Strafrecht

AK 14/22

Aktenzeichen  AK 14/22

Datum:
21.4.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2022:210422BAK14.22.0
Normen:
§ 129 Abs 2 StGB
§ 129a Abs 1 Nr 1 StGB
§ 129b Abs 1 S 1 StGB
Spruchkörper:
3. Strafsenat

Tenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.
1
Die Beschuldigte wurde aufgrund Haftbefehls der Ermittlungsrichterin des Kammergerichts vom 11. Juni 2020 (1 ER 49/20 – 172 OJs 8/19) am 7. Oktober 2021 festgenommen. Seither befindet sie sich ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, die Beschuldigte habe in Syrien im Zeitraum zwischen Ende Oktober 2016 und Dezember 2018 durch zwei selbständige Handlungen sich als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke und Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 VStGB) zu begehen, und durch eine dieser Handlungen zugleich in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen ihre Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter 16 Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr gebracht, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 171, 52, 53 StGB.
II.
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Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
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1. Gegenstand des Haftprüfungsverfahrens nach §§ 121, 122 StPO ist der vollzogene Haftbefehl der Ermittlungsrichterin des Kammergerichts, zu dessen Anpassung oder Erweiterung nur das gemäß § 126 Abs. 1 oder 2 StPO zuständige Gericht befugt ist. Er legt der Beschuldigten eine mitgliedschaftliche Beteiligung an der außereuropäischen terroristischen Vereinigung “Islamischer Staat” in deren Herrschaftsgebiet zwischen Ende 2016 und Dezember 2018 zur Last.
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In welchem Umfang eine Befugnis des Haftprüfungsgerichts bestehen kann, den im Haftbefehl geschilderten Lebenssachverhalt innerhalb der nämlichen prozessualen Tat zu ergänzen, bedarf keiner Entscheidung. Denn für die Haftfrage kommt es hier nicht auf einen möglichen erweiterten Vorwurf an, die Beschuldigte habe sich auch während ihrer nachfolgenden Internierung in dem nordsyrischen Flüchtlingslager Al-Hawl, insbesondere von Februar bis September 2020, für den IS als Mitglied betätigt (vgl. dazu Vorlagevermerk der Generalstaatsanwaltschaft vom 22. März 2022).
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2. Die Beschuldigte ist der ihr im Haftbefehl vorgeworfenen Taten dringend verdächtig.
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a) Im Sinne eines dringenden Tatverdachts ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:
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aa) Die Vereinigung “Islamischer Staat” (IS) ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region “ash-Sham” – die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina – umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden “Gottesstaat” unter Geltung der Sharia zu errichten und dazu das Regime des syrischen Präsidenten Assad und die schiitisch dominierte Regierung im Irak zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf in Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als “Feind des Islam” begreift; die Tötung solcher “Feinde” oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der IS als legitimes Mittel des Kampfes an.
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Die Führung der Vereinigung, die sich mit der Ausrufung des “Kalifats” am 29. Juni 2014 aus “Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien” (ISIG) in “Islamischer Staat” (IS) umbenannte, wodurch sie von der territorialen Selbstbeschränkung Abstand nahm, hatte von 2010 bis zu seinem Tod Ende Oktober 2019 Abu Bakr al-Baghdadi inne. Bei der Ausrufung des Kalifats erklärte der Sprecher des IS al-Baghdadi zum “Kalifen”, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Kurz nach dem Tod al-Baghdadis berief die Organisation Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraschi zu dessen Nachfolger.
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Dem Anführer des IS unterstehen ein Stellvertreter sowie “Minister” als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein “Kriegsminister” und ein “Propagandaminister”. Zur Führungsebene gehören außerdem beratende “Shura-Räte”. Veröffentlichungen werden von eigenen Medienstellen produziert und verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem “Prophetensiegel” (einem weißen Oval mit der Inschrift “Allah – Rasul – Muhammad”) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die zeitweilig über mehrere Tausend Kämpfer sind dem “Kriegsminister” unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert. Zwischen 2014 und 2017 bildete der IS in großem Umfang männliche Kinder militärisch aus, deren wichtigste Aufgaben der bewaffnete Kampf, Wachdienste, Hinrichtungen (als Teil der Öffentlichkeitsarbeit des IS) und Selbstmordanschläge waren.
