Strafrecht

Erforderlichkeit eines Fahreignungsgutachtens bei gelegentlichem Cannabiskonsumenten nach erstmaliger Drogenfahrt

Aktenzeichen  11 CS 17.1058

Datum:
10.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2017, 120231
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV FeV § 11 Abs. 7, § 14 Abs. 1 Satz 3, § 46 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, Nr. 9.2.2 der Anlage 4

 

Leitsatz

Die Fahrerlaubnisbehörde kann bei einem gelegentlichen Cannabiskonsumenten nach einer erstmaligen Fahrt mit einem Kraftfahrzeug unter der Wirkung von Cannabis grundsätzlich nicht gemäß § 11 Abs. 7 FeV ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen von der Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgehen. Vielmehr sieht § 14 Abs. 1 S. 3 FeV hierfür die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung im Ermessenswege vor. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 6 S 17.141 2017-05-04 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 4. Mai 2017 wird in Nr. I aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Landratsamts Freising vom 9. Dezember 2016 wird wiederhergestellt. Der Antragsgegner wird angewiesen, dem Antragsteller den Führerschein bis zur Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache wieder auszuhändigen oder ihm im Falle der Unbrauchbarmachung des Führerscheins ein vorläufiges Ersatzdokument auszustellen.
II. Unter Abänderung der Nr. II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts trägt der Antragsgegner die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1, B und L.
Mit Bußgeldbescheid vom 9. September 2016, rechtskräftig seit 28. September 2016, verhängte das Bayerische Polizeiverwaltungsamt wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG ein Bußgeld sowie ein einmonatiges Fahrverbot gegen den Antragsteller. Dem lag zu Grunde, dass der Antragsteller gemäß dem Gutachten des Forensisch T. C. GmbH München vom 31. Juli 2016 am 8. Juli 2016 mit einer Konzentration von 1,4 ng/ml Tetrahydrocannabinol (THC), 1,0 ng/ml Hydroxy-THC und 29,9 ng/ml THC-Carbonsäure mit einem Kraftfahrzeug am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen hatte.
Nach Anhörung entzog das Landratsamt Freising (im Folgenden: Landratsamt) dem Antragsteller mit Bescheid vom 9. Dezember 2016 die Fahrerlaubnis aller Klassen, ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die Ablieferung des Führerscheins innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung des Bescheids sowie die sofortige Vollziehung an. Der Antragsteller sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gemäß Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV, da er gelegentlich Cannabis konsumiere und den Konsum nicht von der Teilnahme am Straßenverkehr trennen könne. Am 20. Dezember 2016 hat der Antragsteller den Führerschein beim Landratsamt abgegeben.
Über die gegen den Bescheid vom 9. Dezember 2016 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht München nach Aktenlage noch nicht entschieden (M 6 K 17.76). Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 4. Mai 2017 abgelehnt. Die Erfolgsaussichten der Klage seien offen, da in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Frage bestünden, ob einem gelegentlichen Cannabiskonsumenten schon beim ersten Verstoß gegen das Trennungsgebot im Rahmen einer Ordnungswidrigkeit die Fahrerlaubnis entzogen werden könne. Die Interessenabwägung falle zu Lasten des Antragstellers aus, da er gegenüber dem kontrollierenden Polizeibeamten angegeben habe, er habe zwei Wochen vor der Verkehrskontrolle einen Joint geraucht. Dies könne nicht zutreffen, da damit die im Blut gefundenen THC-Konzentrationen nicht erklärbar seien. Diese Ausflüchte sprächen für charakterliche Mängel des Antragstellers. Auch die Anordnung von Auflagen komme nicht in Betracht, da die Kammer schlechte Erfahrungen mit solchen Auflagen gemacht habe.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Der Antragsteller macht geltend, nach der neueren Rechtsprechung des Senats könne bei einem gelegentlichen Cannabiskonsumenten nach der ersten Verkehrsordnungswidrigkeit unter Cannabiseinfluss nicht nach § 11 Abs. 7 FeV von Ungeeignetheit ausgegangen werden. Es sei ggf. ein medizinisch-psychologisches Gutachten nach § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV anzuordnen. Der Antragsteller habe mit vertraglicher Vereinbarung vom 18. Januar 2017 die BAD Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH mit der Durchführung eines einjährigen Drogenabstinenzprogramms beauftragt. Bei beiden bisher durchgeführten Probenahmen vom 16. Februar 2017 und 5. April 2017 seien keine Rückstände von Drogen gefunden worden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet und die aufschiebende Wirkung seiner Anfechtungsklage gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids vom 9. Dezember 2016 wiederherzustellen. Die Voraussetzungen für eine Entziehung der Fahrerlaubnis ohne vorherige Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung waren nicht gegeben.
