Strafrecht

Nichtvorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, Charakterliche Mängel, Körperverletzung im Straßenverkehr, Übersendung nicht verwertbarer Teile der FE-Akte an den Gutachter

Aktenzeichen  M 26b K 19.2791

Datum:
7.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 17993
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 6

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 8. Mai 2019 wird aufgehoben. 
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage hat Erfolg; sie ist zulässig und begründet.
Die Entziehung der Fahrerlaubnis sowie die weiteren Regelungen im angefochtenen Bescheid vom 10. Juli 2018 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Beklagte hat dem Kläger die Fahrerlaubnis zu Unrecht nach § 3 Abs. 1 StVG, §§ 46 Abs. 1 und Abs. 3, 11 Abs. 8 FeV entzogen. Er musste nämlich das grundsätzlich zu Recht von ihm geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht vorlegen, weil die Gutachtensanordnung gegen § 11 Abs. 6 Satz 4 FeV verstoßen hat.
Der streitgegenständliche Bescheid geht zu Unrecht unter Zugrundelegung der Wertung des § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 Fahrerlaubnisverordnung – FeV – davon aus, dass eine Fahreignung des Klägers nicht gegeben ist. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder (lediglich) bedingt geeignet ist, finden nach § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 13 FeV entsprechende Anwendung.
Die Beklagte durfte hier aufgrund der Nichtvorlage des nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV geforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens innerhalb der gesetzten Frist gemäß § 11 Abs. 8 FeV nicht auf die Nichteignung des Klägers schließen. Denn die Gutachtensanordnung kam unter Verstoß gegen § 11 Abs. 6 Satz 4 FeV, wonach die Fahrerlaubnisbehörde der untersuchenden Stelle die vollständigen Unterlagen übersendet, soweit sie unter Beachtung der gesetzlichen Verwertungsverbote verwendet werden dürfen, zustande.
Bei nichtfristgerechter Beibringung des geforderten Gutachtens darf die Fahrerlaubnisbehörde gemäß §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Ungeeignetheit des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV schließen. Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19 m.w.N.). Dies ist vorliegend nach der Überzeugung des Gerichts nicht der Fall.
1. Es lagen zwar Tatsachen vor, die geeignet waren, im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt Bedenken gegen die Fahreignung des Klägers zu begründen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 46 Abs. 3 FeV, § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV für die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-​psychologischen Gutachtens lagen nach der Bewertung des Gerichts vor. Danach kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle anordnen bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen oder die erhebliche Straftat unter Nutzung eines Fahrzeugs begangen wurde.
Zwar setzt diese Vorschrift lediglich das Vorliegen einer nichtverkehrsrechtlichen Straftat voraus, aber dabei muss es sich um eine erhebliche Straftat handeln. Der Begriff „erheblich“ ist nach der Begründung der Änderungsverordnung zur Fahrerlaubnis-Verordnung vom 18. Juli 2008 (BGBl I S. 1338, BR-Drs. 302/08 S. 61) nicht ohne weiteres mit „schwerwiegend“ gleichzusetzen, sondern bezieht sich auf die Kraftfahreignung (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 11 FeV Rn. 30 m. w. N.). Der Bezug zur Kraftfahreignung setzt nicht voraus, dass für die Bejahung des Begriffs „erheblich“ ein Pkw als Mittel zur Straftat benutzt worden ist (vgl. nur: BayVGH, Beschluss vom 25. März 2014 – 11 C 13.1837 -, juris Rn. 7; OVG NW, Beschluss vom 10. September 2014 – 16 B 912/14 -, juris Rn. 10). Vielmehr muss anhand konkreter Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben, festgestellt werden, ob die Anlasstat tatsächlich Rückschlüsse auf die Kraftfahreignung zulässt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 5. Juli 2012 – 11 C 12.874 -, juris Rn. 27; Beschluss vom 6. November 2017 – 11 CS 17.1726 -, juris Rn. 27).
Als aggressive Straftaten in diesem Sinne, die eine Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer oder eine Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten offenbaren und dabei Verhaltensmuster deutlich machen können, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet wird, gelten nach Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung insbesondere Körperverletzung, Sachbeschädigung, Tierquälerei, Brandstiftung, Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruch und räuberische Erpressung.
