Aktenzeichen 202 StRR 68/22
StGB § 56 Abs. 2
StGB § 263
StPO § 244 Abs. 2
StPO § 344 Abs. 2 Satz 2
StPO § 349 Abs. 2
StPO § 353
StPO § 354 Abs. 2
Leitsatz
1. Eine Aufklärungsrüge scheitert nicht daran, dass der Angeklagte keinen Beweisantrag gestellt hatte.
2. Eine positive Kriminalprognose i.S.d. § 56 Abs. 1 StGB ist nicht von vorherein ausgeschlossen, wenn die neue Tat während des Laufs einer Bewährungsfrist begangen wurde.
3. Sind nach Tatbegehung neue Umstände eingetreten, die die Einschätzung rechtfertigen, dass die Ursachen für die frühere Delinquenz beseitigt sind (hier: deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Angeklagten), ist es rechtsfehlerhaft, wenn der Tatrichter dem mit dem bloßen Hinweis auf das strafrechtliche Vorleben für die Kriminalprognose keine Bedeutung beimisst.
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 04.03.2022 – unter Aufrechterhaltung der tatsächlichen Feststellungen – aufgehoben, soweit das Landgericht von einer Strafaussetzung zur Bewährung abgesehen hat.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
III. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 09.09.2021 wegen Betrugs in 2 Fällen (begangen am 19.11.2019 und 17.04.2020) unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einer Vorverurteilung zur Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft, die ihr Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hatte, verhängte die Berufungskammer mit Urteil vom 04.03.2022 eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten und verwarf die beiderseitigen Berufungen im Übrigen. Gegen diese Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit dem Rechtsmittel der Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
II.
Die Revision hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Rechtsmittel deckt zum Schuldspruch und zur Straffestsetzung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
a) Die Aufklärungsrüge, mit der geltend gemacht wird, das Gericht habe es zu ermitteln unterlassen, dass der Angeklagte an einer psychischen Erkrankung in Form einer Depression gelitten habe, ist unzulässig, weil sie den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht gerecht wird. Hiernach ist es erforderlich, dass Umstände dargetan werden, die den Schluss zulassen, dass sich das Gericht zur weiteren Aufklärung gedrängt sehen musste (vgl. hierzu nur BGH, Urt. v. 03.03.2022 – 5 StR 366/21 bei juris; 29.06.2021 – 1 StR 287/20 bei juris; 31.10.2019 – 1 StR 219/17 = AG 2020, 93 = JR 2020, 387 = wistra 2020, 379 = StV 2020, 751; 12.09.2019 – 4 StR 146/19 = NStZ 2020, 297; 18.07.2019 – 5 StR 649/18 = NStZ 2020, 163 = wistra 2020, 207 = RdTW 2021, 386).
aa) Zwar scheitert die Aufklärungsrüge nicht etwa daran, dass der Angeklagte keinen Beweisantrag gestellt hatte (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 12.02.2020 – 1 StR 451/19 = NStZ 2020, 497 = StV 2020, 827; 13.07.2016 – 2 StR 116/16 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Aufklärungspflicht 1 = StV 2017, 789, jew. m.w.N.). Denn es liegt gerade im Wesen der Aufklärungspflicht, dass diese – wie aus dem eindeutigen Wortlaut des § 244 Abs. 2 StPO folgt – von Amts wegen zu erfüllen ist, also gerade keinen entsprechenden Antrag voraussetzt. Aus dem Fehlen eines Beweisantrags kann also keineswegs geschlossen werden, dass sich das Gericht nicht zu weiterer Aufklärung gedrängt sehen musste. Lediglich im umgekehrten Fall kann ein Vorbringen in einem Beweisantrag ggf. Anlass zu weiterer Aufklärung sein.
bb) Indes trägt die Revision keine hinreichenden Umstände vor, aus denen sich für das Tatgericht ein Hinweis auf eine psychische Erkrankung des Angeklagten zum jeweiligen Tatzeitpunkt mit der Folge ergeben hätte, dass sich die Berufungskammer zu weiterer Beweisaufnahme gedrängt sehen musste. Der Umstand, dass der Angeklagte nach den Feststellungen der Berufungskammer unter „Atemproblemen“ leidet, stellt für sich genommen keinen Anhaltspunkt dafür dar, dass eine psychische Erkrankung in Form einer Depression oder dergleichen bestanden habe. Nichts anderes gilt im Ergebnis, soweit sich die Revision darauf beruft, dass sich der Angeklagte nach der Begehung der Taten bei der Wahrnehmung von Terminen der Bewährungshilfe als „unzuverlässig“ erwiesen hat.
