Strafrecht

Absehen von grundsätzlich gebotener BAK-Bestimmung zur Beurteilung der Schuldfähigkeit wegen vager Tatsachengrundlage

Aktenzeichen  202 StRR 111/20

Datum:
15.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1621
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 20, § 21, § 46a Nr. 2, § 49 Abs. 1, § 303
StPO § 337

 

Leitsatz

1. Der Tatrichter ist bei der Prüfung der Schuldfähigkeit eines alkoholisierten Täters grundsätzlich gehalten, eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit anhand von Trinkmengenangaben vorzunehmen, wenn keine Blutentnahme erfolgt ist. (Rn. 6)
2. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Angaben zur Menge des genossenen Alkohols derart vage sind, dass auch unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes eine auch nur annähernd verlässliche Ermittlung des Blutalkoholgehalts nicht möglich ist. In diesem Fall richtet sich die Beurteilung der Schuld nur nach psychodiagnostischen Kriterien. (Rn. 7 und 8)

Tenor

I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts vom 02.07.2020 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe

I.
Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten am 16.12.2019 wegen Sachbeschädigung in zwei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten, gebildet aus zwei Einzelstrafen von jeweils drei Monaten, deren Vollstreckung es nicht zur Bewährung aussetzte. Die hiergegen gerichteten Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft verwarf das Landgericht am 02.07.2020 als unbegründet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts.
II.
Nach den Feststellungen des Landgerichts stieg der Angeklagte am 30.07.2019 gegen 23:28 Uhr auf zwei ordnungsgemäß am Fahrbahnrand geparkte Pkw und lief dabei jeweils über die Motorhaube und das Fahrzeugdach, wodurch die Fahrzeuge, wie vom Angeklagten zumindest vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, erheblich beschädigt wurden. Der Angeklagte war zum Tatzeitpunkt alkoholisiert und hatte zusätzlich das Schmerzmittel Pregabalin eingenommen. Das Landgericht ging bei erhaltener Einsichtsfähigkeit des Angeklagten davon aus, dass dessen Steuerungsfähigkeit nicht erheblich vermindert war.
III.
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der erhobenen Sachrüge deckt keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
1. Die Schuldsprüche werden von einer fehlerfreien Beweiswürdigung getragen.
2. Das Landgericht hat ferner mit zutreffenden Erwägungen eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 20 StGB aufgrund einer im Tatzeitpunkt bestehenden Alkoholisierung in Verbindung mit der Einnahme des Medikaments Pregabalin verneint.
a) Zwar ist der Tatrichter bei Beurteilung der Schuldfähigkeit im Falle einer Alkoholintoxikation grundsätzlich gehalten, eine Berechnung des Blutalkoholgehalts zur Tatzeit vorzunehmen, was das Berufungsgericht unterlassen hat. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn eine Blutentnahme durch den ermittelnden Polizeibeamten nicht veranlasst wurde, obwohl der Angeklagte ausweislich der Urteilsgründe einen alkoholisierten Eindruck hinterlassen hat. In diesem Fall ist der Tatrichter grundsätzlich gehalten, aufgrund von Trinkmengenangaben eine Berechnung des Blutalkoholgehalts im Tatzeitpunkt vorzunehmen, weil dessen Höhe ein Indiz für eine erhebliche alkoholische Aufnahme und damit das Ausmaß der Beeinträchtigung der Schuld darstellt (vgl. nur BGH, Beschluss vom 19.03.2020 – 3 StR 443/19 = NStZ 2020, 473; 28.07.2020 – 2 StR 229/20 und 23.01.2019 – 1 StR 448/18, jeweils bei juris). Hiervon ist das Tatgericht nicht schon dann entbunden, wenn die Angaben des Angeklagten zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind. Vielmehr ist eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung des Angeklagten sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen zwar keine sichere Berechnungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholkonsums ermöglichen (BGH a.a.O. m.w.N.).
b) Die Berechnung einer möglichen Blutalkoholkonzentration aufgrund von Trinkmengen kann indes dann unterbleiben, wenn die Trinkmengenangaben so vage sind, dass auch unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes eine auch nur annähernd verlässliche Ermittlung des Blutalkoholgehalts nicht möglich ist (BGH, Urt. v. 07.11.2018 – 5 StR 241/18 bei juris; 25.10.2017 – 2 StR 118/16 = NStZ-RR 2018, 69 = StraFo 2018, 202). Denn bei einer völlig ungesicherten Tatsachenbasis kann einer hierauf gründenden Berechnung des Blutalkoholgehalts kein ausreichender Indizwert beigemessen werden. In einem solchen Fall richtet sich die Beurteilung der Schuld nur nach psychodiagnostischen Kriterien (BGH, Urt. v. 26.11.1998 – 4 StR 406/98 = NStZ-RR 1999, 297 = DAR 1999, 194 = Blutalkohol 37, 74; BayObLG, Beschluss vom 02.02.2001 – 5St RR 20/01 = VRS 100, 354 (2001) = NZV 2001, 353 = Blutalkohol 38, 290 m.w.N.).