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Die Vereinigung teilte von ihr besetzte Gebiete in Gouvernements ein und richtete einen Geheimdienstapparat ein; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der irakischen und syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des IS in Frage stellten, sahen sich der Verhaftung, Folter und der Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht er immer wieder Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So übernahm er für Anschläge in Europa, etwa in Paris, Brüssel und Berlin, die Verantwortung.
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Im Jahr 2014 gelang es dem IS, große Teile der Staatsterritorien von Syrien und dem Irak zu besetzen. Er kontrollierte die aneinander angrenzenden Gebiete Ostsyriens und des Nordwestiraks. Ab dem Jahr 2015 geriet die Vereinigung militärisch zunehmend unter Druck und musste schrittweise massive territoriale Verluste hinnehmen. Im August 2017 wurde sie aus ihrer letzten nordirakischen Hochburg in Tal Afar verdrängt. Im März 2019 galt der IS – nach der Einnahme des von seinen Kämpfern gehaltenen ostsyrischen Baghouz – sowohl im Irak als auch in Syrien als militärisch besiegt, ohne dass aber die Vereinigung als solche zerschlagen wäre.
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bb) Die Beschuldigte war nach islamischem Ritus mit dem gesondert Verfolgten    H.    verheiratet. Seit Anfang 2014 lebte sie als seine erste Ehefrau mit ihm und den zwei gemeinsamen Söhnen, geboren am 29. Dezember 2013 und am 27. Februar 2015, in seiner Wohnung in B.   . Im März 2016 zog dort die gesondert Verfolgte R.   , die    H.    ebenfalls nach islamischem Ritus geheiratet hatte, als seine zweite Ehefrau ein. Im Laufe des Jahres entwickelten die beiden Frauen im Zusammenleben mit ihrem Ehemann eine streng islamische Religionsvorstellung und radikalisierten sich.
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Nach einem vorübergehenden Aufenthalt in F.             reiste die Beschuldigte am 29. Oktober 2016 mit ihren – damals zwei- und einjährigen – Söhnen per Flugzeug von dort nach Istanbul (Türkei). Sie wollte sich dem IS anschließen, mit dessen Ideologie, Handlungsweisen und Zielen sie sich identifizierte. Sodann begab sie sich mit ihren Kindern nach Syrien in den vom IS kontrollierten Teil des Staatsterritoriums. Sie handelte in der Absicht, durch diesen Schritt ihren noch zögerlichen Ehemann, der nicht damit einverstanden war, dass sie die beiden Kinder mitnahm, ebenfalls zur Ausreise in das Herrschaftsgebiet der Vereinigung zu bewegen. Die Beschuldigte hatte das Ziel, mit der Familie dort dauerhaft nach den Regeln und Vorstellungen des IS zu leben, damit sich   H.    als Kämpfer betätigen und sie die Söhne im Sinne der Organisation auf längere Frist zu Kämpfern erziehen kann. Wie von ihr beabsichtigt, reiste    H.    in der Folgezeit ebenfalls in das Herrschaftsgebiet aus, desgleichen, unabhängig von ihm, R.    mit ihrer minderjährigen Tochter.
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Im Zeitraum bis zum 2. Juni 2017 schlossen sich die Beschuldigte und – nach dem 30. Januar 2017 –    H.    dem IS an. Bis Dezember 2018 lebten sie und R.    in Doppelehe mit den Kindern in dem von der Organisation beherrschten Landesteil, insbesondere in Städten bzw. Ortschaften des Gouvernements Deir ez-Zor, unter anderem Mayadin, Hajin und Al-Scha’fa. Aufgrund erheblicher Spannungen zwischen den beiden Frauen waren diese jedenfalls zeitweilig in verschiedenen, allerdings nahe beieinander gelegenen Häusern untergebracht. Nachdem die Beschuldigte und    H.    zwischenzeitlich von einem islamischen Gericht des IS geschieden worden waren, heirateten sie erneut nach islamischem Ritus. Danach, am 30. September 2018, gebar die Beschuldigte ihrem Ehemann eine Tochter.
