Steuerrecht

Entstehung eines Haftungsanspruchs – Begründung einer Insolvenzforderung

Aktenzeichen  VII R 38/19

Datum:
19.1.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BFH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BFH:2021:U.190121.VIIR38.19.0
Normen:
§ 5 AO
§ 35 AO
§ 69 AO
§ 125 AO
§ 130 Abs 1 AO
§ 191 AO
§ 38 InsO
§ 87 InsO
§ 301 InsO
Spruchkörper:
7. Senat

Leitsatz

1. NV: Die Rücknahme eines Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 AO kommt auch in Betracht, wenn dieser nichtig ist.
2. NV: Für die insolvenzrechtliche Begründung einer Haftungsforderung kommt es nicht auf die zugrunde liegende Steuerschuld an, sondern darauf, ob die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begangen wurde (vgl. BFH-Urteil vom 12.06.2018 – VII R 2/17).
3. NV: Die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung bestimmt sich nach dem Inhalt und der Auslegung des Haftungsbescheids, dessen Wirksamkeit im Streit steht.

Verfahrensgang

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 24. September 2019, Az: 3 K 269/19, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 24.09.2019 – 3 K 269/19 insoweit aufgehoben, als der Klage stattgegeben wurde.
Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.
Die Revision des Klägers wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.
1
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) verpflichtet ist, einen gegen den Kläger, Revisionsbeklagten und Revisionskläger (Kläger) gerichteten Haftungsbescheid nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) zurückzunehmen.
2
Der Kläger, über dessen Vermögen am …2010 das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, war nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) faktischer Geschäftsführer der Firma … Ltd. Nachdem die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen der Ltd. ohne Erfolg geblieben war, nahm das FA den Kläger mit Haftungsbescheid vom …2014 für Steuerschulden der Ltd. (Umsatzsteuer 2008 und 2009, Körperschaftsteuer 2008 und 2009, jeweils zuzüglich Nebenleistungen) in Höhe von insgesamt … € in Anspruch. In dem Haftungsbescheid führte das FA aus, die Haftungsforderungen seien nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden und unterlägen daher nicht der Restschuldbefreiung. Die rückständigen Steueransprüche beruhten auf Festsetzungen im Schätzungsweg gemäß § 162 AO, weil die Jahressteuererklärungen für 2008 und 2009 nicht eingereicht worden seien. Die schuldhafte Nichtabgabe der Steuererklärungen habe die verspäteten Steuerfestsetzungen bewirkt. Die sich aus den Schätzungsfestsetzungen ergebenden Nachzahlungen habe der Kläger nicht an das FA entrichtet. Durch die Verletzung der Zahlungspflicht habe er die Nichterfüllung der Steueransprüche und die Entstehung von Säumniszuschlägen bewirkt.
3
Der Haftungsbescheid wurde laut Zustellungsurkunde am …2014 in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten des Klägers eingelegt.
4
Mit Schriftsatz vom …2015 erhob der Kläger Einspruch gegen nachfolgende Vollstreckungsmaßnahmen. Zur Begründung trug er vor, dass ihm die der Vollstreckung zugrunde liegenden Forderungen nicht bekannt seien und er keine Bescheide erhalten habe. Daraufhin übersandte das FA dem Kläger den oben genannten Haftungsbescheid mit einfachem Brief vom …2015 in Kopie.
5
Am …2017 beantragte der Kläger die Aufhebung des Haftungsbescheids mit der Begründung, dass ihm dieser nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form bekanntgegeben worden sei. Zudem seien Vollstreckungsmaßnahmen nicht zulässig, weil die entsprechenden Forderungen nur gegen die Insolvenzmasse im Insolvenzverfahren über sein Vermögen durch Anmeldung zur Insolvenztabelle hätten geltend gemacht werden können. Der Erlass eines Haftungsbescheids für einen Zeitraum, der durch ein Insolvenzverfahren erfasst sei, führe zur Nichtigkeit des Bescheids.
6
Das FA lehnte den Antrag des Klägers mit Schreiben vom …2018 ab. Den dagegen gerichteten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom …2019 mit der Begründung zurück, der Kläger habe schuldhaft die Steuerentrichtungspflicht verletzt, indem er die am …2011 fällige Umsatz- und Körperschaftsteuer für das Jahr 2008 sowie die am …2011 fällige Umsatz- und Körperschaftsteuer für das Jahr 2009 nicht aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Ltd. entrichtet habe. Weil die Steuern erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers fällig gewesen seien, seien auch die Haftungsansprüche erst nach Insolvenzeröffnung begründet gewesen.
