Aktenzeichen 2 Ws 283/22
Leitsatz
Verfahrensgang
20 KLs 458 Js 161197/19 2022-04-26 Bes LGMUENCHENI LG München I
Tenor
I. Die Beschwerde des Angeklagten vom 28. März 2022 gegen die in Ziffer I. 2 b) des Haftbeschränkungsbeschlusses des Amtsgerichts München vom 28. Juni 2019 getroffene Anordnung zur Überwachung der Telekommunikation wird als unbegründet verworfen.
II. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht München erließ gegen den Angeklagten am 28.06.2019 einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts der Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes und Nötigung. Mit weiterem Beschluss vom selben Tag ordnete das Amtsgericht gemäß § 119 Abs. 1 StPO haftgrundbezogene Beschränkungen während der Untersuchungshaft an. Unter Ziffer I 2) jenes Beschlusses wurde unter anderem bestimmt, dass Telekommunikation des Angeklagten der Erlaubnis bedarf und ggf. zu überwachen ist. Die Staatsanwaltschaft München I, der in dem genannten Beschluss die Ausführung der Beschränkungsanordnungen übertragen wurde, erteilte in der Folge Erlaubnisse für Telefonate zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern.
Im Anschluss an die Haftbefehlseröffnung wurde der Angeklagte noch am 28.06.2019 aufgrund einer in anderer Sache rechtskräftig angeordneten Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB in das I.-A.-Klinikum verbracht. Von dort wurde er am 11.07.2019 in das Bezirkskrankenhaus S. verlegt, wo er seither untergebracht ist. Wegen des Haftbefehls in der vorliegenden Sache bestand durchgehend Überhaft.
Mit Urteil vom 13.07.2021 sprach die Jugendkammer des Landgerichts München I den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und Nötigung schuldig, verhängte gegen ihn eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und ordnete seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Durch Beschluss vom selben Tag erhielt die Kammer den Haftbefehl nach Maßgabe des Urteils aufrecht.
Auf Revision des Angeklagten hob der Bundesgerichtshof das genannte Urteil am 22.03.2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen auf. Die weitergehende Revision wurde als unbegründet verworfen. Im Umfang der Aufhebung wurde die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Mit Verfügung vom 02.05.2022 wurden die Akten nach Abschluss des Revisionsverfahrens an die Staatsanwaltschaft München zurückgeleitet, wo sie am 05.05.2022 eingingen.
Der Verteidiger des Angeklagten beantragte mit Schreiben vom 28.03.2022 gegenüber dem Landgericht München I, die Anordnung über die akustische Überwachung der Telefonate zwischen dem Angeklagten und dessen Eltern aufzuheben. Da der Angeklagte die abgeurteilte Tat gestanden habe und eine erstinstanzliche Verurteilung erfolgt sei, sei die Überwachungsanordnung nicht mehr notwendig und daher unverhältnismäßig. Aufgrund der hohen Intensität des mit der Telekommunikationsüberwachung verbundenen Grundrechtseingriffs käme eine Aufrechterhaltung der Anordnung nur in Betracht, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Angeklagte nicht überwachte Telefonate für eine Gefährdung der Haftzwecke missbrauchen würde; die bloße Möglichkeit eines solchen Missbrauchs reiche nicht aus.
Das Landgericht hat den Antrag als Beschwerde gegen die genannte Anordnung in dem Haftbeschränkungsbeschluss des Amtsgerichts ausgelegt. Mit Beschluss vom 26.04.2022 hat es der Beschwerde nicht abgeholfen und den Antrag, die Überwachung der Telekommunikation aufzuheben, zurückgewiesen. Die Eltern des Angeklagten kämen im Rahmen des nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens als Zeugen in Betracht. Der Umstand, dass der Angeklagte den Tatvorwurf eingeräumt habe, ändere hieran nichts, da insbesondere Angaben der Eltern zur psychischen Verfassung des Angeklagten vor und während der Tat Bedeutung für das weitere Verfahren erlangen könnten. Vor diesem Hintergrund sei eine Fortdauer der akustischen Überwachung von Telefonaten zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern auch unter Berücksichtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Schutzes der Familie (Art. 6 GG) weiterhin erforderlich und verhältnismäßig, zumal der Angeklagte bereits im Ermittlungsverfahren erfolgreich angeordnete Überwachungsmaßnahmen umgangen habe. Dem Angeklagten und seinem Verteidiger wurde mit Verfügung vom 26.04.2022 jeweils eine Abschrift des Nichtabhilfebeschlusses übersandt.
Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Schreiben vom 13.05.2022 die Verwerfung des Rechtsmittels als unbegründet beantragt.
II.
1) Gemäß § 119 Abs. 5 StPO war der Antrag des Angeklagten als Beschwerde gegen die der Telekommunikationsüberwachung zugrundeliegende Anordnung in dem Beschränkungsbeschluss vom 28.06.2019 auszulegen, da eine solche nach § 304 Abs. 1 StPO statthaft ist. Das Rechtsmittel ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Angeklagte, obgleich er sich gegenwärtig im Vollzug einer Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB befindet, nach wie vor von der Anordnung beschwert, weil sie gemäß § 119 Abs. 6 StPO aufgrund der angeordneten Überhaft fortgilt.
2) In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Denn die Voraussetzungen für eine Überwachung der Telekommunikation des Angeklagten mit seinen Eltern liegen weiterhin vor.
Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 2 StPO kann das Haftgericht anordnen, dass Telekommunikation eines Untersuchungsgefangenen überwacht wird, soweit dies unter anderem zur Abwehr von Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Das gilt auch dann, wenn sich der Haftbefehl – wie hier – auf einen anderen Haftgrund stützt (Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, 2019, § 119, Rn 16).
Im vorliegenden Fall besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Angeklagte unüberwachte Telefonate mit seinen Eltern zu Verdunkelungshandlungen missbrauchen würde. Dass er die verfahrensgegenständliche Tat eingeräumt hat und der gegen ihn ergangene Schuldspruch rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Denn aufgrund der Teilaufhebung des Urteils ist über den Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln, und aus in dem Urteil wiedergegebenen Äußerungen des Angeklagten gegenüber seinen Therapeuten ergibt sich, dass er mit Nachdruck eine Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB auch im vorliegenden Verfahren anstrebt (vgl. insbesondere Bl. 51 der Urteilsgründe, sechster Absatz). Angesichts dessen liegt es nahe, dass der Angeklagte einen Wegfall der Telekommunikationsüberwachung zu nutzen versuchen würde, um in Telefonaten mit seinen Eltern manipulativ darauf hinzuwirken, dass diese in der neuen Verhandlung als Zeugen Angaben zu seiner psychischen Verfassung vor der Tat machen, die geeignet wären, den Rechtsfolgenausspruch im erläuterten Sinne zu seinen Gunsten zu beeinflussen (gemäß § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO stünde das Verschlechterungsverbot der Anordnung einer Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB in der neuen Verhandlung nicht entgegen).
Konkreter Anhalt dafür, dass der Angeklagte eine Aufhebung der Telekommunikationsüberwachungsanordnung zu entsprechenden Verdunkelungshandlungen nutzen würde, resultiert daraus, dass er im Ermittlungsverfahren gezielt eine angeordnete Haftbeschränkung umging: Aufgrund der diesbezüglichen Ausführungen im vorletzten Absatz auf Seite 3 des Nichtabhilfebeschlusses hat der Senat die seinerzeitige Berichterstatterin des Hauptsachverfahrens vor der 20. Strafkammer des Landgerichts München I, Frau Richterin am Landgericht P., zu dem konkreten Hintergrund des dort erwähnten Vorfalls befragt. Diese erklärte, dass eine als sachverständige Zeugin vernommene Ärztin des BKH S. im Hauptverhandlungstermin vom 14.04.2021 ausgesagt habe, der Angeklagte sei zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm die erforderliche Erlaubnis, Telefonate zu führen, noch nicht vorlag, an einen im Besitz einer Telefonkarte befindlichen Mitpatienten herangetreten und habe diesen dazu überredet, ihm – dem Angeklagten – die Telefonkarte vorübergehend zu überlassen, um damit ein unüberwachtes Telefonat mit seinen Eltern zu führen. Der Senat hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass Frau Richterin am Landgericht P. die Aussage der Ärztin zutreffend wiedergegeben hat. Dass deren Angaben nicht den Tatsachen entsprechen, sondern gleichsam aus der Luft gegriffen sind, ist auszuschließen. Der Senat teilt die Bewertung des Landgerichts, wonach aus jenem Vorfall eine grundsätzliche Bereitschaft des Angeklagten zu einer Gefährdung der Haftzwecke mittels gezielter Manipulationen abzuleiten ist.
Da mildere Mittel zur Verhinderung einer manipulativen Einflussnahme des Angeklagten auf seine in der neuen Verhandlung als Zeugen in Betracht kommenden Eltern nicht gegeben sind, ist die Aufrechterhaltung der beschwerdegegenständlichen Anordnung auch nicht unverhältnismäßig. Das durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation hat unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen.
3) Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.