO nach § 54 Abs. 1 VwGO entsprechend gelten. Letzter Zeitpunkt für die Geltendmachung von Ablehnungsgründen ist allerdings der vollständige Abschluss der Instanz (BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. April 2011 – 1 BvR 2411/10 – NJW 2011, 2191 ). Nach Abschluss der Berufungsinstanz kann daher die Besorgnis der Befangenheit der dort entscheidenden Richter nicht mehr geltend gemacht werden. Das folgt aus § 138 Nr. 2 VwGO, nach dem ein Verfahrensfehler nur dann gegeben ist, wenn ein Richter an der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war. Der Verfahrensfehler ist demnach nur gegeben, wenn ein Ablehnungsgesuch in der Vorinstanz tatsächlich Erfolg gehabt hat. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn sich die Gründe für die Besorgnis der Befangenheit erst aus den Gründen der abschließenden Entscheidung ergeben (BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 2016 – 2 B 18.15 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 77 Rn. 38 m.w.N.).
25
aa) Soweit der Kläger sich zur Begründung einer Vorfestlegung der Berichterstatterin auf deren Vorgehen bis zum Erlass des die Berufung verwerfenden Beschlusses stützt, liegt ein Verfahrensmangel danach nicht vor. Denn der Kläger hat die Berichterstatterin bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens nicht nach § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 1 ZPO abgelehnt, obwohl er sich mit dem nunmehr gegen ihre Unvoreingenommenheit ins Feld geführten Verhalten in seinen Schriftsätzen vom 15. Januar 2021, 29. Januar 2021 und 16. Februar 2021 auseinandergesetzt hat.
26
bb) Der Kläger macht darüber hinaus allerdings geltend, die vorzeitige Festlegung der Berichterstatterin zeige sich auch im Verwerfungsbeschluss. Auch insoweit liegt jedoch keine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor.
27
Zwar kommt in Fällen, in denen sich die Besorgnis der Befangenheit erst aus den Gründen der abschließenden Entscheidung ergibt, ausnahmsweise der Verfahrensfehler der nicht ordnungsgemäßen Besetzung des erkennenden Gerichts nach § 138 Nr. 1 VwGO in Betracht. Voraussetzung dafür ist aber, dass der Richter der Vorinstanz tatsächlich und so eindeutig die gebotene Distanz und Neutralität hat vermissen lassen, dass jede andere Würdigung als die einer Besorgnis der Befangenheit willkürlich erscheint (BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 2016 – 2 B 18.15 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 77 Rn. 38). Daran fehlt es.
28
Nach Ansicht des Klägers zeigt sich die Voreingenommenheit der Berichterstatterin darin, dass der die Berufung verwerfende Beschluss ohne sachliche Rechtfertigung die Ausführungen des Klägers zu § 60 Abs. 3 VwGO negiere und den anwaltlich versicherten Sachverhalt als streitig oder abweichend darstelle oder ganz ausblende.
29
Abgesehen davon, dass nicht jeder Verfahrensfehler, der einem Richter unterläuft, die Annahme der Befangenheit tragen kann, sofern nicht weitere Umstände hinzutreten, die diese Annahme rechtfertigen, weil sie die beanstandete Entscheidung als willkürlich und auf sachfremden Erwägungen beruhend erscheinen lassen (BVerwG, Beschlüsse vom 30. September 2015 – 2 AV 2.15 – Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 79 Rn. 13 und vom 14. Juni 2016 – 4 B 45.15 – juris Rn. 8), zeigt der Kläger keine Gesichtspunkte auf, die so eindeutig auf eine Befangenheit hindeuten, dass ihre Verneinung willkürlich wäre.
30
aaa) Dies gilt zunächst, soweit der Kläger geltend macht, das Berufungsgericht habe seine Ausführungen zu § 60 Abs. 3 VwGO in der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vom 30. Oktober 2020 negiert.
31
Dass das Berufungsgericht ausdrücklich davon ausgeht, es sei nicht vorgetragen, dass dem Kläger die Stellung des Wiedereinsetzungsantrags innerhalb der Jahresfrist des § 60 Abs. 3 VwGO wegen höherer Gewalt unmöglich gewesen sei, lässt nicht eindeutig erkennen, dass der Verwaltungsgerichtshof es an der gebotenen Neutralität hat fehlen lassen.
32
Zwar berücksichtigt das Berufungsgericht die Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 29. Januar 2021 nicht, wonach dem Umstand, dass die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist vom Gericht erst nach mehr als einem Jahr bemerkt worden sei, bei der Auslegung von § 60 Abs. 3 VwGO zu seinen Gunsten Rechnung getragen werden müsse. Angesichts dessen, dass das Berufungsgericht Wiedereinsetzung nicht nur nach § 60 Abs. 3 VwGO, sondern vor allem war auch, wie ausgeführt, im Ergebnis zutreffend nach § 60 Abs. 1 VwGO als ausgeschlossen angesehen hat, liegt darin aber kein Gesichtspunkt, aus dem sich eindeutig auf eine Voreingenommenheit der Berichterstatterin schließen lässt.
33
bbb) Dass der Beschluss des Berufungsgerichts den anwaltlich versicherten Sachverhalt nicht als feststehend im Indikativ, sondern als Vortrag des Klägerbevollmächtigten in indirekter Rede wiedergegeben hat, deutet ebenfalls nicht auf eine Befangenheit der Berichterstatterin hin.
