Strafrecht

Nichtannahmebeschluss: Sitzungspolizeiliche Maßnahme gegen Strafverteidiger wegen Weigerung, in der Hauptverhandlung eine Krawatte anzulegen – weder Grundsatz- noch Durchsetzungsannahme (§ 93a Abs 2 BVerfGG) angezeigt – kein besonderes Gewicht der behaupteten Grundrechtsverletzung

Aktenzeichen  1 BvR 210/12

Datum:
13.3.2012
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2012:rk20120313.1bvr021012
Normen:
Art 12 Abs 1 GG
§ 93a Abs 2 BVerfGG
§ 59b Abs 2 Nr 6 BRAO
§ 176 GVG
§ 20 RABerufsO
Spruchkörper:
1. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend OLG München, 30. November 2011, Az: 2 Ws 1105/11, Beschlussvorgehend LG München II, 10. August 2011, Az: 8 Ns 47 Js 43611/08, Verfügung

Gründe

I.
1
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist eine in der Hauptverhandlung gegenüber einem Verteidiger ergriffene sitzungspolizeiliche
Maßnahme.

2
1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt und trat in einer Hauptverhandlung vor der Strafkammer als Verteidiger auf. Er trug
Robe und weißes Hemd, jedoch keine Krawatte. Nach Aufforderung des Vorsitzenden Richters, eine Krawatte anzulegen, und darauf
erfolgter zweifacher Weigerung des Beschwerdeführers wies ihn der Vorsitzende als Verteidiger zurück. Die gegen die Zurückweisung
zum Oberlandesgericht erhobene Beschwerde blieb erfolglos. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht im Beschluss aus, der
Beschwerdeführer sei zu Recht nach § 176 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) zurückgewiesen worden, weil er seine Pflicht
verletzt habe, vor Gericht Amtstracht zu tragen. Gewohnheitsrechtlich gehöre in Bayern zur Amtstracht eine “weiße Halsbinde”.
Daran habe die Regelung der Berufstracht in § 20 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) nichts ändern können. Der Beschwerdeführer
habe eine von dieser berufsrechtlichen Bestimmung unabhängige verfahrensrechtliche Pflicht zum Tragen des Langbinders verletzt,
die nach breitem Konsens und Übung der Organe der Rechtspflege noch gelte. Der Verstoß des Beschwerdeführers sei schwerwiegend
und rechtfertige die Zurückweisung als Verteidiger.

3
2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG.

II.
4
Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor.

5
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit der Beschwerdeführer sich gegen die prozessual überholte Entscheidung
des Landgerichts wendet (vgl. BVerfGK 7, 312 ). Mangels hinreichender Begründung ist die Verfassungsbeschwerde ferner
unzulässig, soweit mit ihr ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG gerügt wird.

6
2. Hinsichtlich der Rüge einer Verletzung der Berufsausübungsfreiheit des Beschwerdeführers (Art. 12 Abs. 1 GG) ist die Verfassungsbeschwerde
dagegen zulässig und auch nicht offensichtlich unbegründet. Sie genügt allerdings nicht den Annahmevoraussetzungen des § 93a
Abs. 2 BVerfGG.

7
a) Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG;
vgl. dazu BVerfGE 90, 22 ). Die mit ihr aufgeworfenen Fragen zu § 176 GVG (vgl. BVerfGE 28, 21 ; 50, 234 <241
f.>; 63, 266 ), zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Art. 12 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 30, 292 ; stRspr),
zu Art. 72 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 1, 283 ; 7, 342 ; 98, 265 ; 102, 99 ; 109, 190 ), zu § 59b
Abs. 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung (; vgl. BVerfGE 101, 312 ) sowie zu Satzungen öffentlichrechtlicher Körperschaften
(vgl. BVerfGE 10, 20 ) sind durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt. Es ist nicht ersichtlich, dass
der vorliegende Fall weitere Klärung erfordert, zumal aufgrund der Regelung in § 20 BORA regelmäßig Einvernehmen über die
“Berufstracht” eines Rechtsanwalts hergestellt und im Übrigen ein Auftreten in unangemessener Kleidung durch sitzungspolizeiliche
Maßnahmen verhindert werden kann.

8
b) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist ferner nicht zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art.
12 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Eine Annahme zur Entscheidung ist dann angezeigt, wenn die geltend
gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in
existentieller Weise betrifft. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung
von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten. Eine geltend
gemachte Verletzung hat ferner dann besonderes Gewicht, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten
Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche
Grundsätze krass verletzt. Eine existentielle Betroffenheit des Beschwerdeführers kann sich vor allem aus dem Gegenstand der
angegriffenen Entscheidung oder seiner aus ihr folgenden Belastung ergeben (vgl. BVerfGE 90, 22 ).

9
Hiernach kommt der behaupteten Grundrechtsverletzung kein besonderes Gewicht zu. Dem Oberlandesgericht war erkennbar daran
gelegen, eine am Maßstab der Grundrechte und der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE
28, 21) sachlich begründete Entscheidung mit geringer Eingriffsintensität zu treffen. Die vom Oberlandesgericht bestätigte
Zurückweisung als Verteidiger stellte das im Hinblick auf das Gewicht des Eingriffs am wenigsten schwerwiegende Mittel dar
(vgl. BVerfG 28, 21 ). Der Beschwerdeführer kann ähnliche Maßnahmen künftig abwenden, indem er eine Krawatte anlegt. Dies
stellt für ihn – auch mit Blick auf die Interessen seines Mandanten an einem zügigen Prozessverlauf – keine unzumutbare Belastung
dar (vgl. BVerfGE 34, 138 ). Die angegriffene sitzungspolizeiliche Maßnahme mag im Hinblick auf die möglicherweise erschöpfende
Regelung des § 59b Abs. 2 Nr. 6 BRAO rechtlich bedenklich und als Reaktion auf das Verhalten des Beschwerdeführers überzogen
erscheinen, betrifft ihn aber weder nach ihrem Gegenstand noch wegen der aus ihr folgenden Belastung in existentieller Weise.
Die Berufsausübungsfreiheit des Beschwerdeführers wurde außerhalb des Hauptverhandlungstermins, in dem die Zurückweisung erfolgte,
nicht beschränkt. Ausweislich des der Verfassungsbeschwerde beigefügten Sitzungsprotokolls ist seine Ladung zu einem neuen
Hauptverhandlungstermin angeordnet worden. Ein über das Erscheinen zu dem neu anberaumten Termin hinausgehender Nachteil ist
nicht ersichtlich.

10
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

11
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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