b) Die Nachprüfung des Berufungsurteils aufgrund der Sachrüge hat zum Schuldspruch und zur Straffestsetzung ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
2. Dagegen hält die Entscheidung der Berufungskammer, die Vollstreckung der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe nicht zur Bewährung auszusetzen, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Das Landgericht hat vor allem mit Blick auf die Vorverurteilungen und das Bewährungsversagen eine günstige „Sozialprognose“ verneint und dabei maßgebliche Gesichtspunkte, die für die nach § 56 Abs. 1 StGB zu stellende Kriminalprognose von Bedeutung sind, zwar erkannt, aber nicht rechtsfehlerfrei gewichtet.
aa) Allerdings entspricht es gefestigter Rechtsprechung des Senats, dass einem Bewährungsbruch ganz erhebliche Bedeutung für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB zukommt (BayObLG, Urt. v. 01.04.2022 – 202 StRR 35/22; 24.09.2021 – 202 StRR 98/21, jew. bei juris). Denn die Begehung von Straftaten während laufender Bewährung belegt grundsätzlich, dass die frühere Prognose falsch war.
bb) Gleichwohl schließt ein Bewährungsversagen eine nochmalige Strafaussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus (BGH, Urt. v. 14.04.2022 – 5 StR 313/21 bei juris; Beschluss vom 21.03.2012 – 1 StR 100/12 = NStZ-RR 2012, 201; Urt. v. 22.07.2010 – 5 StR 204/10 = NStZ-RR 2010, 306; 10.11.2004 – 1 StR 339/04 = NStZ-RR 2005, 38; Beschl. vom 04.01.1991 – 5 StR 573/90 = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 15; BayObLG a.a.O.). Freilich kann in solchen Fällen eine günstige Prognose nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Gesichtspunkte infrage kommen. Im Falle der nochmaligen Bewilligung von Strafaussetzung zur Bewährung ist deshalb eine sorgfältige Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte geboten, in die vor allem Umstände einzubeziehen sind, die der Tatbegehung zeitlich nachfolgten (BayObLG a.a.O.).
cc) Die Berufungskammer hat diese Grundsätze im Ansatz nicht verkannt, sondern bei der Prognoseentscheidung auch berücksichtigt, dass sich die finanzielle Situation des Angeklagten mittlerweile gebessert hat und die Taten längere Zeit zurückliegen. Jedoch hat es diesen Gesichtspunkten mit nicht tragfähigen Überlegungen keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.
(1) Der Hinweis der Berufungskammer darauf, dass der Angeklagte mehrfach vorbestraft ist und die verfahrensgegenständlichen Taten während laufender Bewährungszeit begangen hat, vermag insbesondere den Gesichtspunkt der nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die nach Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten eingetreten ist, nicht zu entkräften. Das Landgericht hat dabei vor allem dem Umstand nicht ausreichend Rechnung getragen, dass, wie sich aus der detaillierten Schilderung der zugrunde liegenden Sachverhalte im Berufungsurteil ergibt, sämtliche Vorstrafen ausschließlich auf die beengte wirtschaftliche Situation des Angeklagten zurückzuführen waren, der in jungen Jahren den landwirtschaftlichen Betrieb seiner früh verstorbenen Eltern im Jahr 2003/2004 übernehmen musste und sich von vornherein einer Schuldenlast in Höhe von ca. 650.000 Euro, die zu erheblichen Liquiditätsengpässen führte, ausgesetzt sah. Die Haupteinnahmequellen, nämlich die Milchgeldzahlungen in Höhe von 6.000 Euro monatlich und die Einnahmen aus Ausgleichszulagen in Höhe von ca. 36.500 Euro jährlich, waren zu den Tatzeitpunkten wegen Steuerschulden, die sich im Jahr 2019 noch auf ca. 140.000 Euro beliefen, an das Finanzamt abgetreten bzw. von diesem gepfändet. Die monatlichen Einnahmen aus einer Photovoltaikanlage waren wegen eines Darlehens in Höhe von ca. 100.000 Euro von einem Kreditinstitut gepfändet. Bis Ende 2021 wurden nach den Urteilsfeststellungen, die auf der Vernehmung des Steuerberaters des Angeklagten basieren, die Steuerschulden und die Verbindlichkeiten gegenüber der Bank aufgrund von Vollstreckungsmaßnahmen bzw. Tilgungsleistungen vollständig zurückgeführt. Bei Berücksichtigung dieser deutlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation einerseits und des Umstands andererseits, dass die Vorstrafen ebenso wie die verfahrensgegenständlichen Taten gerade ihren Ursprung in den früher vorherrschenden Liquiditätsengpässen hatten, vermag der Hinweis des Landgerichts auf die Vorverurteilungen und das Bewährungsversagen eine negative Kriminalprognose für sich genommen nicht zu rechtfertigen. Ein solches Verständnis würde darauf hinauslaufen, dass nachträglich eingetretenen Umständen von vornherein keine Bedeutung zukäme, was mit § 56 Abs. 1 StGB nicht in Einklang stünde. Denn für die nach dieser Vorschrift vorzunehmende Prognose kommt es gerade auf den Zeitpunkt der jetzigen Entscheidung an (vgl. nur BGH, Beschluss vom 30.04.2019 – 2 StR 545/18 = NStZ-RR 2019, 242 = StraFo 2019, 338 = StV 2019, 734 = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 35).