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Während der Zeit des Zusammenlebens ließ sich    H.    vom 2. Juni bis zum 25. August 2017 sowie vom 18. bis zum 28. September 2017 durch den IS zunächst ideologisch schulen und anschließend im Umgang mit Waffen ausbilden. Sodann beteiligte er sich für die Organisation an kriegerischen Auseinandersetzungen als Kämpfer. Die Beschuldigte fügte sich den Regeln des IS und förderte dessen Ziele. Sie erfüllte die Aufgaben, die einer Frau nach der Ideologie der Vereinigung zukommen. Sie übernahm die Haushaltsführung und Kindererziehung, um so die Kampfkraft ihres Ehemanns zu erhalten und zu stärken. Darüber hinaus zerstreute sie dessen Zweifel an einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten und bewegte ihn, als er ernsthaft erwog, das Bürgerkriegsgebiet zu verlassen, zum Verbleib bei der Organisation.
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Ihre im Kleinkindalter befindlichen Söhne setzte die Beschuldigte während des Aufenthalts in dem Bürgerkriegsgebiet den hiermit verbundenen Risiken und der Willkürherrschaft des IS aus. Aufgrund der militärischen Lage bestand insbesondere die Gefahr von Bombardements. Die Kinder erlebten Bombenanschläge, bewaffnete Angriffe und tödliche Gewalt. Es galten die Regeln der Sharia, und es herrschten zunehmend bittere Armut und desolate hygienische Zustände. All das hielt die Beschuldigte bereits bei der Ausreise für möglich und akzeptierte es.
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Nachdem der Aufenthalt der Beschuldigten, des    H.    und der R.    samt den Kindern schrittweise dem Rückzug der IS-Kämpfer in das immer kleiner werdende von der Vereinigung kontrollierte Gebiet gefolgt war, fiel die Familie schließlich im Dezember 2018 in die Hände von kurdischen Milizen. Während    H.    daraufhin inhaftiert wurde, wurden die Beschuldigte und die übrigen Familienmitglieder in das von kurdischen Kräften betriebene Lager al-Hawl (Al Hol) verbracht. Dort hielt sie sich bis September 2020 auf, anschließend im gleichfalls von diesen Kräften geführten Lager Roj.
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Als im Dezember 2018 die Familie der Beschuldigten von den kurdischen Milizen ergriffen wurde, war der körperliche Zustand der Kinder schlecht. Ihre beiden Söhne sind durch die Erlebnisse in Syrien noch heute traumatisiert und bedürfen psychotherapeutischer Behandlung.
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b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus Folgendem:
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aa) Hinsichtlich der außereuropäischen Vereinigung “Islamischer Staat” beruht er auf islamwissenschaftlichen Gutachten sowie auf verschiedenen Behördenerklärungen der Geheimdienste und polizeilichen Auswertungsberichten. Hierzu liegen drei Sonderbände “Strukturerkenntnisse IS” vor, darunter vom Bundeskriminalamt zusammengetragene Erkenntnisse zu der Rolle und Betätigung der Frauen von IS-Kämpfern sowie der ihnen von der Vereinigung zugedachten Funktion im Jihad.
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bb) Zu den Tatvorwürfen hat sich die Beschuldigte bislang nicht im Einzelnen eingelassen. Die bei der Rückholaktion der Bundesregierung eingesetzten Beamten des Bundeskriminalamts haben sie allerdings während des Flugs nach Deutschland am 6. Oktober 2021 im Rahmen eines Gefahrenabwehrvorgangs befragt, nachdem sie sie vorsorglich über die Beschuldigtenrechte nach § 136 StPO belehrt hatten. Nach dem über die Befragung erstellten Vermerk vom 8. Oktober 2021 (Sachakte Bd. IV Bl. 80 ff.) hat sie sich vor allem zu ihrer Ausreise und ihrem Grenzübertritt nach Syrien Ende Oktober 2016, den dortigen Wohnortwechseln der Familie sowie der abschließenden Internierung in den Flüchtlingslagern geäußert. Ihre Angaben zur Ausreise bestätigen das diesbezügliche Ermittlungsergebnis; diejenigen zu den Aufenthalten im syrischen Bürgerkriegsgebiet lassen sich – ausweislich des islamwissenschaftlichen Vermerks des Landeskriminalamts Berlin vom 28. Februar 2022 (Sachakte Bd. VI Bl. 117 ff.) – mit der stetigen Verkleinerung des Herrschaftsgebiets des IS in Einklang bringen. Zudem hat die Beschuldigte von vielfachen Bombeneinschlägen an den jeweiligen Wohnorten berichtet. Sie hat ferner erklärt,    H.    habe ihr während des Zusammenlebens in Al-Scha’fa vorgeworfen, er sei nur ihretwegen ausgereist, und habe ihr die Schuld für die verfahrene Situation gegeben. Dies stützt die Erkenntnisse der Ermittlungsbehörden dazu, dass von ihr die Initiative zu den Taten, auch des Ehemanns, ausging.
