Strafrecht

Beschwerde, Hauptverhandlung, Haftbefehl, Angeklagter, Zustellung, Angeklagte, Staatsanwaltschaft, Generalstaatsanwaltschaft, Strafkammer, Angeklagten, Feststellung, Kenntnis, Ladung, Deutschkenntnisse, nicht ausreichend

Aktenzeichen  Ws 684/21

Datum:
10.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 23147
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 40 Abs. 1, § 37 Abs. 1, § 230 Abs 2
ZPO § 186 Abs. 2

 

Leitsatz

Damit ein der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtiger Angeklagter bei einer öffentlichen Zustellung Kenntnis davon erlangen kann, dass ihm eine Ladung zu einem Termin zugestellt werden soll, er das zuzustellende Schriftstück einsehen kann und ihm bei unentschuldigtem Fernbleiben zum Termin Rechtsnachteile drohen, also auch ein Haftbefehl ergehen kann, muss die Benachrichtigung gemäß §§ 40 Abs. 1, 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 2 Satz 5 ZPO sowohl in deutscher wie in der dem Angeklagten verständlichen Sprache an der Gerichtstafel ausgehängt werden.

Verfahrensgang

7 KLs 359 Js 25243/16 (2) 2021-05-27 LGNUERNBERGFUERTH LG Nürnberg-Fürth

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 27.05.2021 aufgehoben.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahren und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.
Der Angeklagte K wurde durch Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 22.02.2018 wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen wurde er freigesprochen. Zudem erließ die 1. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth am 22.02.2018 gegen den Beschwerdeführer einen an den verurteilten Sachverhalt angepassten Haftbefehl.
Mit Beschluss vom 28.09.2018 hob das Oberlandesgericht Nürnberg diesen Haftbefehl auf die Beschwerde des Angeklagten wegen eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen auf.
Mit Beschluss vom 10.10.2019 hat der Bundesgerichtshof auf Revision des Beschwerdeführers das genannte Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth im Strafausspruch und im Ausspruch über die Dauer des Vorwegvollzugs aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt wurde. Die weitergehende Revision wurde verworfen.
Nach Ermittlung der ladungsfähigen Anschrift des Beschwerdeführers im Weg der Rechtshilfe hat das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Verfügung vom 12.10.2020 Termin zur Hauptverhandlung bestimmt für Dienstag, 18.05.2021, sowie zwei Fortsetzungstermine, und den Beschwerdeführer im Wege Rechtshilfe zum Termin geladen.
Mit Schreiben vom 04.02.2021 teilte die Staatsanwaltschaft des Bezirks Kaunas in Litauen mit, dass der Beschwerdeführer nicht auffindbar sei, er wohne nicht unter im Rechtshilfeersuchen angegebenen Adresse.
Da alle Bemühungen der Strafkammer, eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten zu ermitteln, erfolglos blieben, hat das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Beschluss vom 03.03.2021 die öffentliche Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung angeordnet. Zudem wurde die Terminsladung im Bundesanzeiger am 09.03.2021 wie folgt veröffentlicht:
„Öffentliche Zustellung K O – Landgericht Nürnberg-Fürth – 7 KLs 359 Js 25243/16 (2)“
Die an die Gerichtstafel angeheftete Benachrichtigung lautete:
„Öffentliche Zustellung vom 03.03.2021 An den Angeklagten zu 2 K O, letzte bekannte Adresse K, wird ein Schriftstück vom 03.03.2021 öffentlich zugestellt.
Das Schriftstück kann in den Räumen d. Abteilung für Strafsachen des Landgerichts Nürnberg-Fürth, F. Str. 110, 9… N., Zimmer 260 2. Stock, eingesehen werden.
Mit der Zustellung können Fristen in Gang gesetzt werden, nach deren Ablauf Rechtsverluste drohen können.
Das zuzustellende Schriftstück enthält die Ladung zu einem Termin, dessen Versäumung Rechtsnachteile zur Folge haben kann.
Hinweis:
Die öffentliche Zustellung wird nach Ablauf von 2 Wochen ab Aushang dieser Benachrichtigung wirksam.“
Die bei den Akten befindliche Ladung, die eingesehen hätte werden können, enthielt den Hinweis, dass im Falle des unentschuldigten Ausbleibens die Vorführung angeordnet werden oder Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO erlassen werden kann. Ladung und Hinweis befanden sich sowohl in deutscher wie litauischer Sprache in den Akten.
Aufgrund der Hauptverhandlung vom 18.05.2021, zu welcher der Angeklagte K unentschuldigt nicht erschienen ist, erließ das Landgericht Nürnberg-Fürth am 27.05.2021 gegen diesen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO.
Gegen den Haftbefehl hat der Verteidiger des Angeklagten mit Schreiben vom 02.06.2021 Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, dass der Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO nicht hätte erlassen werden dürfen, da die Benachrichtigung an der Gerichtstafel und die Veröffentlichung im Bundesanzeiger nicht in der dem Angeklagten allein verständlichen litauischen Sprache erfolgt sei.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat mit Verfügung vom 28.06.2021 zur Beschwerde des Angeklagten eine Stellungnahme abgegeben. Sie ist der Ansicht, dass es auf das Vorbringen der Verteidigung nicht ankomme, da der Angeklagte hinreichende Deutschkenntnisse habe.
Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat der Beschwerde mit Beschluss vom 30.06.2021 nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg hat mit Schreiben vom 15.07.2021 beantragt, die Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet zu verwerfen, dass der dem Haftbefehl zugrunde liegende Sachverhalt noch ergänzt wird.
Der Verteidiger des Angeklagten hat mit Schreiben vom 30.07.2021 zu den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft eine weitere Stellungnahme abgegeben.
Der Senat nimmt im Übrigen auf die genannten Entscheidungen, Verfügungen und Schreiben vollumfänglich Bezug.
II.
Die zulässige Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache Erfolg. Der Haftbefehl ist aufzuheben.
Die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO waren vorliegend nicht gegeben.
1. Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO ist – neben der Feststellung, dass der Angeklagte nicht erschienen und sein Ausbleiben nicht entschuldigt ist – eine ordnungsgemäße Ladung gemäß § 216 Abs. 1 StPO mit der Warnung, dass im Falle seines unentschuldigten Ausbleibens seine Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde. Zwar gehören Ladungen nach § 187 Abs. 2 GVG in der Regel nicht zu den zu übersetzenden Schriftstücken (OLG Köln, NStZ-RR 2015, 317, beck-online). Bei einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten ist es aber für den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO erforderlich, bei der Ladung zur Hauptverhandlung jedenfalls die Warnung über die drohenden Maßnahmen im Falle des unentschuldigten Ausbleibens in eine ihm verständliche Sprache zu übersetzen (OLG Saarbrücken NStZ-RR 2010, 49; OLG Bremen, Beschluss vom 28. 4. 2005, Ws 15/05, beck-online; OLG Dresden Beschluss vom 14.11.2007, 1 Ws 288/07, beck-online; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. § 230, Rn 21a, § 216 Rdn. 4; Gmel in KK-StPO, 8. Auflage, § 216 Rn 5, 230 Rn 10).
2. Wird die Ladung öffentlich zugestellt, ist die nach §§ 40 Abs. 1, 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 2 ZPO vorzunehmende Benachrichtigung bei einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten auch in einer ihm verständlichen Sprache an der Gerichtstafel auszuhängen.
