Strafrecht

AK 44/21

Aktenzeichen  AK 44/21

Datum:
13.10.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:131021BAK44.21.0
Normen:
§ 8 Abs 1 Nr 5 Alt 2 VStGB
Spruchkörper:
3. Strafsenat

Tenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.
1
Die Beschuldigte wurde aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. Juli 2020 (4 BGs 115/20) am 24. März 2021 festgenommen. Seither befindet sie sich ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, die Beschuldigte habe seit Sommer 2016 in R.   , H.   und anderenorts in Syrien durch zwei selbständige Handlungen sich als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 VStGB) zu begehen, durch eine dieser Handlungen zugleich im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt ein Kind unter 15 Jahren in eine bewaffnete Gruppe eingegliedert, zu dessen Verwendung zur aktiven Teilnahme an den Feindseligkeiten Hilfe geleistet sowie ihre Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter 16 Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr gebracht, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, strafbar gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 5 Variante 2 und 3 VStGB, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 171, 27, 52, 53 StGB.
II.
2
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
3
1. Gegenstand des Haftprüfungsverfahrens nach §§ 121, 122 StPO ist der vollzogene Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. Juli 2020, zu dessen Anpassung oder Erweiterung nur das gemäß § 126 Abs. 1 oder 2 StPO zuständige Gericht befugt ist. Die Haftprüfung ist grundsätzlich auf den in dem Haftbefehl erhobenen Vorwurf beschränkt. Dem Haftprüfungsgericht ist es jedenfalls verwehrt, anhand der Ermittlungsergebnisse die im Haftbefehl umschriebene prozessuale Tat auszutauschen oder den Haftbefehl über diese hinaus in tatsächlicher Hinsicht zu erweitern (s. BGH, Beschluss vom 22. Juli 2020 – AK 17/20, juris Rn. 4).
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Der Haftbefehl wirft der Beschuldigten die mitgliedschaftliche Beteiligung an der außereuropäischen terroristischen Vereinigung “Islamischer Staat” (IS) und hiermit idealkonkurrierende Delikte (§ 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB, § 171 StGB) vor. Soweit die nach Haftbefehlserlass durchgeführten weiteren Ermittlungen darauf schließen lassen, sie habe sich darüber hinaus mutmaßlich als Mitglied für die in Nordwestsyrien operierenden jihadistischen Gruppierungen “Jund al-Aqsa” und “Liwa al-Aqsa” betätigt, die ebenfalls terroristische Vereinigungen im Ausland seien, bestehen zumindest Zweifel, ob dieser Verdacht bei der vorliegenden Haftprüfung berücksichtigt werden darf. Denn bei der mitgliedschaftlichen Beteiligung an voneinander selbständigen Vereinigungen handelt es sich grundsätzlich um verschiedene Taten im prozessualen Sinne (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2017 – AK 63/17, NStZ-RR 2018, 53, 54). Die einheitliche Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht gemäß § 171 StGB wäre nicht imstande, zwei realkonkurrierende Vereinigungsdelikte nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1, 2 StGB materiell- und damit verfahrensrechtlich miteinander zu verklammern (vgl. – zum Verhältnis von § 171 und § 225 Abs. 1 StGB – MüKoStGB/Ritscher, 4. Aufl., § 171 Rn. 22). Ob hier hinsichtlich des IS und der “Jund” bzw. “Liwa al-Aqsa” eine Ausnahmekonstellation gegeben ist, die eine abweichende Bewertung zulässt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Oktober 2014 – AK 31/14, juris Rn. 17 f.; vom 6. Dezember 2017 – AK 63/17, aaO), kann dahinstehen; denn bereits die für den IS begangenen strafbaren Handlungen rechtfertigen die Haftfortdauer.
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2. Die Beschuldigte ist der ihr im Haftbefehl vorgeworfenen Taten dringend verdächtig.
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a) Im Sinne eines dringenden Tatverdachts ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:
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aa) Die in Syrien seit Februar 2011 gegen die Regierung von Bashar al-Assad schwelenden Proteste eskalierten ab dem 15. März 2011 aufgrund des repressiven und gewaltsamen Vorgehens syrischer Sicherheitskräfte, Milizen sowie der Armee gegen Demonstranten und Oppositionelle. Die dadurch bewirkte Militarisierung der Protestbewegung entwickelte sich zu einem bewaffneten Aufstand, der Anfang 2012 schließlich weite Teile des Landes erfasste und sich zu einem großflächigen Bürgerkrieg ausweitete.
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bb) Die Vereinigung “Islamischer Staat” (IS) ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region “ash-Sham” – die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina – umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden “Gottesstaat” unter Geltung der Sharia zu errichten und dazu das Regime des syrischen Präsidenten Assad und die schiitisch dominierte Regierung im Irak zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf in Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als “Feind des Islam” begreift; die Tötung solcher “Feinde” oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der IS als legitimes Mittel des Kampfes an.