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Im Übrigen ergibt sich der dringende Tatverdacht hinsichtlich
– der Ausreise der Beschuldigten und ihrer Söhne mit dem Flugzeug unter konspirativen Umständen vornehmlich aus den Ermittlungen der Kriminalpolizei Frankfurt am Main, etwa aus den über dritte Personen gebuchten Flugtickets nach vorheriger melderechtlicher Ummeldung nach F.             ,
– des Beitritts des    H.    zum IS sowie zu seiner Ausbildung und Tätigkeit als Kämpfer insbesondere aus den Erkenntnissen, welche die Generalstaatsanwaltschaft Berlin in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren gewonnen hat, so aus der Auswertung von auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Audionachrichten der Beschuldigten, den Ergebnissen der Telekommunikationsüberwachung seiner nahen Angehörigen und deren Zeugenaussagen sowie dem Inhalt des von einer Zeugin bereitgestellten Chatverkehrs zwischen dieser und R.   ; den genannten Beweiserhebungen lässt sich insbesondere entnehmen, auf welche Weise die Beschuldigte hochwahrscheinlich die treibende Kraft hinter dem gesamten Vorhaben war,
– der radikalislamischen Einstellung und jihadistischen Gesinnung der Beschuldigten auch während des Aufenthalts in Syrien namentlich aus im vorliegenden Ermittlungsverfahren angefallenen Erkenntnissen, beispielsweise den Ergebnissen der Telekommunikationsüberwachung ihres familiären Umfelds in B.   .
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Des Weiteren belegen die Ermittlungen, etwa die Auswertung auf sichergestellten elektronischen Datenträgern gespeicherter Daten, den mehrfachen Wohnortwechsel im IS-Herrschaftsgebiet ebenso wie die dortigen Lebensverhältnisse und deren Auswirkungen auf die Kinder der Beschuldigten, ferner die allgegenwärtige Bedrohung durch Bombardements und Angriffe der Anti-IS-Koalition.
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Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Haftbefehl, den Einleitungsvermerk des Generalbundesanwalts vom 9. August 2019, den Zwischenbericht des Landeskriminalamts Berlin vom 25. Mai 2020 und den Vorlagevermerk der Generalstaatsanwaltschaft vom 22. März 2022.
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c) In rechtlicher Hinsicht ist der unter Gliederungspunkt II. 2. a) geschilderte Sachverhalt dahin zu beurteilen, dass die Beschuldigte jedenfalls zweier Fälle der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland, in einem Fall in Tateinheit mit zwei idealkonkurrierenden Fällen Verletzung der Erziehungs- oder Fürsorgepflicht, dringend verdächtig ist. Auf der Grundlage des ihr angelasteten Sachverhalts ist ihre Strafbarkeit wie folgt zu bewerten:
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aa) Die Beschuldigte ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 StGB) schuldig, indem sie sich dem IS anschloss und sich für ihn betätigte. Dies gilt sowohl unter Zugrundelegung des bis zum 21. Juli 2017 nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblichen Vereinigungsbegriffs als auch auf der Grundlage der Legaldefinition des seit dem Folgetag gültigen § 129 Abs. 2 i.V.m. § 129a Abs. 1 StGB.
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(1) Nach beiden Varianten setzt die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer Vereinigung zum einen eine gewisse einvernehmliche Eingliederung des Täters in die Organisation (die Mitgliedschaft) und zum anderen eine aktive Tätigkeit zur Förderung ihrer Ziele (die Beteiligungshandlungen) voraus. Es gilt:
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(a) Die erforderliche Eingliederung in die Organisation kommt nach altem wie nach neuem Recht nur in Betracht, wenn der Täter sie von innen und nicht lediglich von außen her fördert. Insoweit bedarf es zwar keiner förmlichen Beitrittserklärung oder einer förmlichen Mitgliedschaft. Notwendig ist aber, dass der Täter eine Stellung innerhalb der Vereinigung einnimmt, die ihn als zum Kreis der Mitglieder gehörend kennzeichnet und von den Nichtmitgliedern unterscheidbar macht. Dafür reicht allein die Tätigkeit für die Vereinigung, mag sie auch besonders intensiv sein, nicht aus; denn ein Außenstehender wird nicht allein durch die Förderung der Vereinigung zu deren Mitglied. Die Mitgliedschaft setzt ihrer Natur nach eine Beziehung voraus, die einer Vereinigung nicht aufgedrängt werden kann, sondern ihre Zustimmung erfordert. Ein auf lediglich einseitigem Willensentschluss beruhendes Unterordnen und Tätigwerden genügt nicht, selbst wenn der Betreffende bestrebt ist, die Vereinigung und ihre kriminellen Ziele zu fördern (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2019 – AK 56/19, juris Rn. 28; vom 14. Juli 2021 – AK 37/21, juris Rn. 35 mwN).