c) Eine solche Ausnahmekonstellation lag hier vor. Nach den Urteilsfeststellungen ist die Berufungskammer aufgrund der Angaben des Angeklagten davon ausgegangen, dass dieser „gemeinsam mit einem Freund eine Flasche Jim Beam getrunken“ habe. Bei derart vagen Angaben, die sich insbesondere nicht dazu verhalten, welchen Anteil der Angeklagte konsumiert hat, der bei lebensnaher Betrachtung insbesondere mit Blick auf die von ihm geltend gemachten Erinnerungslücken auch nicht einmal annäherungsweise einer Konkretisierung zugänglich ist, hat die Berufungskammer ohne Rechtsfehler von einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration mangels hinreichender Verlässlichkeit der Berechnungsgrundlagen abgesehen. Soweit die Revision geltend macht, der Angeklagte habe nach seiner Einlassung „mindestens eine halbe Flasche Jim Beam“ konsumiert, handelt es sich insoweit um urteilsfremden Vortrag, mit dem sie im Rahmen der Sachrüge nicht gehört werden kann.
d) Die sorgfältigen Erwägungen des Landgerichts zum Ausschluss eines Zustands der Schuldunfähigkeit anhand der sich aufgrund der Hauptverhandlung ergebenden psychodiagnostischen Kriterien sind nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat im Rahmen der gebotenen Gesamtschau in den Blick genommen, dass der Angeklagte trotz seiner Alkoholintoxikation und der angegebenen Medikamenteneinnahme körperlich in der Lage war, auf zwei geparkte Kfz zu steigen und wieder herunter zu springen. Es hat weiter darauf abgestellt, dass der Angeklagte unmittelbar nach der Tat von der Polizei aufgegriffen wurde und hierbei zwar alkoholisiert gewirkt habe, dem Geschehen aber durchaus habe folgen können. Relevant ist in diesem Zusammenhang vor allem auch die Weigerung des Angeklagten, einen freiwilligen Atemalkoholtest durchzuführen, was dafür spricht, dass er situationsadäquat unter bewusster Inanspruchnahme eigener Rechte reagieren konnte, und auf ein noch ausreichend intaktes Denk- und Wahrnehmungsvermögen (vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Kriteriums nur BGH, Beschluss vom 28.07.2020 – 2 StR 229/20 bei juris) schließen lässt. Schließlich hat das Landgericht auch richtigerweise in seine Erwägungen einbezogen, dass der Angeklagte sich an zumindest einige Einzelheiten des Tatgeschehens und auch des anschließenden Aufgriffs durch die Polizei erinnern konnte.
3. Soweit das Landgericht auch eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB unter Berufung auf das Leistungsvermögen des Angeklagten verneint hat, ist dies indes rechtsfehlerhaft.
a) Die Berufungskammer hat hierbei außer Acht gelassen, dass gerade bei alkoholgewohnten Tätern, um den es sich bei dem Angeklagten nach den Urteilsfeststellungen handelt („nicht alkoholungewohnt“), trotz erheblicher Alkoholisierung zumindest grobmotorige Handlungen nicht ungewöhnlich sind. Äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit können bei hoher Alkoholgewöhnung durchaus weit auseinanderfallen; bei Alkoholikern zeigt sich oft eine durch ‚Übung‘ erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten (BGH, Beschluss vom 23.01.2019 – 1 StR 448/18 bei juris m.w.N.).
b) Allerdings beruht das Urteil nicht auf diesem Rechtsfehler (§ 337 StPO). Denn mit zutreffenden Erwägungen hat das Berufungsgericht hilfsweise darauf abgestellt, dass selbst bei Annahme erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB mit Blick auf die selbstverschuldete Trunkenheit nicht in Betracht käme. Ungeachtet dessen lag eine Strafrahmenverschiebung völlig fern, weil der Angeklagte vielfach, darunter auch wegen Aggressionshandlungen, vorbestraft ist und sich selbst durch mehrfachen Strafvollzug nicht von der Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten abhalten ließ, sodass jedenfalls auch deswegen ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf der fehlerhaften Verneinung der Voraussetzungen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit beruht.
4. Der Rechtsfolgenausspruch hält auch im Übrigen rechtlicher Nachprüfung stand. Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten sind nicht vorhanden. Dass das Landgericht zu Gunsten des Angeklagten Strafrahmenverschiebungen wegen Wiedergutmachung der Schäden nach §§ 46a Nr. 2, 49 Abs. 1 StGB vorgenommen hat, obwohl die getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um von „erheblichen persönlichen Leistungen oder persönlichen Verzicht“ infolge der Schadenswiedergutmachung, wie es § 46a Nr. 2 StGB voraussetzt, ausgehen zu können, beschwert den Angeklagten nicht. Gleiches gilt, soweit die verhängten Einzelstrafen mit Blick auf die zahlreichen Vorahndungen des Angeklagten derart milde sind, dass sie ihrer Funktion, gerechter Schuldausgleich zu sein, kaum mehr gerecht werden können.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.


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