(2) Auch die zusätzlichen Erwägungen der Berufungskammer, die auf die „Zusammenarbeit“ des Angeklagten mit der Bewährungshilfe abstellen, vermögen die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung nicht zu rechtfertigen. Hiernach habe der Angeklagte bis August 2021 die Termine bei der zuständigen Bewährungshelferin noch ordnungsgemäß wahrgenommen. In der Folgezeit sei er aber „unzuverlässig“ geworden; vereinbarte Termine habe er kurzfristig verschoben. Diese Wertungen sind schon nicht hinreichend mit Tatsachenfeststellungen belegt, sodass der Senat nicht beurteilen kann, wie oft und aus welchen Gründen der Angeklagte um Terminsverlegungen nachgesucht hat. Zudem bleibt offen, welche Auswirkungen dies auf die Kriminalprognose haben soll. Die von der Bewährungshelferin bei ihrer Vernehmung geschilderte Ablehnung einer „Schuldnerberatung“ durch den Angeklagten stellt für sich genommen mit Blick auf die Betreuung durch den Steuerberater einerseits und die deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation andererseits ebenfalls keinen Gesichtspunkt dar, der im Rahmen des § 56 Abs. 1 StGB von Bedeutung wäre.
(3) Soweit die Berufungskammer bei der Prognoseentscheidung nach § 56 Abs. 1 StGB berücksichtigt hat, dass der Angeklagte in der Vergangenheit Bewährungsauflagen in Form von Geldzahlungen nur unzureichend nachgekommen war, ist dies insbesondere im Hinblick auf die prekäre wirtschaftliche Situation, in der sich der Angeklagte damals befand, und die Rückführung der bestehenden Verbindlichkeiten gegenüber Gläubigern kein Umstand, der einer günstigen Legalprognose entgegensteht. Im Gegenteil hätte das bewährungsaufsichtsführende Gericht vielmehr eine Abänderung der Bewährungsauflagen in Erwägung ziehen müssen.
b) Diese Rechtsfehler, die dem Landgericht bei der Kriminalprognose unterlaufen sind, haften auch den hilfsweisen Erwägungen, mit denen die Berufungskammer besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB verneint hat, an. Denn in die gebotene Gesamtschau wären auch die erhebliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im allgemeinen und vor allem die hieraus möglicherweise resultierenden Auswirkungen auf die Kriminalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB im besonderen einzubeziehen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 30.04.2019 – 2 StR 545/18 a.a.O.; 28.06.2018 – 1 StR 171/18 = StV 2019, 559; 23.01.2018 – 3 StR 654/17 = NStZ-RR 2018, 105; 10.05.2016 – 4 StR 25/16 = StraFo 2016, 425; BayObLG, Beschluss vom 08.12.2020 – 202 StRR 123/20 = Blutalkohol 58 [2021], 34; StV 2022, 27 = VerkMitt 2021, Nr 22).
III.
Aufgrund der aufgezeigten Rechtsfehler ist das Urteil des Landgerichts auf die Revision des Angeklagten in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, insoweit auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Einer Aufhebung der fehlerfrei getroffenen Feststellungen bedarf es nicht (§ 353 Abs. 2 StPO). Die neue Strafkammer kann ergänzende Feststellungen treffen, soweit sie mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.