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Die Führung der Vereinigung, die sich mit der Ausrufung des “Kalifats” am 29. Juni 2014 aus “Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien” (ISIG) in “Islamischer Staat” (IS) umbenannte, wodurch sie von der territorialen Selbstbeschränkung Abstand nahm, hatte von 2010 bis zu seinem Tod Ende Oktober 2019 Abu Bakr al-Baghdadi inne. Bei der Ausrufung des Kalifats erklärte der Sprecher des IS al-Baghdadi zum “Kalifen”, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Kurz nach dem Tod al-Baghdadis berief die Organisation Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraschi zu dessen Nachfolger.
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Dem Anführer des IS unterstehen ein Stellvertreter sowie “Minister” als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein “Kriegsminister” und ein “Propagandaminister”. Zur Führungsebene gehören außerdem beratende “Shura-Räte”. Veröffentlichungen werden von eigenen Medienstellen produziert und verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem “Prophetensiegel” (einem weißen Oval mit der Inschrift “Allah- Rasul – Muhammad”) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die zeitweilig über mehrere Tausend Kämpfer sind dem “Kriegsminister” unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert. Zwischen 2014 und 2017 bildete der IS in großem Umfang männliche Kinder militärisch aus, deren wichtigste Aufgaben der bewaffnete Kampf, Wachdienste, Hinrichtungen (als Teil der Öffentlichkeitsarbeit des IS) und Selbstmordanschläge waren.
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Die Vereinigung teilte von ihr besetzte Gebiete in Gouvernements ein und richtete einen Geheimdienstapparat ein; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der irakischen und syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des IS in Frage stellten, sahen sich der Verhaftung, Folter und der Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht der IS immer wieder Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So übernahm er für Anschläge in Europa, etwa in Paris, Brüssel und Berlin, die Verantwortung.
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Im Jahr 2014 gelang es dem IS, große Teile der Staatsterritorien von Syrien und dem Irak zu besetzen. Er kontrollierte die aneinander angrenzenden Gebiete Ostsyriens und des Nordwestiraks. Ab dem Jahr 2015 geriet die Vereinigung militärisch zunehmend unter Druck und musste schrittweise massive territoriale Verluste hinnehmen. Im August 2017 wurde sie aus ihrer letzten nordirakischen Hochburg in Tal Afar verdrängt. Im März 2019 galt der IS – nach der Einnahme des von seinen Kämpfern gehaltenen ostsyrischen Baghouz – sowohl im Irak als auch in Syrien als militärisch besiegt, ohne dass aber die Vereinigung als solche zerschlagen wäre.
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cc) Die Beschuldigte ist die Ehefrau des               A.       . Nach der Eheschließung am 5. Juni 1998 konvertierte sie zum Islam und erzog die beiden gemeinsamen Söhne, den älteren J.     und den jüngeren, am 15. August 2002 geborenen M.    , nach islamischen Vorstellungen. Beginnend im Jahr 2013 nahmen die religiösen Anschauungen der Eheleute zunehmend strengere Formen an. Zwischen dem 6. und 16. Juli 2015 reiste              A.       nach Syrien. Er schloss sich dort dem IS an und betätigte sich für ihn als Kämpfer. Die Beschuldigte blieb mit ihren beiden Söhnen zunächst in Deutschland. Sie begann spätestens jetzt, Videos des IS anzuschauen und Nasheeds zu hören, um sich mit der Ideologie der Vereinigung vertraut zu machen.
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Im August 2016 reiste die Beschuldigte gemeinsam mit ihrem jüngeren, damals 13 oder 14 Jahre alten Sohn M.    ebenfalls nach Syrien. Sie hatte jedenfalls mittelfristig das Ziel, mit ihrem Ehemann dauerhaft im Herrschaftsgebiet des IS nach dessen Regeln und Vorstellungen zu leben, und wollte die Ziele der Vereinigung als deren Mitglied aktiv fördern. In Syrien herrschte zum damaligen Zeitpunkt nach wie vor ein intensiver Bürgerkrieg, an dem auf der einen Seite das Regime des syrischen Präsidenten Assad mit seinen Anhängern und auf der anderen Seite eine Vielzahl, sich teils auch untereinander bekämpfender, überwiegend islamistisch motivierter bewaffneter Konfliktparteien, darunter der IS, beteiligt waren.
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Nachdem die Beschuldigte – insoweit nicht Inhalt des Haftbefehls – nach der Ankunft in Syrien gemeinsam mit ihrem Sohn M.    zunächst der jihadistischen Gruppierung “Jund al-Aqsa” und anschließend deren Nachfolgeorganisation “Liwa al-Aqsa” beigetreten war, begaben sich beide im Februar 2017 in das vom IS beherrschte Gebiet. Dort schlossen sie sich dieser Vereinigung an. Die Beschuldigte wurde vom IS zunächst in einem “Frauenhaus” untergebracht, während M.   in einem Quartier für Männer nächtigte. In der Folgezeit lebte sie unter dem Aliasnamen U.       gemeinsam mit                A.       und M.   in R.    , G.    und H.   . Schließlich hielten sich die Beschuldigte und ihr Ehemann in Baghouz, der letzten IS-Stellung in Syrien, auf, wo beide sich nach der Eroberung der Ortschaft gegnerischen Gruppen ergaben. Ihren Sohn M.    setzte sie während seines Aufenthalts in dem Bürgerkriegsgebiet den hiermit verbundenen Risiken und der Willkürherrschaft des IS aus; dem regulären Schulbesuch war er entzogen.