7
Die Klage hatte Erfolg, soweit der Haftungsbescheid die Steuerschulden für den Veranlagungszeitraum 2008 betraf. Das FG urteilte, der Haftungsbescheid sei insoweit nach § 130 Abs. 1 AO aufzuheben, weil er bezogen auf das Streitjahr 2008 an einem schwerwiegenden Mangel leide, der zu seiner Teilnichtigkeit gemäß § 125 Abs. 1 und 4 AO führe. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, die Insolvenzforderungen seien, dürften nach Insolvenzeröffnung nur nach den Vorschriften der Insolvenzordnung (InsO) geltend gemacht werden. Für die insolvenzrechtliche Begründung einer Haftungsforderung komme es nicht auf die zugrunde liegende Steuerschuld, sondern darauf an, ob die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung, die die Haftungsinanspruchnahme begründe, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begangen worden sei (Hinweis auf Senatsurteil vom 12.06.2018 – VII R 2/17, BFH/NV 2019, 6). Im Streitfall sei auf die Nichtabgabe der Steuererklärungen abzustellen, weil der Haftungsanspruch mit der ersten Pflichtverletzung entstehe. Da die Steuererklärungen für den Veranlagungszeitraum 2008 bis zum 31.05.2009 abzugeben gewesen wären, sei der Haftungsanspruch betreffend die Steuerschuld 2008 als Insolvenzforderung zu qualifizieren.
8
Hiergegen richten sich die Revisionen des FA und des Klägers.
9
Das FA führt aus, das FG habe festgestellt, dass der Kläger faktischer Geschäftsführer der Ltd. gewesen sei; hieran sei der erkennende Senat nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden. Allerdings habe das FG zur Begründung des Haftungsanspruchs für den Besteuerungszeitraum 2008 auf eine Pflichtverletzung abgestellt, auf die der Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung nicht gestützt worden sei. In dem Fall des Bundesfinanzhofs (BFH) mit dem Az. VII R 2/17 habe die frühestmögliche Pflichtverletzung nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gelegen, so dass sich die streitentscheidende Frage dort nicht gestellt habe. Der Erlass eines Haftungsbescheids stehe im Ermessen des FA, das sich auch auf die Frage erstrecke, ob der Haftungsschuldner für eine oder mehrere Pflichtverletzungen in Anspruch genommen werde. Im Rahmen dieser Ermessensausübung habe das FA in seiner Einspruchsentscheidung allein auf die schuldhafte Verletzung der Steuerentrichtungspflicht bei Fälligkeit der Steuern abgestellt. Die Begründung einer Ermessensentscheidung könne bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung angepasst werden (Senatsurteil vom 08.11.1994 – VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657). Kämen mehrere Pflichtverletzungen in Betracht, sei nicht zwingend die zeitlich zuerst eingetretene Pflichtverletzung maßgeblich. Es könne dahinstehen, ob ggf. auch eine Pflichtverletzung des Klägers durch Nichtabgabe der Steuererklärungen vorgelegen habe.
10
Das FA beantragt,
1.   
das Urteil der Vorinstanz aufzuheben, soweit der Klage stattgegeben worden ist, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen;
2.   
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
11
Der Kläger beantragt,
1.  
die Revision des FA zurückzuweisen und
2.   
das Urteil der Vorinstanz aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen wurde, und das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom …2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom …2019 zu verpflichten, den Haftungsbescheid auch im Übrigen zurückzunehmen.
12
Der Kläger bestreitet, faktischer Geschäftsführer der Ltd. gewesen zu sein. Die von ihm mit dem Zusatz “i.A.” gezeichneten Erklärungen seien sämtlich von seinem Bruder, dem Geschäftsführer der Ltd., beauftragt und autorisiert gewesen. Er sei daher als Bote und nicht als Vertreter tätig gewesen.
13
Für die insolvenzrechtliche Zuordnung komme es nicht auf die Pflichtverletzung, sondern auf die Steuerschuld selbst an. Es sei nicht relevant, ob der Haftungsanspruch in einen Bescheid münde oder nicht; denn dieser konkretisiere lediglich den bereits entstandenen Anspruch.


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