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Die mitgliedschaftliche Beteiligung setzt auf der Grundlage der seit dem 22. Juli 2017 geltenden Legaldefinition der Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) nicht voraus, dass sich der Täter in ihr Verbandsleben integriert (s. BGH, Beschlüsse vom 22. März 2018 – StB 32/17, NStZ-RR 2018, 206, 207 mwN; vom 24. Februar 2021 – AK 9/21, juris Rn. 18; Urteil vom 2. Juni 2021 – 3 StR 21/21, NJW 2021, 2813 Rn. 20). Für die Eingliederung in die Organisation ist somit nicht mehr erforderlich, dass seine Förderungshandlungen von einem einvernehmlichen Willen zur fortdauernden Teilnahme an diesem Verbandsleben getragen sind. Bestehen jedoch bei der zu beurteilenden Vereinigung – wie dem IS – eine ausgeprägte Organisation und ein verbindlicher Gruppenwille, ist auch nach der aktuellen Gesetzeslage dieses von der bisherigen Rechtsprechung verlangte Kriterium von Bedeutung (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 22. Oktober 1979 – StB 52/79, BGHSt 29, 114, 120 ff.; Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Rn. 128); die Eingliederung in die auf diese Weise strukturierte Personenmehrheit geht typischerweise mit dem einvernehmlichen Willen zur Teilnahme am Verbandsleben einher (s. MüKoStGB/Schäfer/Anstötz, 4. Aufl., § 129 Rn. 82). Im Übrigen genügt nach neuem Recht insoweit jedenfalls ein entsprechender Wille zur auf Dauer oder zumindest längere Zeit angelegten Mitwirkung an den Aktivitäten oder an der Verfolgung der Ziele der Vereinigung (vgl. LK/Krauß, StGB, 13. Aufl., § 129 Rn. 97; Matt/Renzikowski/Kuhli, StGB, 2. Aufl., § 129 Rn. 21; ferner SK-StGB/Stein/Greco, 9. Aufl., § 129 Rn. 43).
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(b) Die notwendige aktive Tätigkeit zur Förderung der von der Vereinigung verfolgten Ziele kann darin bestehen, unmittelbar zu deren Durchsetzung beizutragen. Sie kann auch darauf gerichtet sein, lediglich die Grundlagen für die Aktivitäten der Vereinigung zu schaffen oder zu erhalten. Ausreichend ist deshalb die Förderung von Aufbau, Zusammenhalt oder Tätigkeit der Organisation. In Betracht kommt etwa ein organisationsförderndes oder ansonsten vereinigungstypisches Verhalten von entsprechendem Gewicht. In Abgrenzung hierzu fehlt es in Fällen einer bloß formalen oder passiven, für das Wirken der Vereinigung bedeutungslosen Mitgliedschaft grundsätzlich an einem mitgliedschaftlichen Beteiligungsakt (s. BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 2019 – AK 22/19, BGHR StGB § 129a Abs. 1 Mitgliedschaft 5 Rn. 24; vom 14. Juli 2021 – AK 37/21, juris Rn. 37).
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(2) Gemessen an den dargelegten rechtlichen Maßstäben beteiligte sich die Beschuldigte am IS als Mitglied.
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(a) Die Beschuldigte wurde einvernehmlich in die Organisation des IS aufgenommen. Das erklärte Ziel ihrer Ausreise war von Anfang an dieser Personenverband. Sie identifizierte sich mit dessen Ideologie, Handlungsweisen und Zielen. Dies zeigt sich auch daran, dass sie noch im Frühjahr 2020 auf ihrem WhatsApp-Profil Statusbilder verwendete, welche die Fahne des IS, Leichen und einen Scheiterhaufen zeigten.