34
Entgegen der Ansicht des Klägers hat das Gericht den anwaltlich versicherten Sachverhalt schon nicht unbesehen seiner Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zugrunde zu legen. Ob die für die Glaubhaftmachung der Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags nach § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO erforderliche überwiegende Wahrscheinlichkeit vorliegt, ist vielmehr eine Frage der freien richterlichen Würdigung des gesamten Vorbringens (§ 122 Abs. 1 i.V.m. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO; vgl. BGH, Beschluss vom 27. September 2016 – XI ZB 12/14 – NJW-RR 2017, 308 Rn. 12 zu dem nach § 173 Satz 1 VwGO auch für die Wiedereinsetzung nach § 60 VwGO geltenden § 294 ZPO; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 60 Rn. 34). Im Übrigen hat das Berufungsgericht den anwaltlich vorgetragenen Sachverhalt inhaltlich nicht in Zweifel gezogen, sondern als nicht ausreichend für eine unverschuldete Fristversäumnis bewertet.
35
ccc) Das Berufungsgericht hat auch nicht den Vortrag des Klägerbevollmächtigten, die betreffenden Büroangestellten hätten bisher zuverlässig gearbeitet, in einer auf eine Befangenheit der Berichterstatterin hindeutenden Weise rechtsfehlerhaft ausgeblendet und unberücksichtigt gelassen.
36
Zwar hat das Berufungsgericht diesen Vortrag nicht ausdrücklich wiedergegeben. Es hat aber bei seiner Prüfung die Zuverlässigkeit der Büromitarbeiterinnen unterstellt und das Verschulden nicht mit einer mangelnden Zuverlässigkeit der Büroangestellten, sondern damit begründet, dass der Prozessbevollmächtigte nicht vorgetragen habe, Weisungen zur Kontrolle der Empfängernummer erteilt zu haben.
37
ddd) Eine Befangenheit der Berichterstatterin lässt sich schließlich nicht aus der Formulierung des Berufungsgerichts ableiten, der Vertretung des Assistenten des Klägerbevollmächtigten sei dessen gelebte Praxis “bekannt” gewesen. Zwar weicht dies von der Formulierung des Klägervortrags ab, nach dem die Vertreterin mit der Praxis des Assistenten “vertraut” war. Abgesehen davon, dass sich diese Formulierungen allenfalls in Nuancen unterscheiden, war dies auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, nach der die Wiedereinsetzung nach § 60 Abs. 1 VwGO am Fehlen einer Weisung zur Kontrolle der Empfängernummer scheiterte, für seine Entscheidung ohne Bedeutung.
38
e) Die Berufungsentscheidung verletzt allerdings den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) und den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), soweit der Kläger rügt, das Berufungsgericht habe seine Ausführungen zur höheren Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 3 VwGO aktenwidrig negiert. Auch dies rechtfertigt jedoch nicht die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
39
aa) Der Anspruch der Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, deren Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht dieser Pflicht nachgekommen ist. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Die fehlende Bescheidung des Vorbringens von Beteiligten in den Entscheidungsgründen lässt nur dann auf dessen Nichtberücksichtigung schließen, wenn dieses Vorbringen den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage von zentraler Bedeutung für das Verfahren betrifft und nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert ist (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 29. Oktober 2009 – 9 B 41.09 – juris Rn. 6 m.w.N.) oder wenn die Entscheidung zu zentralen rechtlichen Gesichtspunkten im Vortrag eines Beteiligten keine nähere Auseinandersetzung in den Entscheidungsgründen und auch keinen Hinweis darauf enthält, weshalb diese Argumente nach Ansicht des Gerichts nicht entscheidungserheblich sind (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 – 8 C 37.01 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 109 und Beschluss vom 4. Juli 2008 – 3 B 18.08 – juris Rn. 10). Dies zugrunde gelegt, hat das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.
40
Soweit das Berufungsgericht ausführt, es sei nicht vorgetragen, dass dem Kläger die Stellung des Wiedereinsetzungsantrags innerhalb der Jahresfrist nach § 60 Abs. 3 VwGO infolge höherer Gewalt nicht möglich gewesen sei, setzt es sich mit Klägervorbringen nicht auseinander, das eine zentrale und für das Berufungsgericht maßgebliche Frage des Rechtsstreits betrifft, ohne zu erkennen zu geben, warum dieses Vorbringen aus seiner Sicht nicht entscheidungserheblich ist.
41
bb) Darin liegt zugleich ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Eine Verletzung dieses Grundsatzes kommt in Betracht, wenn das Tatsachengericht entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt (BVerwG, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 8 PKH 8.11 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 72 Rn. 3 m.w.N.). Aktenwidrigkeit setzt dabei einen zweifelsfreien, also ohne weitere Beweiserhebung offensichtlichen Widerspruch zwischen einer Feststellung der Vorinstanz und dem Akteninhalt voraus (BVerwG, Beschlüsse vom 16. März 1999 – 9 B 73.99 – Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 7 S. 5 f. und vom 29. Juni 2015 – 8 B 67.14 – juris Rn. 8 m.w.N.).
42
Ein solcher Widerspruch liegt hier vor. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Kläger nicht vorgetragen, dass ihm die Stellung des Wiedereinsetzungsantrags innerhalb der Jahresfrist infolge höherer Gewalt nicht möglich war, obwohl der Kläger hierzu Ausführungen gemacht hat.
43
cc) Weder der Gehörsverstoß noch die Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes rechtfertigen allerdings die Zulassung der Revision.
44
Beide Verfahrensmängel betreffen ausschließlich die Verneinung des Vorliegens von höherer Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 3 VwGO. Das Berufungsgericht hat die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung jedoch – wie ausgeführt – auch wegen des Nichtvorliegens der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen nach § 60 Abs. 1 VwGO verneint und seine Entscheidung damit auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt. In einem solchen Fall kann die Revision aber nur zugelassen werden, wenn gegenüber jeder der Begründungen ein durchgreifender Revisionszulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 13. Oktober 2020 – 2 B 57.20 – juris Rn. 4 m.w.N.). Daran fehlt es hier.
45
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.


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