1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Juni 2017 (BGBl I S. 1822), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. Mai 2017 (BGBl I S. 1282), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV liegt Kraftfahreignung bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis vor, wenn der Konsum und das Fahren getrennt werden können, kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen besteht und keine Störung der Persönlichkeit oder Kontrollverlust vorliegt. Nach § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV kann die Beibringung eines medizinisch-psycho-logischen Gutachtens angeordnet werden, wenn gelegentliche Einnahme von Cannabis vorliegt und weitere Tatsachen Zweifel an der Eignung begründen. Nach § 14 Abs. 2 Nr. 3 FeV ist die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr nach § 24a StVG begangen wurden. Steht die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, unterbleibt nach § 11 Abs. 7 FeV die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens.
2. Der Antragsteller hat in mindestens zwei selbstständigen Konsumvorgängen, die einen gewissen, auch zeitlichen Zusammenhang aufweisen, Cannabis zu sich genommen und damit im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV i.V.m. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 gelegentlich Cannabis konsumiert. Zum einen hat er sich bei der Verkehrskontrolle zuerst dahingehend eingelassen, dass er ca. zwei Wochen zuvor Marihuana konsumiert habe. Dann hat er angegeben, am 6. Juli 2016 gegen 23.00 Uhr einen Joint konsumiert zu haben. Zum anderen muss der Fahrt am 8. Juli 2016 ein weiterer Konsum vorausgegangen sein. Dies ergibt sich aus dem in der Untersuchung der Blutprobe festgestellten THC-Wert von 1,4 ng/ml. Aufgrund des Abbauverhaltens von THC und dem ebenfalls festgestellten THC-COOH-Wert von 29,9 ng/ml, der nicht auf einen häufigen oder regelmäßigen Konsum über einen längeren Zeitraum schließen lässt, erscheint äußerst unwahrscheinlich, dass der THC-Wert von 1,4 ng/ml noch auf einen Konsum zwei Wochen vor der Blutentnahme oder am Abend des 6. Juli 2016 zurückgeht. In dem toxikologischen Gutachten wird auch festgestellt, dass ein akuter Konsum von Cannabisprodukten stattgefunden habe. Da der Antragsteller auch keine plausible Erklärung für einen lediglich einmaligen Probierkonsum geliefert hat, ist in einem Akt der Beweiswürdigung vor dem Hintergrund des äußerst seltenen Falls, dass jemand nach einem einmaligen Konsum zum einen bereits kurz darauf ein Kraftfahrzeug führt und zum anderen dann auch noch trotz der geringen Dichte der polizeilichen Verkehrsüberwachung in eine Verkehrskontrolle gerät und die Polizei einen Drogentest veranlasst, die Annahme gerechtfertigt, dass der Antragsteller mehrfach Cannabis konsumiert hat.
3. Der Antragsteller hat auch unbestritten am 8. Juli 2016 unter der Wirkung von Cannabis ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr geführt und damit gegen das Trennungsgebot der Nr. 9.2.2 der Anlage 4 verstoßen. Gemäß dem Gutachten des Forensisch Toxikologischen Centrums GmbH München vom 31. Juli 2016 hat er mit einer Konzentration von 1,4 ng/ml THC im Blut am Straßenverkehr teilgenommen. Dabei war eine durch den Drogeneinfluss bedingte Beeinträchtigung seiner Fahrtüchtigkeit nicht auszuschließen (vgl. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – NJW 2015, 2439 Rn. 28 ff.). Gleichwohl steht damit jedoch noch nicht i.S.d. § 11 Abs. 7 FeV fest, dass der Antragsteller ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist. Nach der Rechtsprechung des Senats kann die Fahrerlaubnisbehörde bei einem gelegentlichen Cannabiskonsumenten nach einer erstmaligen Fahrt mit einem Kraftfahrzeug unter der Wirkung von Cannabis grundsätzlich nicht gemäß § 11 Abs. 7 FeV ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen von der Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgehen. Vielmehr sieht § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV hierfür die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung im Ermessenswege vor (vgl. U.v. 25.4.2017 – 11 BV 17.33 – juris). Das Landratsamt hätte daher zuerst von den Aufklärungsmöglichkeiten des nach § 46 Abs. 3 FeV im Entziehungsverfahren entsprechend anzuwendenden § 14 FeV Gebrauch machen und im Ermessenswege darüber entscheiden müssen, ob es nach § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV eine medizinisch-psychologische Untersuchung anordnet (vgl. BayVGH, U.v. 25.4.2017 a.a.O.). An dieser Rechtsauffassung hält der Senat trotz der noch ausstehenden Entscheidung über die vom Antragsgegner eingelegte Revision gegen das Urteil weiterhin fest.
4. Der Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Herausgabe des vom Antragsteller abgegebenen Führerscheins bzw. zur Ausstellung eines Ersatzdokuments beruht auf § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.2 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Auflage 2016, Anh. § 164 Rn. 14).
6. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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