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Die Beschuldigte begab sich in das Herrschaftsgebiet der Vereinigung aus eigenem Antrieb und aufgrund eigener Organisation. Im Herrschaftsgebiet hielt sie sich zunächst alleine auf und verblieb länger als zwei Jahre freiwillig. Sie beabsichtigte, mit ihrer Familie am Verbandsleben des IS, das heißt einem von ihr idealisierten religiös-fundamentalistischen, auf den Regeln der Sharia beruhenden Gemeinwesen, teilzuhaben. Mittelbar wollte sie zu dessen Bestand und Ausbreitung beitragen, indem sie ihren Ehemann nach islamischen Ritus erfolgreich dazu anhielt, sich dauerhaft als Kämpfer für den IS zu betätigen, und ihre von ihr in das Bürgerkriegsgebiet verbrachten Söhne im Sinne dessen Ideologie erzog.
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Die Beschuldigte ordnete sich somit der Vereinigung unter. Dafür, dass dies unbemerkt von den oder ohne Zustimmung der Verantwortlichen geschah, ist nichts ersichtlich; vielmehr liegt eine solche Sachverhaltsalternative in Anbetracht des Verhaltens der Beschuldigten fern. Deshalb kommt es für den dringenden Tatverdacht hier nicht darauf an, ob der IS Geldbeträge zur Versorgung der Familie auszahlte und hierdurch auch den Einsatz der Beschuldigten für die Organisation entlohnte.
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(b) Die der Beschuldigten vorgeworfenen Aktivitäten im IS-Herrschaftsgebiet sind als aktive Beteiligungshandlungen zu beurteilen. Sie wirkte maßgebend auf den Beitritt ihres Ehemanns zum IS sowie seinen Verbleib bei der Organisation als Kämpfer hin. Sie förderte somit, psychisch vermittelt, deren Tätigkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 – StB 20/20, Rn. 13 [unveröffentlicht]). Dieses auf die Stärkung der Vereinigung ausgerichtete Verhalten hat Bedeutung auch für die Einordnung der Haushaltführung und Kindererziehung. Der sich in den weiteren Handlungen und Einflussnahmen manifestierende Wille zur Förderung des IS rechtfertigt es, die Betätigungen im Haushalt und beim Aufziehen der Kinder, die für sich gesehen noch keine Beteiligungsakte darstellen müssen (s. BGH, Beschlüsse vom 22. März 2018 – StB 32/17, NStZ-RR 2018, 206, 207; vom 21. April 2022 – AK 18/22; ferner SSW-StGB/Lohse, 5. Aufl., § 129 Rn. 38), als auf Dauer angelegtes vereinigungstypisches Verhalten zu bewerten. Denn sie stellen sich in Anbetracht der Einbindung der Beschuldigten in den IS und ihres Ziels, im Rahmen der ihr zugedachten Rolle die Kampfbereitschaft des Ehemanns zu gewährleisten, nicht lediglich als bloße alltägliche Verrichtungen ohne Organisationsbezug – als Erfüllung “häuslicher Pflichten” – dar (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2019 – AK 22/19, BGHR StGB § 129a Abs. 1 Mitgliedschaft 5 Rn. 27; ferner BGH, Beschlüsse vom 3. März 2021 – AK 10/21, juris Rn. 34; vom 20. April 2021 – AK 30/21, StV 2021, 575 Rn. 45; vom 13. Oktober 2021 – AK 44/21, juris Rn. 22). Dies gilt umso mehr, als sie ihre beiden Söhne in das IS-Herrschaftsgebiet mitnahm, um sie im Sinne der Ideologie der Vereinigung geistig und charakterlich zu formen. Das Verhalten der Beschuldigten erschöpfte sich somit nicht in einem Leben im “Kalifat”.
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Belegt wird dies außerdem dadurch, dass sich die Beschuldigte noch während der Internierung im Lager al-Hawl für die Vereinigung betätigte. So erstellte sie am 14. April 2020 unter dem Namen ”                      ” auf der Internetplattform “Telegram” einen jihadistischen Kanal und warb bei “Glaubensgeschwistern” um Spenden für die im Camp festgehaltenen IS-Anhängerinnen.
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(3) Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung liegt hinsichtlich des IS vor.