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Die Beschuldigte fügte sich den Regeln der Organisation und förderte deren Ziele. Zum einen war sie selbst zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt als Kämpferin für die Vereinigung tätig. Zum anderen erfüllte sie die Aufgaben, die einer Frau nach der Ideologie der Vereinigung zukommen. Insbesondere übernahm sie die Haushaltsführung, um so die Kampfkraft ihres Ehemanns und ihres Sohnes M.   , die beide auf Seiten des IS an der kriegerischen Auseinandersetzung in Syrien teilnahmen, zu erhalten und zu stärken.              A.       , der mit einem Sturmgewehr und einer Pistole ausgestattet war, war jedenfalls bis ins Frühjahr 2018 als Kämpfer der Vereinigung aktiv, M.   in einem nicht näher bekannten Zeitraum ab dem 15. August 2017. Durch die monatliche Auszahlung von Geldbeträgen zur Versorgung der Familie der Beschuldigten entlohnte der IS auch deren Einsatz für die Vereinigung.
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Die Beschuldigte und ihr Ehemann überantworteten M.   , der schon bei der “Jund al-Aqsa” an einem Kampftraining teilgenommen hatte und auf verschiedenen paramilitärischen Stützpunkten untergebracht war, einem Ausbildungslager (“Mu’askar”) der IS-Truppen. Er wurde bis zur Vollendung seines 15. Lebensjahrs religiös-ideologisch unterwiesen; anschließend erhielt er eine militärische Ausbildung. Nach deren Abschluss wurde er wiederholt von der Organisation im Rahmen von Kampfhandlungen eingesetzt. Ende März 2018 kam er im Alter von 15 Jahren ums Leben, nach den Äußerungen der Beschuldigten gegenüber ihrem älteren Sohn und einer ihrer Schwestern bei einem Luftangriff in H.   . Der Beschuldigten war bereits bei der Aufnahme des Jungen im Ausbildungslager bewusst, dass er später als Kämpfer der Vereinigung eingesetzt werden könnte. Dies entsprach ihren Wünschen; denn sie sah es – in Übereinstimmung mit der Ideologie des IS – als ihre Aufgabe an, M.   zu einem Mujahid zu erziehen.
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b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der außereuropäischen terroristischen Vereinigung “Islamischer Staat” einschließlich der Lage im syrischen Bürgerkriegsgebiet beruht auf Erkenntnissen, die der Generalbundesanwalt in den drei Stehordnern “Struktur IS” zusammengetragen hat, namentlich auf islamwissenschaftlichen Sachverständigengutachten und Auswertungsberichten des Bundeskriminalamts. Der Sachverständige   S.      hat sich ausführlich “zu den ‘Kindersoldaten’ des Islamischen Staats (IS) im Irak und Syrien” geäußert (Gutachten vom 10. Juli 2020).
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Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der Radikalisierung der Beschuldigten, ihrer Ausreise mit dem Sohn M.   nach Syrien, ihres dortigen Aufenthalts und ihrer Mitgliedschaft im IS sowie die Eingliederung M.   s in die IS-Truppen, dessen Einsatzes bei Kampfhandlungen und seines Todes ergibt sich insbesondere aus der Auswertung von Sprachnachrichten, aus den Ergebnissen der Telekommunikationsüberwachung und den Aussagen des Zeugen J.             . Der ältere Sohn der Beschuldigten ist – im Ermittlungsverfahren gegen seinen Vater und (anfänglich) seinen Bruder – sowohl polizeilich als auch ermittlungsrichterlich einvernommen worden. Insbesondere gegenüber der Polizei hat er Angaben gemacht, die auch zur Aufklärung der der Beschuldigten angelasteten Taten beizutragen geeignet sind. Soweit er bei seiner Vernehmung durch die Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts die Beschuldigte entlastend bekundet hat, sein Vater sei schon bei ihrer Ankunft in Syrien “pflegebedürftig” gewesen und habe aus gesundheitlichen Gründen nicht für den IS kämpfen können, widerspricht dies den vorherigen Angaben des Zeugen und den mittels anderer Ermittlungsmaßnahmen gewonnenen Erkenntnissen. Wegen der Einzelheiten zu den Beweisergebnissen wird Bezug genommen auf den Haftbefehl und die ihm zugrundeliegende Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 6. Juli 2020.