a. Gemäß §§ 40 Abs. 1, 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 2 ZPO ist bei einer öffentlichen Zustellung eine Benachrichtigung an der Gerichtstafel auszuhängen, aus der sich der Name der Person, für die zugestellt werden soll, deren letzte bekannte Anschrift, das Datum, das Aktenzeichen und die Bezeichnung des Prozessgegenstands, vorliegend also eine Ladung zu einem Termin, und die Stelle, an der das Schriftstück eingesehen werden kann, ersichtlich sind. Zudem muss die Benachrichtigung den Hinweis enthalten, dass insoweit Fristen in Gang gesetzt werden können und bei deren Ablauf Rechtsverluste drohen können, sowie bei Ladungen zu einem Termin, dass dessen Versäumung Rechtsnachteile zur Folge haben kann (§ 186 Abs. 2 Satz 5 ZPO). Fehlt dieser Hinweis, ist die Zustellung unwirksam (OLG Stuttgart, Beschluss vom 05. Februar 2007, 4 Ws 391/06, juris).
b. Sinn und Zweck des Aushangs der Benachrichtigung an der Gerichtstafel ist, dass der Zustellungsempfänger erfahren kann, dass ein Schriftstück an ihn zugestellt werden soll, Dritte von dem Inhalt des zuzustellenden Schriftstücks aber keine Kenntnis erlangen. Zugleich soll er auf Rechtsnachteile bei der Versäumung des Termins hingewiesen werden (vgl. OLG Köln aaO). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll mit dem Verweis auf § 186 ZPO auch in Strafverfahren eine „Prangerwirkung“ durch den Aushang des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen entfallen (Bundestagsdrucksache 15/3482, S. 20).
Damit ein der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtiger Angeklagter bei einer öffentlichen Zustellung Kenntnis davon erlangen kann, dass ihm eine Ladung zu einem Termin zugestellt werden soll, er das zuzustellende Schriftstück einsehen kann und ihm bei unentschuldigtem Fernbleiben zum Termin Rechtsnachteile drohen, also auch ein Haftbefehl ergehen kann, muss die Benachrichtigung gemäß §§ 40 Abs. 1, 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 2 Satz 5 ZPO sowohl in deutscher wie in der dem Angeklagten verständlichen Sprache an der Gerichtstafel ausgehängt werden. Nur so wird gewährleistet, dass der Angeklagte von der bei der Ladung zu übersetzenden Warnung über die drohenden Maßnahmen im Falle des unentschuldigten Ausbleibens erfahren kann.
Nicht ausreichend ist, dass die übersetzte Ladung mit der Warnung in der Geschäftsstelle aufliegt und der Angeklagte diese dort einsehen kann, da er aufgrund des fehlenden Hinweises in einer ihm verständlichen Sprache in der ausgehängten Benachrichtigung keinen Anlass hat, dort vorzusprechen.
3. Der Angeklagte verfügt nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, so dass die Benachrichtigung an der Gerichtstafel ausschließlich in deutscher Sprache nicht ausreichend war.
Der Angeklagte K ist litauischer Staatsangehöriger. Aus den Akten ergibt sich nicht, dass er der deutschen Sprache soweit mächtig wäre, dass er die Benachrichtigung in deutscher Sprache mit dem Hinweis auf die drohenden Rechtsverluste und Rechtsnachteile bei Versäumung des Termins hätte verstehen können. Bei den Gesprächen des Angeklagten mit seiner vormaligen Verteidigerin und bei seiner Exploration durch den Sachverständigen L wurden Dolmetscher zugezogen. Ebenso bei der Eröffnung des Haftbefehls und der mündlichen Haftprüfung durch das Amtsgericht Nürnberg, sowie bei sämtlichen Hauptverhandlungsterminen vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth.
Die Feststellung im Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 22.02.2018, dass der Angeklagte zumindest über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügt, ändert daran ebenso wenig, wie der Hinweis auf ein am 22.03.2017 eingegangenes handschriftliches Schreiben des Angeklagten (Bl. 1299 d.A.), welches in deutscher Sprache verfasst ist. Es ist gerichtsbekannt, dass für sprachunkundige Gefangene nicht selten Mitgefangene Schreiben erstellen, die vom Absender nur noch unterschrieben werden.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 StPO analog.


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