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bb) Die Beschuldigte hat sich hochwahrscheinlich wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht in zwei tateinheitlichen Fällen (§§ 171, 52 StGB) strafbar gemacht, indem sie ihre beiden zwei- und einjährigen Söhne aus dem Bundesgebiet in den vom IS kontrollierten Landesteil Syriens verbrachte und mit ihnen mehr als zwei Jahre dort verweilte. Denn nach ihrem Willen mussten die Kinder in einem Gebiet leben, in dem sie dem anhaltenden Risiko von Bombardierungen und sonstiger Waffengewalt ausgesetzt waren, zudem unter der Willkürherrschaft einer islamistischen terroristischen Organisation (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2019 – AK 56/19, BGHR StGB § 171 Verletzung der Erziehungspflicht 1 Rn. 42 f.; vom 13. Oktober 2021 – AK 44/21, juris Rn. 31). Die durch den Syrienaufenthalt bewirkte Gefahr für ihre körperliche und psychische Entwicklung realisierte sich in Form des bis heute anhaltenden Traumas. Durch die Erziehung der Söhne im Sinne der IS-Ideologie bestand außerdem die Gefahr, dass sie dessen Vorgehensweisen sowie Ziele teilen und durch Handlungen in dessen Sinne einen kriminellen Lebenswandel führen (s. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2019 – StB 26/19, Rn. 25, BGHR StGB § 171 Krimineller Lebenswandel 1).
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cc) Die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht steht in Tateinheit zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland, weil sich die Beschuldigte mit den betreffenden Handlungen als Mitglied des IS für diesen betätigte. Die mitgliedschaftlichen Betätigungsakte, die nicht gegen ein anderes Strafgesetz als §§ 129a, 129b StGB verstoßen, treten als verbleibende tatbestandliche Handlungseinheit tatmehrheitlich hinzu (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 2015 – 3 StR 537/14, BGHSt 60, 308 Rn. 23, 37 ff.; vom 20. Dezember 2016 – 3 StR 355/16, BGHR StGB § 129a Konkurrenzen 6 Rn. 5; vom 13. Oktober 2021 – AK 44/21, juris Rn. 34).
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dd) Deutsches Strafrecht ist anwendbar. Für die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland ergibt sich dies entweder unmittelbar aus § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 2 und 4 StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Juli 2009 – StB 34/09, BGHR StGB § 129b Anwendbarkeit 1; vom 6. Oktober 2016 – AK 52/16, juris Rn. 35 f.) oder aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil die Beschuldigte Deutsche ist und jedenfalls die Tat auch in Syrien – als Anschluss an eine terroristische Organisation gemäß Art. 1 und 3 des syrischen Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom 28. Juni 2012 – mit Strafe bedroht ist. Für die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht folgt die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts aus §§ 3, 9 Abs. 1 StGB, weil die Beschuldigte die mutmaßliche Tatausführung spätestens mit der Ausreise und damit in Deutschland begann (s. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 3. März 2021 – AK 10/21, juris Rn. 42 mwN).
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3. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität.
42
a) Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich die Beschuldigte, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass sie sich ihm zur Verfügung halten werde (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).
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aa) Die Beschuldigte hat im Fall ihrer Verurteilung mit einer empfindlichen Haftstrafe zu rechnen. Von der Straferwartung geht ein erheblicher Fluchtanreiz aus, der sich jedenfalls regelmäßig nach der prognostisch tatsächlich zu verbüßenden Strafhaft richtet (zur sog. Nettostraferwartung s. BGH, Beschluss vom 2. November 2016 – StB 35/16, juris Rn. 9; SSW-StPO/Herrmann, 4. Aufl., § 112 Rn. 64 f., jeweils mwN).
44
Der hier zu stellenden Prognose ist unter anderem zugrunde zu legen, dass nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen der mehr als zweieinhalbjährige Aufenthalt der Beschuldigten in den Flüchtlingslagern Al-Hawl und Roj bei vorläufiger Bewertung voraussichtlich nicht nach § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB auf eine Freiheitsstrafe anzurechnen sein wird. Insbesondere ist nach derzeitigem Kenntnisstand die Annahme gerechtfertigt, dass die die Lager betreibenden kurdischen und die sie unterstützenden US-amerikanischen Kräfte mit der dortigen Internierung von IS-Angehörigen präventive Zwecke verfolgten (vgl. die in BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2021 – AK 44/21, juris Rn. 45 f. dargelegten, auf den hiesigen Fall übertragbaren Erwägungen; zum Lager Al-Hawl s. islamwissenschaftliches Gutachten des Sachverständigen Dr. S.       vom 4. August 2020 [Sachakte Bd. VI Bl. 53 ff.] und Auswertevermerk des Bundeskriminalamts vom 1. Juli 2020 [Sachakte Bd. VII Bl. 74 ff.]; zum Lager Roj s. Auswertevermerk des Bundeskriminalamts vom 25. Januar 2021 [Sachakte Bd. VII Bl. 4 ff.]).