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Die Auswertung umfangreicher Datenbestände, die bei nach Haftbefehlserlass durchgeführten Durchsuchungen sichergestellt worden sind, haben die Verdachtslage verdichtet, dass die Beschuldigte sich am IS als Mitglied beteiligte und gemeinschaftlich mit ihrem Ehemann den damals 14-jährigen M.    einem Ausbildungslager der Organisation zuführte. Allerdings lassen insbesondere zahlreiche Sprachnachrichten darauf schließen, dass die Beschuldigte und ihr Sohn mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Einreise in Syrien nicht – wie in dem Haftbefehl geschildert – sofort dem IS, sondern zunächst der jihadistischen Gruppierung “Jund al-Aqsa” beitraten (vgl. etwa die Vermerke des Landeskriminalamts Schleswig-Holstein über die Verschriftung und Bewertung von Sprachnachrichten [in erster Linie] des M.             und [daneben] der Beschuldigten vom 19. und 22. März 2021). Dieser mutmaßliche Anschluss an eine andere Vereinigung stellt sich auch als plausibel dar. Nach den zum syrischen Bürgerkriegsgebiet vorhandenen Informationen war im Sommer 2016 aufgrund der Gebietsverluste des IS eine direkte Einreise zu ihm kaum mehr möglich. Sich der in der nordwestsyrischen Grenzregion operierenden “Jund al-Aqsa” anzuvertrauen, die wegen ihrer Strategie und Radikalität als “fünfte Kolonne des IS” im Gouvernement Idlib galt, um mittelfristig zum IS zu gelangen, erscheint vor diesem Hintergrund stimmig. Hinsichtlich der neuen Erkenntnisse wird im Übrigen auf die Zuleitungsschrift des Generalbundesanwalts vom 16. September 2021 verwiesen.
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c) In rechtlicher Hinsicht ist der unter Gliederungspunkt II. 2. a) geschilderte Sachverhalt als Kriegsverbrechen gegen Personen durch Einsatz von Kindersoldaten in Tateinheit mit mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland und mit Verletzung der Erziehungs- oder Fürsorgepflicht sowie als (weitere) mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu werten (§ 8 Abs. 1 Nr. 5 Variante 2 VStGB, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 171, 25 Abs. 1 Alternative 1, Abs. 2 StGB, §§ 52, 53 StGB).
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aa) Die Beschuldigte ist der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland dringend verdächtig, indem sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dem IS anschloss und sich für ihn auf verschiedene Weise betätigte (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB). Dies gilt sowohl unter Zugrundelegung des früher nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblichen Vereinigungsbegriffs als auch auf der Grundlage der Legaldefinition des § 129 Abs. 2 i.V.m. § 129a Abs. 1 StGB in der seit dem 22. Juli 2017 gültigen Fassung (s. zu den Voraussetzungen der mitgliedschaftlichen Beteiligung im Einzelnen BGH, Beschluss vom 14. Juli 2021 – AK 37/21, juris Rn. 34 ff.). Die der Beschuldigten vorgeworfenen Aktivitäten im IS-Herrschaftsgebiet sind als aktive Beteiligungshandlungen zu beurteilen. So verhält es sich auch bei der Haushaltführungstätigkeit, die sich angesichts der – vor allem aus den weiteren Umständen (s. oben II. 2. a) cc)) folgenden – Einbindung der Beschuldigten in den IS und ihres Ziels, im Rahmen der ihr zugedachten Rolle als Ehefrau und Mutter die Vereinigung zu fördern, nicht lediglich als bloße alltägliche Verrichtungen ohne Organisationsbezug darstellt (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 2019 – AK 22/19, BGHR StGB § 129a Abs. 1 Mitgliedschaft 5 Rn. 24 ff.; vom 3. März 2021 – AK 10/21, juris Rn. 34 mwN).
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bb) Die Beschuldigte ist des Kriegsverbrechens gegen Personen durch Einsatz von Kindersoldaten (§ 8 Abs. 1 Nr. 5 Variante 2 VStGB) dringend verdächtig. Bei Zugrundelegung des ihr vorgeworfenen Sachverhalts verwirklichte sie hochwahrscheinlich – gemeinschaftlich handelnd (§ 25 Abs. 2 StGB, § 2 VStGB) – rechtswidrig und schuldhaft diesen völkerstrafrechtlichen Tatbestand. Im Einzelnen:
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(1) In Syrien bestand im Tatzeitraum ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt im Sinne des § 8 Abs. 1 VStGB zwischen dem syrischen Regime mit offizieller Armee, Polizei, Sicherheitskräften sowie zivilen Milizen und einer Vielzahl kämpfender Gruppierungen, darunter der IS (zu dieser tatbestandlichen Voraussetzung s. BGH, Urteil vom 20. Dezember 2018 – 3 StR 236/17, BGHSt 64, 10 Rn. 74 f.).
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(2) Die Beschuldigte gliederte im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit ihrem Ehemann ihren damals 14jährigen Sohn und damit eine Person unter 15 Jahren in eine bewaffnete Gruppe ein.
