Strafrecht

Abschiebungshaftsache: Erforderlichkeit eines staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens für die Abschiebung bei eingestelltem Ermittlungsverfahren

Aktenzeichen  XIII ZB 31/20

Datum:
6.10.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2020:061020BXIIIZB31.20.0
Normen:
§ 72 Abs 4 S 1 AufenthG
§ 154 StPO
Spruchkörper:
13. Zivilsenat

Leitsatz

Im Hinblick auf Ermittlungsverfahren, die nach § 154 StPO eingestellt sind, bedarf es für die Abschiebung keines staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens.

Verfahrensgang

vorgehend LG Limburg, 11. März 2020, Az: 7 T 48/19vorgehend AG Wetzlar, 5. November 2018, Az: 62 XIV 31/18

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Limburg an der Lahn – 7. Zivilkammer – vom 11. März 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1
I. Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Das Asylverfahren wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 28. Juni 2017 eingestellt. Der Betroffene wurde zur Ausreise aufgefordert, und ihm wurde die Abschiebung nach Algerien angedroht. Nachdem zwei dem Betroffenen angekündigte Abschiebungsmaßnahmen daran gescheitert waren, dass dieser sich nicht bereit gehalten hatte beziehungsweise aus der Abschiebungshafteinrichtung geflohen war, wurde er am 3. November 2018 festgenommen. Nach Anordnung einer vorläufigen Freiheitsentziehung hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 5. November 2018 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum 21. Dezember 2018 angeordnet. Die nach seiner Abschiebung mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG fortgesetzte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
2
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
3
1. Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu Recht angeordnet worden. Der Anordnung liege insbesondere ein zulässiger Haftantrag zugrunde. Das erforderliche Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaften sei dort hinreichend dargelegt.
4
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.
5
a) Zu Recht geht das Beschwerdegericht von einem zulässigen Haftantrag aus.
6
aa) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. April 2020 – XIII ZB 53/19, juris Rn. 7 mwN).
7
bb) Diesen Anforderungen wird der Antrag der beteiligten Behörde gerecht.
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(1) Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, muss der Haftrichter auf Grund der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) erwarten, dass die Behörde den Betroffenen nicht ohne das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen abschiebt. Der Haftantrag ist dann im Hinblick auf die von § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG geforderten Darlegungen zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 – XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 19).
9
(2) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde reichen die Ausführungen zum Vorliegen und zur Entbehrlichkeit des staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens in dem Antrag der beteiligten Behörde aus.
10
(a) Aus dem Haftantrag und einer diesem beigefügten Übersicht ergeben sich sieben laufende Ermittlungsverfahren. Bezüglich dieser Verfahren lag nach den Ausführungen der beteiligten Behörde das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaften vor. Diese Darlegung genügte, um das mögliche Abschiebungshindernis auszuräumen, das sich aus der Erwartung des Haftrichters, die Behörde werde den Betroffenen nicht ohne das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen abschieben, ergeben kann. Für die Zulässigkeit des Haftantrags ist es daher entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde unerheblich, ob diese Angaben auch in der Sache zutrafen.
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(b) Im Hinblick auf die weiteren drei Ermittlungsverfahren, die sich aus der dem Haftantrag beigefügten Übersicht ergeben, war das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach den Darlegungen der beteiligten Behörde entbehrlich, weil diese Verfahren nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt waren. Auch mit diesen Darlegungen hat die Behörde das sich aus der Erwartung, die Behörde werde den Betroffenen nicht ohne ein nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliches Einvernehmen abschieben, ergebende mögliche Abschiebungshindernis ausgeräumt. Denn im Hinblick auf Ermittlungsverfahren, die nach § 154 StPO eingestellt sind, bedarf es, wie die beteiligte Behörde zu Recht annimmt, keines staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens.
12
(aa) Nach einer von der Rechtsbeschwerde geteilten Auffassung besteht das Beteiligungserfordernis nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG allerdings bezüglich sämtlicher nur vorläufig eingestellter Ermittlungsverfahren in gleicher Weise wie bei laufenden Ermittlungsverfahren (vgl. Kaniess, Abschiebungshaft, Rn. 152; HK-AuslR/Hofmann, 2. Aufl., § 72 AufenthG Rn. 34 mit Fn. 61).