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bb) Dem erheblichen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Vielmehr verfügt die Beschuldigte in Deutschland seit 2016 über keinen festen Wohnsitz mehr. Die im Inland bestehenden familiären Bindungen scheinen gestört. Nach der Ausreise in das Herrschaftsgebiet des IS hatte sie den Kontakt zu ihrer Familie, die ihre religiösen Vorstellungen nicht teilt, abgebrochen und erst wiederaufgenommen, als sie auf Hilfe angewiesen war. Die Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung lassen darauf schließen, dass die Beschuldigte weiterhin radikal-salafistische Überzeugungen vertritt und sich bislang weder vom IS noch dessen Ideologie löste. Für ein Untertauchen im In- und Ausland könnte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein in B.    bestehendes Netzwerk Gleichgesinnter zurückgreifen, aus dessen Reihen ihr und    H.    bereits im Jahr 2016 bei der jeweiligen Ausreise Hilfe zuteil geworden war (zum erforderlichen Verdachtsgrad hinsichtlich der für die Fluchtgefahr maßgeblichen Tatsachen s. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2018 – StB 43/18, juris Rn. 37 mwN).
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b) Die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung der Beschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) ebenso auf den dort geregelten (subsidiären) Haftgrund gestützt werden kann.
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4. Eine – bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche – Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.
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5. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Der besondere Umfang der Ermittlungen sowie deren besondere Schwierigkeit haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Der Aktenbestand umfasst mittlerweile 28 Aktenbände. Das Ermittlungsverfahren ist, auch nach der Festnahme der Beschuldigten am 7. Oktober 2021, noch mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden:
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Am 6. Oktober 2021 – dem Vorabend der Festnahme der Beschuldigten, als sie sich bereits auf dem Rückflug befand – sind in ihrem familiären Umfeld mehrere richterliche Durchsuchungsanordnungen vollzogen worden. Dabei ist unter anderem das Mobiltelefon einer ihrer Schwestern beschlagnahmt worden, dessen bisherige Auswertung mittels hierfür entwickelter Software sich aufwändig gestaltet hat. Es sind zahlreiche relevante Chatinhalte gesichert worden, die einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren betreffen. Die Maßnahme dauert an (s. Vermerke des Landeskriminalamts Berlin vom 25. Februar 2022 [Sachakte Bd. VI Bl. 110 f.] und der Generalstaatsanwaltschaft vom 14. März 2022 [Sachakte Bd. VII Bl. 1 f.]). Auch im Übrigen hat ein Schwerpunkt der Ermittlungen auf der Auswertung von auf elektronischen Datenträgern gespeicherten großen Datenmengen gelegen. Hinsichtlich einer Sprachnachricht und der Audiospur eines Videos ist für den Nachweis der Sprecheridentität ein Stimmenvergleichsgutachten des Landeskriminalamts Berlin eingeholt worden, das am 28. Februar 2022 übersandt worden ist.
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Daneben ist das Ermittlungsergebnis im hiesigen Verfahren mit denjenigen in anderen Verfahren insbesondere gegen andere sog. Syrien-Rückkehrerinnen – sowohl der Generalstaatsanwaltschaft als auch weiterer Staatsanwaltschaften – abgeglichen worden, um relevante Erkenntnisse zu verwerten und zu prüfen, ob weitere Aufklärungsmaßnahmen geboten sind. Außerdem sind Zeugen vernommen worden, etwa eine Cousine der Beschuldigten am 3. März 2022. Ergänzend wird auf den Vorlagevermerk der Generalstaatsanwaltschaft vom 22. März 2022 Bezug genommen.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat angekündigt, die Anklage Ende April 2022 zu erheben.
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6. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Schäfer                     Berg                      Erbguth


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