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(a) Durch die Verwendung des Merkmals der bewaffneten Gruppe neben demjenigen der (staatlichen) Streitkräfte wollte der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des § 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB – den Regelungen in Art. 8 Abs. 2 Buchst. b (xxvi) und Buchst. e (vii) IStGH-Statut entsprechend – auf den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt erstrecken, der keine Beteiligung von Streitkräften voraussetzt. Aus der Orientierung an den Bestimmungen des IStGHStatuts ergibt sich, dass das Merkmal der bewaffneten Gruppe im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB ein Mindestmaß an Organisationsstruktur erfordert. Denn die entsprechende Vorschrift des Art. 8 Abs. 2 Buchst. e (vii) IStGH-Statut findet gemäß Art. 8 Abs. 2 Buchst. f IStGH-Statut nur Anwendung, wenn an einem im Hoheitsgebiet eines Staates stattfindenden bewaffneten Konflikt – gegebenenfalls neben staatlichen Streitkräften – “organisierte” bewaffnete Gruppen beteiligt sind, nicht dagegen in Fällen bloßer innerer Unruhen, Spannungen oder Tumulte.
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Der IS wies zur Tatzeit eine Organisationsstruktur auf, die über das insoweit erforderliche Mindestmaß deutlich hinausging. Die Organisation verfügte über mehrere Tausend Kämpfer, die dem “Kriegsminister” unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert waren. Dadurch war eine Struktur geschaffen worden, die es ermöglichte, unter einer verantwortlichen Führung die Kontrolle über ein Gebiet auszuüben, für die Ausbildung neuer Rekruten Sorge zu tragen und anhaltende sowie koordinierte Kampfhandlungen durchzuführen (s. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2019 – AK 56/19, BGHR VStGB § 8 Abs. 1 Nr. 5 Bewaffnete Gruppe 1 Rn. 34 f.).
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(b) Unter Eingliederung im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 5 Variante 2 VStGB ist jede Aufnahme in eine bewaffnete Einheit zu verstehen. Das ergibt sich bereits aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, wonach dieser Begriff das sinnvolle Einfügen oder Einordnen in ein größeres Ganzes bezeichnet. Dieses Verständnis entspricht demjenigen der Regelungen in Art. 8 Abs. 2 Buchst. b (xxvi) und Buchst. e (vii) IStGH-Statut, an denen sich § 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB orientiert. Das in diesen Bestimmungen verwendete Merkmal der Eingliederung erfasst ebenfalls jede faktische Aufnahme in eine bewaffnete Einheit; ein formaler Aufnahmeakt ist ebenso wenig erforderlich wie eine aktive Teilnahme an Kampfhandlungen (s. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2019 – AK 56/19, BGHR VStGB § 8 Abs. 1 Nr. 5 Bewaffnete Gruppe 1 Rn. 36 f.; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 5. Aufl., Rn. 1358).
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Das Ausbildungslager des IS, in das der am 15. August 2002 geborene Sohn der Beschuldigten auf deren Veranlassung aufgenommen wurde, stellte eine bewaffnete Einheit dar (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2019 – AK 56/19, aaO). Er war zu dem – zwischen Februar und dem 20. Juli 2017 gelegenen – Zeitpunkt, als er dem Ausbildungslager zugeführt wurde, noch keine 15 Jahre alt. Mit Beginn der Ausbildung gehörte er als Rekrut den IS-Truppen an. Zwar fehlen Beweismittel dafür, dass er mit dem Waffentraining bereits vor Vollendung seines 15. Lebensjahrs begann; daher ist hier davon auszugehen, dass er zuvor lediglich religiös-ideologisch unterwiesen wurde. Nach den dargelegten rechtlichen Maßstäben steht dies jedoch der Tatbestandsverwirklichung durch Aufnahme in die bewaffnete Einheit nicht entgegen.
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(3) Zwischen dem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt und der Eingliederung M.   s in die bewaffnete Gruppe besteht der notwendige funktionale Zusammenhang (zur Auslegung dieses Merkmals s. BGH, Urteil vom 27. Juli 2017 – 3 StR 57/17, BGHSt 62, 272 Rn. 55 mwN; Beschluss vom 17. Oktober 2019 – AK 56/19, juris Rn. 38). Denn der syrische Bürgerkrieg, an dem der IS beteiligt war, bildete den maßgeblichen Hintergrund für die Entscheidung der Beschuldigten, ihren Sohn militärisch ausbilden zu lassen.
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cc) Die Beschuldigte ist der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (§ 171 StGB) dringend verdächtig, indem sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren 13- bzw. 14-jährigen Sohn aus dem Bundesgebiet letztlich in das Herrschaftsgebiet des IS verbrachte und ihn als Angehöriger dessen Truppen militärisch ausbilden ließ. Denn nach ihrem Willen musste M.   in einem Gebiet leben, in dem er der anhaltenden Gefahr von Bombardierungen ausgesetzt war, zudem unter der Willkürherrschaft einer terroristischen Organisation. Sie nahm dies als Preis dafür in Kauf, sich der Vereinigung in Syrien anschließen zu können (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2019 – AK 56/19, BGHR StGB § 171 Verletzung der Erziehungspflicht 1 Rn. 42 f.).