13
(bb) Nach der Gegenmeinung löst ein nach § 154 StPO vorläufig eingestelltes Ermittlungsverfahren das Beteiligungserfordernis des § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG hingegen nicht aus (vgl. VGH München, Beschluss vom 25. Oktober 2006 – 19 CS 06.2240, juris Rn. 21; VGH Mannheim, Urteil vom 6. November 2012 – 11 S 2307/11, juris Rn. 19 und 62 [insoweit in DVBl. 2013, 189 nicht abgedruckt]; LG Bielefeld, Beschluss vom 17. Oktober 2013 – 23 T 265/13, juris Rn. 19).
14
(cc) Der Senat tritt der letztgenannten Auffassung bei.
15
Die Beteiligung der Staatsanwaltschaft dient allein der Wahrung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 – XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 17, unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 11/15, juris Rn. 24). § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG will sicherstellen, dass die Staatsanwaltschaft Strafverfahren abschließen kann, bei denen das öffentliche Strafverfolgungsinteresse das Interesse an der sofortigen Abschiebung überwiegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Februar 2011 – V ZB 202/10, FGPrax 2011, 146 Rn. 22, und vom 12. März 2015 – V ZB 197/14, FGPrax 2015, 181 Rn. 5). Hat die Staatsanwaltschaft jedoch ein Ermittlungsverfahren nach § 154 StPO eingestellt und nicht wiederaufgenommen, so hat sie selbst zum Ausdruck gebracht, dass aus ihrer Sicht insoweit kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse besteht.
16
Dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Hinblick auf ein gemäß § 154f StPO vorläufig eingestelltes Ermittlungsverfahren vor einer Abschiebung das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft einzuholen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2018 – V ZB 231/17, FGPrax 2019, 43 Rn. 5), steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Zwar handelt es sich auch bei einer Einstellung nach § 154 StPO um eine vorläufige Einstellung. Ein durch Gerichtsbeschluss nach § 154 Abs. 2 StPO eingestelltes Verfahren kann nämlich unter den Voraussetzungen des § 154 Abs. 3 und 4 StPO wiederaufgenommen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2006 – 1 StR 438/05, NStZ-RR 2007, 20), und bei einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO genügt für eine Wiederaufnahme bereits das Vorliegen eines sachlich einleuchtenden Grundes (vgl. BGH, Urteil vom 18. April 1990 – 3 StR 252/88, BGHSt 37, 10, 13, und Beschluss vom 30. April 2009 – 1 StR 745/08, BGHSt 54, 1, 7, jeweils mwN). Die materiellen Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung nach den genannten Normen und der dahinterstehende Gesetzeszweck unterscheiden sich jedoch in erheblicher Weise. Während eine Einstellung nach § 154f StPO an die temporäre objektive Unmöglichkeit der Strafverfolgung anknüpft, indem sie voraussetzt, dass der Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens für längere Zeit die Abwesenheit des Beschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegensteht, dient die vorläufige Verfahrenseinstellung nach § 154 StPO allein der Verfahrensökonomie. Hier wäre die Durchführung der Hauptverhandlung ohne Weiteres möglich, da der Beschuldigte greifbar ist; der Ermittlungsbehörde wird jedoch aus Gründen der Effizienz die Möglichkeit eingeräumt, die Durchsetzung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses zurückzustellen (vgl. dazu Mavany in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 154 Rn. 1; MüKoStPO/Teßmer, § 154 Rn. 2, jeweils mwN).
17
b) Die Haftanordnung war auch in der Sache rechtmäßig. Das etwaige Fehlen eines nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft allein führt nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung, da es sich bei diesem Beteiligungserfordernis nicht um eine freiheitsschützende Verfahrensvorschrift im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG handelt, deren Verletzung stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person darstellte (vgl. dazu ausführlich BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 – XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 12 ff.). Unerheblich ist daher, ob – was die Rechtsbeschwerde bezweifelt – die von der beteiligten Behörde benannten Einvernehmenserklärungen tatsächlich vorlagen und die übrigen Ermittlungsverfahren tatsächlich nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt waren. Dass dem Amtsgericht etwaige Fehler in den Angaben der beteiligten Behörde bekannt gewesen wären mit der Folge, dass die Haft im Hinblick auf § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nur hätte angeordnet werden dürfen, wenn mit der Erteilung des Einvernehmens bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin hätte gerechnet werden können, wird von der Rechtsbeschwerde nicht geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich.
18
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
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