Nach dem Beschluss des Bayerischer Verwaltungsgerichtshof vom 9. März 2021 (Az. 11 CS 20.2793 – juris Rn. 13) stellt nicht jede Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht und Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bietet, zugleich eine erhebliche Straftat in diesem Sinne dar. Einen Anhalt für aggressive Neigungen oder eine generell geringe Hemmschwelle gegenüber der körperlichen Integrität anderer bieten die Massivität der Gewaltanwendung oder die Gefahrgeneigtheit oder Verletzungseignung der Handlung.
Die rechtskräftig geahndete Körperverletzung des Klägers zulasten eines anderen Verkehrsteilnehmers ist aus Sicht des Gerichts auch nach diesen Maßstäben unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände eine erhebliche Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht. Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger zuvor von dem Fahrradfahrer verbal beleidigt worden ist. Denn mit oder ohne diese „Vorgeschichte“ zeigt das Verhalten des Klägers deutlich ein erhebliches Aggressionspotenzial auf. Dabei ist es nicht notwendig, aus einem Verhalten des Klägers außerhalb des Straßenverkehrs auf ein Aggressionspotenzial im Straßenverkehr zu schließen, sondern das Aggressionspotenzial hat sich gerade im Straßenverkehr verwirklicht. Der Kläger hat eine Konfliktsituation mit einem anderen Verkehrsteilnehmer – diese einmal zu seinen Gunsten unterstellt-, nicht anders zu bewältigen gewusst, als den Verkehrsteilnehmer aus dem heruntergelassenen Fahrerfenster eine Ohrfeige zu versetzen. Zusätzlich fällt ins Gewicht, dass nach Aktenlage der Kläger bei dieser Tathandlung mit seinem Pkw noch nicht einmal gestanden hat, sondern er dem Fahrradfahrer die Ohrfeige versetzt hat, während er noch (langsam) fuhr. Die Gefahrgeneigtheit einer solchen Handlungsweise für die Verkehrssicherheit liegt auf der Hand. Aus ihr kann geschlossen werden, dass der Kläger möglicherweise nicht fahrgeeignet ist.
2. Die Beklagte hat aber im konkreten Fall gegen § 11 Abs. 6 Satz 4 FeV, wonach die Fahrerlaubnisbehörde der untersuchenden Stelle die vollständigen Unterlagen übersendet und zwar nur, soweit sie unter Beachtung der gesetzlichen Verwertungsverbote verwendet werden dürfen, verstoßen. Denn sie hat nach Aktenlage und wie vom Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung nicht bestritten mit Schreiben vom 18. April 2018 der Begutachtungsstelle für Fahreignung die gesamte Fahrerlaubnisakte übersandt. Bestandteile dieser Akte waren auch Unterlagen über Vorgänge, die nicht mehr verwertbare Daten des Klägers zum Gegenstand hatten. Dies ist ohne weiteres rechtswidrig, geht zulasten der Behörde und hat zur Konsequenz, dass die Gutachtensanordnung unheilbar rechtswidrig ist (vgl. OVG Greifswald, B.v. 22.5.2013 – 1 M 123/12 – juris Rn. 25). So wurden auch Unterlagen zu Vorgängen vom … Juli 2004, … Februar 2011, … Februar 2011 und … Juli 2014 übersandt, die allesamt strafrechtlich und straßenverkehrsrechtlich relevante Sachverhalte betreffen, in denen der Kläger beschuldigt wurde. Dabei wurde nach Aktenlage zumindest das Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung vom … Februar 2011 und das Ermittlungsverfahren wegen Nötigung, begangen am … Februar 2011, jeweils gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Auch die anderen Sachverhalte haben offensichtlich zu keinen strafrechtlichen Sanktionen geführt. Unabhängig davon, ob sie unter Beachtung der gesetzlichen Verwertungsverbote objektiv noch verwendet werden durften, was wohl nicht der Fall ist, weil sie nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden bzw. zu keinen Eintragungen im Fahreignungsregister geführt haben, waren sie jedenfalls aus Sicht der Beklagten offenbar nicht geeignet, die Gutachtensanordnung vom … Februar 2018 zu tragen. Weil sie der Begutachtungsstelle dennoch übersandt worden sind, begründete dies die Gefahr, dass die Begutachtungsstelle diese berücksichtigt und damit von Entscheidungsgrundlagen ausgeht, von denen sie nach dem Gesetz nicht ausgehen darf. Dabei ist unerheblich, ob die Sachverhalte, worauf die Beklagte abstellt, in der Begutachtungsanordnung selbst Erwähnung finden.
Damit ergibt sich, dass die Gutachtensanordnung (formell) rechtwidrig war und vom Kläger allein aus diesem Grunde nicht befolgt werden musste. Die Fahrerlaubnis wurde nach alldem rechtswidrig entzogen, die Entziehung und die damit zusammenhängenden Entscheidungen waren rechtwidrig und der Bescheid damit aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO


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