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dd) Die Konkurrenzen sind wie folgt zu bewerten:
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Das Kriegsverbrechen gegen Personen gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB und die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht nach § 171 StGB stehen wegen der Teilidentität der tatbestandlichen Handlungen in Tateinheit (§ 52 StGB) zueinander. Denn indem die Beschuldigte ihren Sohn dem Ausbildungs-lager zuführte, gliederte sie ihn unter gröblicher Verletzung ihrer ihm gegenüber obliegenden Fürsorge- und Erziehungspflicht in die bewaffnete Gruppe ein. Das Herbeiführen einer Gefährdung im Sinne des § 171 StGB ist dabei als eine Tat anzusehen, auch wenn sie durch eine Vielzahl weiterer einzelner Pflichtverletzungen begangen wurde (s. BGH, Urteile vom 28. Juni 1955 – 5 StR 646/54, BGHSt 8, 92, 95 f.; vom 26. Februar 1997 – 3 StR 525/96, BGHSt 43, 1, 3; MüKoStGB/Ritscher, 4. Aufl., § 171 Rn. 22).
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Sämtliche Pflichtverletzungen stehen außerdem in Tateinheit zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland, weil sich die Beschuldigte mit den jeweiligen Handlungen als Mitglied des IS für diesen betätigte. Die mitgliedschaftlichen Betätigungsakte, die nicht gegen ein anderes Strafgesetz als §§ 129a, 129b StGB verstoßen, treten als verbleibende tatbestandliche Handlungseinheit tatmehrheitlich hinzu (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 2015 – 3 StR 537/14, BGHSt 60, 308 Rn. 23, 37 ff.; vom 20. Dezember 2016 – 3 StR 355/16, BGHR StGB § 129a Konkurrenzen 6 Rn. 5; vom 20. Februar 2019 – AK 4/19, BGHR VStGB § 8 Abs. 1 Konkurrenzen 1 Rn. 27).
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ee) Deutsches Strafrecht ist anwendbar. Dies folgt für das Kriegsverbrechen gegen Personen aus § 1 Satz 1 VStGB, für die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht aus §§ 3, 9 Abs. 1 StGB, da die Beschuldigte die mutmaßliche Tatausführung spätestens mit der Ausreise und damit in Deutschland begann. Für die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland ergibt sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts entweder unmittelbar aus § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 2 und 4 StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Juli 2009 – StB 34/09, BGHR StGB § 129b Anwendbarkeit 1; vom 6. Oktober 2016 – AK 52/16, juris Rn. 35 f.) oder aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil die Beschuldigte Deutsche ist und jedenfalls die Tat – als Anschluss an eine terroristische Organisation gemäß Art. 1 und 3 des syrischen Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom 28. Juni 2012 – auch in Syrien mit Strafe bedroht ist (s. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 3. März 2021 – AK 10/21, juris Rn. 42 mwN).
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ff) Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2, 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung liegt hinsichtlich des IS vor.
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gg) Soweit der Haftbefehl der Beschuldigten weiterhin angelastet hat, sie habe dazu Hilfe geleistet, eine Person unter 15 Jahren zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten zu verwenden (§ 8 Abs. 1 Nr. 5 Variante 3 VStGB, § 27 StGB), ist der Vorwurf durch die weiteren Ermittlungen nicht bestätigt worden; es fehlen Belege dafür, dass M.    bereits vor seinem 15. Geburtstag für den IS an Kampfhandlungen beteiligt war. Daher kann dahinstehen, wie eine derartige Strafbarkeit neben derjenigen nach § 8 Abs. 1 Nr. 5 Variante 2 VStGB, § 25 Abs. 2 StGB konkurrenzrechtlich zu bewerten ist.
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3. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität.
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a) Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich die Beschuldigte – auf freien Fuß gesetzt – dem Strafverfahren entziehen, als dass sie sich ihm zur Verfügung halten werde (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).
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aa) Die Beschuldigte hat im Fall ihrer Verurteilung mit einer empfindlichen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen. Die erste ihr vorgeworfene Tat ist im Regelstrafrahmen mit einer Einzelfreiheitsstrafe (§ 38 Abs. 2 StGB) zwischen drei Jahren und 15 Jahren (§ 8 Abs. 1 VStGB, § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB), die zweite mit einer solchen von einem Jahr bis zu zehn Jahren (§ 129a Abs. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 StGB) bedroht. Von der Straferwartung geht ein hoher Fluchtanreiz aus, der sich jedenfalls regelmäßig nach der prognostisch tatsächlich zu verbüßenden Strafhaft richtet (zur sog. Nettostraferwartung s. BGH, Beschluss vom 2. November 2016 – StB 35/16, juris Rn. 9; SSW-StPO/Herrmann, 4. Aufl., § 112 Rn. 64 f., jew. mwN).
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bb) Der hier zu stellenden Prognose ist unter anderem zugrunde zu legen, dass nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen der Aufenthalt der Beschuldigten im nordostsyrischen Flüchtlingslager al-H.    voraussichtlich nicht nach § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB auf eine Freiheitsstrafe anzurechnen sein wird.
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(1) Hierzu ist den Sachakten – namentlich der “Bewertung der Reisebewegungen der A.    s” durch das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein vom 7. April 2020, dem islamwissenschaftlichen Gutachten des Sachverständigen   S.     “zum Flüchtlingslager Al.    [al.   ]” vom 4. August 2020, der am 24. Juni 2020 übersandten Behördenerklärung des Bundesnachrichtendiensts zum “Flüchtlingslager al-H.   ” und dem Vermerk des Bundeskriminalamts über die “Befragung” der Beschuldigten vom 29. März 2021 – Folgendes zu entnehmen:
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Nachdem sich die Beschuldigte nach der Eroberung von Baghouz gemeinsam mit ihrem Ehemann gegnerischen Gruppen ergeben hatte, wurde sie in das Flüchtlingslager al-H.   verbracht. Die Beschuldigte hielt sich dort von März oder April 2019 bis zu ihrer Flucht am 17. oder 19. November 2020 auf. Es handelt sich um das größte der drei im syrischen Kurdengebiet gelegenen, von kurdischen Kräften geführten Flüchtlingslagern, in dem Frauen und Kinder von IS-Kämpfern interniert sind. Unter den etwa 70.000 Bewohnern in den Jahren 2019 und 2020 befanden sich etwa 11.000 bis 12.000 ausländische Familienangehörige von IS-Kämpfern. Das kurdische Sicherheitspersonal stuft die Familienmitglieder generell als IS-zugehörig ein. Sie sind in einem separaten Teil des Lagers untergebracht, für den schärfere Restriktionen gelten. Die Sicherheitslage im gesamten Lager ist prekär; die dortigen Lebensverhältnisse sind schwierig.
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(2) Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB für eine Anrechnung des mehr als anderthalbjährigen Lageraufenthalts liegen bei vorläufiger Bewertung nach derzeitigem Kenntnisstand nicht vor.
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Aus den Sachakten geht nicht hervor, dass Anlass für die Internierung der Beschuldigten die ihr angelastete Straftat der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der terroristischen Vereinigung IS war. Es ist nicht ersichtlich, dass der Lageraufenthalt auf ein in- oder ausländisches Strafverfahren zurückzuführen war (vgl. zu den Voraussetzungen der Anrechnung – entsprechend für die Abschiebehaft – BGH, Beschluss vom 5. August 2020 – 3 StR 231/20, juris Rn. 11; Urteil vom 1. Juli 2021 – 3 StR 473/20, juris Rn. 9 ff.). Nach den bisherigen Erkennt-nissen diente er weder dazu, die Beschuldigte auf syrischem Staatsgebiet der Ahndung einer Straftat zuzuführen, noch war er in irgendeiner Form durch Handlungen deutscher Behörden veranlasst. Vielmehr rechtfertigen insbesondere die gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen    S.      vom 4. August 2020 die Annahme, dass die kurdischen und die sie unterstützenden US-amerikanischen Kräfte präventive Zwecke verfolgten; so forderten etwa die Vertreter der syrischen Kurden und die US-Regierung die Heimatstaaten der Internierten – ohne erkennbaren Bezug zu dort geführten Strafverfahren – wiederholt erfolglos auf, ihre Staatsbürger wiederaufzunehmen.
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Infolgedessen kann dahinstehen, ob die Internierung der Beschuldigten überhaupt als Freiheitsentziehung im Sinne des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB zu beurteilen ist. Dieses Merkmal wird dahin definiert, dass jemand ohne oder gegen seinen Willen durch die öffentliche Gewalt an einem bestimmten eng umgrenzten Raum festgehalten wird (s. MüKoStGB/Maier, 4. Aufl., § 51 Rn. 12 mwN). Ob der Lageraufenthalt der Beschuldigten auf öffentlicher Gewalt beruhte, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen    S.       hatten zwar die für das Flüchtlingslager verantwortlichen kurdischen Organisationen – namentlich die Partiya Yekitiya Demokrat (PYD) und die Yekineyen Parastina Gel (YPG) – während des syrischen Bürgerkriegs in den kurdischen Gebieten unter Ausschaltung politischer Konkurrenten quasistaatliche Institutionen aufgebaut. Ob dies allein auf die Ausübung von öffentlicher Gewalt schließen lässt, könnte zweifelhaft sein.
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cc) Dem hohen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Vielmehr verfügt die Beschuldigte in Deutschland seit 2016 über keinen festen Wohnsitz mehr. Zwar hat sie familiäre Bindungen zu ihrem Sohn J.     und einer ihrer Schwestern. Diese hielten sie jedoch schon in der Vergangenheit nicht davon ab, nach Syrien auszureisen und sich dort in islamistische Organisationen einzugliedern. Die Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung lassen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass die Beschuldigte weiterhin radikal-islamische, jihadistische Ansichten vertritt und sich bislang weder vom IS noch dessen Ideologie löste (zum erforderlichen Verdachtsgrad hinsichtlich der für die Fluchtgefahr maßgeblichen Tatsachen s. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2018 – StB 43/18, juris Rn. 37 mwN). So hat sie etwa bei Telefongesprächen bis April 2020 geäußert: M.   s Tod als “shahid” (Märtyrer) erfülle sie mit Stolz; “das sei doch nichts Schlimmes”. Sie habe seine bei dem Luftangriff abgetrennte Hand gefunden, die den “Shahadafinger” gezeigt habe; dies habe sie “richtig gut” gefunden, weil es zeige, dass er noch im Augenblick seines Todes das muslimische Glaubensbekenntnis (“Shahada”) gesprochen habe und mit den Gedanken bei Allah gewesen sei.
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b) Die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung der Beschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) auch auf den dort geregelten – subsidiären – Haftgrund gestützt werden kann.
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4. Eine – bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche – Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.
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5. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Der besondere Umfang der Ermittlungen sowie deren besondere Schwierigkeit haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Der Aktenbestand umfasst mittlerweile 24 Stehordner und ein Sonderheft. Das Ermittlungsverfahren ist, insbesondere auch nach der Festnahme der Beschuldigten am 24. März 2021, mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden:
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Am 8. Juli 2020 durchgeführte Durchsuchungen bei anderen Personen haben zur Sicherung umfangreicher Datenbestände geführt. Ausgehend von den ersten Ergebnissen der Auswertung sind islamwissenschaftliche Bewertungen veranlasst worden, um die Plausibilität der Berichte des M.            in den gesicherten Sprachnachrichten zu prüfen und die geschilderten Geschehnisse zeitlich und örtlich einordnen zu können. Nach der Einreise und Festnahme der Beschuldigten ist die Auswertung der großen Datenmengen intensiv weiterbetrieben worden.
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Des Weiteren sind zur Vervollständigung der Erkenntnisse zu der Beschuldigten, ihrem Ehemann und ihrem Aufenthalt in Syrien Erkenntnisanfragen an den Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie die Verfassungsschutzabteilung des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume und Integration des Landes Schleswig-Holstein gerichtet worden. Darüber hinaus sind weitere Zeugenvernehmungen durchgeführt worden.
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Ende Juni 2021 hat das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein die Sachakten dem Generalbundesanwalt vorgelegt. Soweit die Beschuldigte in ihrer Stellungnahme vom 8. Oktober 2021 darauf hingewiesen hat, dass die Zuleitungsschrift des Generalbundesanwalts als Vorlagedatum den “25. Juni 2020” ausweist, handelt es sich ersichtlich um ein Schreibversehen. Im Anschluss hat – ausweislich der Zuleitungsschrift – die Sichtung des auf den verschiedenen Datenträgern festgestellten umfangreichen Chat- und Bildmaterials zur Vorbereitung der Anklageerhebung begonnen. Zugleich ist nach Prüfung der Erkenntnisse zu der Vereinigung “Jund aI-Aqsa” eine Verfolgungsermächtigung gemäß § 129b Abs. 1 Satz 2, 3 StGB für den vorliegenden Einzelfall beantragt und mit Schreiben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 20. Juli 2021 erteilt worden.
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Die bei der Auswertung der Datenbestände gewonnenen Erkenntnisse haben die Einholung islamwissenschaftlicher Bewertungen zu den jihadistischen Gruppierungen “Jund” und “Liwa aI-Aqsa” erforderlich gemacht. Unter dem 6. Juli 2021 ist abschließend ein Gutachten zu diesen Organisationen und deren Verbindungen zum IS, zu ihrer inneren Struktur sowie zu der Rekrutierung, dem Einsatz und der Ausbildung von Kindersoldaten in Auftrag gegeben worden. Der Generalbundesanwalt erwartet den baldigen Eingang. Die Erkenntnisse zu diesen jihadistischen Gruppierungen sind dabei relevant auch für den im Haftbefehl erhobenen Vorwurf der mitgliedschaftlichen Betätigung für den IS.
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Der Generalbundesanwalt hat eine zeitnahe Anklageerhebung, “möglichst noch” im Oktober 2021, angekündigt.
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6. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
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7. Die mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2021 angekündigte weitere Stellungnahme der Beschuldigten im Anschluss an eine zugleich beantragte Akteneinsicht ist nicht abzuwarten. Dies ist nicht geboten, nachdem die Stellungnahmefrist schon einmal antragsgemäß bis zum 7. Oktober 2021 verlängert worden ist und bereits seit dem 24. September 2021 gegen die Beschuldigte mehr als sechs Monate Untersuchungshaft vollzogen wird. Ihr bleibt es unbenommen, erneut eine Prüfung der Voraussetzungen für den weiteren Vollzug durch den Senat zu erwirken.
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Im Übrigen besteht beim Bundesgerichtshof nach § 147 Abs. 5 Satz 1 StPO vorliegend keine Zuständigkeit für die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht. Die Beschuldigte hat auch nicht vorgetragen, ein Akteneinsichtsgesuch beim zuständigen Generalbundesanwalt angebracht zu haben. Mit der Haftprüfungsentscheidung wird der mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2021 gestellte Antrag dorthin übersandt werden.
Schäfer              Berg              Voigt


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